CORINNE GEERING

MITHOLZ (THEO STICH)

Hinter der Felswand beim Dorf Mitholz im bernischen Kandertal harrt eine lange unbekannte Gefahr für die lokale Bevölkerung. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ereignete sich in der Nacht auf den 20. Dezember 1947 in einem dort untergebrachten, geheimen Munitionslager der Schweizerischen Armee eine grosse Explosion, die neun Menschen tötete und mehrere Häuser zerstörte. 2018 sprach der Dokumentarfilmer Theo Stich, der sich auf historische Themen spezialisiert hat, mit den Mitholzer_innen über ihre Erinnerungen an die Explosion, als das Thema seines geplanten Films unverhofft an neuer Brisanz gewann. Der Filmemacher folgte der Dorfbevölkerung zu einer kurzfristig anberaumten Informationsveranstaltung des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), bei der ihnen mitgeteilt wurde, dass die Gefahr des Munitionslagers noch lange nicht gebannt war und sie das Dorf in naher Zukunft werden verlassen müssen.
 
Mitholz erzählt die Geschichte eines Dorfes in Ungewissheit über seine Zukunft. Dabei wartet die Ko-Produktion zwischen Theo Stichs Lumenfilm und dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) mit keinen ästhetischen Experimenten auf und besticht anstatt durch seine mit Bedacht ausgewählten Gesprächspartner_innen. Viele der porträtierten Dorfbewohner_innen leben seit Generationen in Mitholz und ihre Familien waren von der Explosion von 1947 direkt betroffen, so dass im Dokumentarfilm Erinnerungen und Gedanken zur bevorstehenden Evakuation fliessend ineinander übergehen. Bereits während des Krieges wurde ihnen erzählt, dass in den Stollen nicht Waffen, sondern Makkaroni zur Ernährung der Bevölkerung eingelagert würden. Nach der Explosion wiederum wurde ihnen über Jahrzehnte versichert, dass keine Gefahr mehr für sie bestehe.
 
Mit dem Thema der verschütteten Munitionsresten aus dem Krieg greift der Film das Thema der behördlichen Geheimhaltung wieder auf, das bereits im 2013 ausgestrahlten Fernsehfilm Stärke 6 am Beispiel der versenkten Munition im Vierwaldstättersee die Dramatik für einen Fernsehthriller bot. Im Gegensatz zur deutsch-schweizerischen Koproduktion stehen im Dokumentarfilm jedoch nicht das explosive Material und die Behörden, sondern die Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung im Mittelpunkt. Einfühlsam gibt Stich den Dorfbewohner_innen den Raum für ihre eigenen Perspektiven, wenn sie die bevorstehende Evakuation und eine allfällige Rückkehr nach zwanzig Jahren diskutieren. Viele befürchten, ein lebloses Geisterdorf hinter sich zu lassen, während der Gemeindepräsident aufgrund der Baulandreserven bereits zuversichtlich ins Jahr 2040 blickt. Als Stück Schweizer Zeitgeschichte verbindet Mitholz so in gelungener Weise Archivaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit mit Interviews, Versammlungen und Besprechungen aus der Gegenwart.
Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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