CORINNE GEERING

UNRUEH (CYRIL SCHÄUBLIN)

Die Geschichte der anarchistischen Uhrenmacher und Uhrenmacherinnen im Jura im späten 19. Jahrhundert beinhaltet alle Elemente einer grossen Erzählung. Geheimnisvolle Treffen im Untergrund, internationale Unterstützung für Eisenbahnstreiks und klandestine Verbindungen zu Attentätern im Ausland ereignen sich in Unrueh vor dem Hintergrund fortschreitender Industrialisierung, die durch das präzise Schweizer Uhrwerk verkörpert wird. Der Filmtitel ist eine Anspielung auf die revolutionären Ambitionen von Uhrmacherinnen wie der Protagonistin Josephine, die mit höchster Genauigkeit die Unruh, ein Spiral-Schwingsystem, in die Taschenuhr einsetzten.
 
Der Film Unrueh ist teils historisches Drama, teils gesellschaftliche Satire über die Schweizer Arbeitskultur. Die Handlung setzt ein mit dem Besuch des russischen Geographen Pëtr Kropotkin, einem der bekanntesten Theoretiker des Anarchismus, der seinen eigenen Aussagen nach im Jura zum Anarchisten wurde. Über lange Strecken folgt der Film Kropotkins Spaziergang durch die Gemeinde und seinen Begegnungen mit der dort vorherrschenden akribischen zeitlichen Messung von Produktionsschritten und Distanzen. Die zentrale Idee des Anarchismus einer fehlenden Regierung zeigt sich dadurch mit einer gewissen Komik in der Gemeinde selbst, wo vier verschiedene Zeiten jeweils um wenige Minuten versetzt ihre Gültigkeit haben. Die Zeiger der Uhren müssen deshalb dauernd richtig eingestellt werden und der Gast aus Russland kann mit gewisser Irritation die Sendezeit seines Telegramms gegenüber den geflissentlichen Angestellten gleich selbst wählen – wie es sich für die von ihm genannte «internationale Drehscheibe des Anarchismus» gehört.
 
Der Regisseur Cyril Schäublin inszeniert die anarchistische Uhrenindustrie mit subtilem Humor als penibles Milieu, das an die Banken seines ersten Films Dene wos guet geit (2017) erinnert. Auch in Unrueh wird Anarchismus zu Profit gemacht, indem Fotografien berühmter Anarchisten verkauft werden oder der Fabrikdirektor die internationale Berichterstattung der anarchistischen Presse lobt, dank derer er die Wirtschaftskrise voraussehen und glimpflich überstehen konnte. Filmisch erzählt wird thematisch passend mit Langsamkeit und Präzision. Dass bei vielen totalen Einstellungen die Sicht durch Bäume oder Bauelemente verstellt ist, versinnbildlicht dabei, wie sich das anarchistische Milieu dem Zugang von aussen verwehrt. Alles in allem ist Unrueh ein sehenswerter Film mit feinem gesellschaftlichem Kommentar, der den Anarchismus in der Schweiz erstaunlich bieder präsentiert.
Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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