MARCO NEUHAUS

CITOYEN NOBEL (STÉPHANE GOËL)

Im Jahr 2017 erhält der Waadtländer Jacques Dubochet den Nobepreis für Chemie, «für die Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie für die hochauflösende Strukturerkennung von Biomolekülen in Lösung», so die Schwedische Akademie. Dubochet sagt oft verschmitzt, es gehe vor allem um kaltes Wasser, wenn er erklären soll, was sein Thema sei. Zunächst muss der energische, aber bescheidene alte Herr sich daran gewöhnen, dass junge Leute jetzt Selfies mit ihm machen wollen, aber die prestigeträchtige Würdigung hat auch tiefere Folgen. Dubochet, Jahrgang 1942, ist nicht auf den Mund gefallen und hat seit der 68er-Bewegung eine Geschichte von linkem und vor allem ökologischem Engagement hinter sich, aber der Preis macht auf einmal eine neue Kluft auf zwischen ihm als Forscher und Bürger einerseits und ihm als Nobelpreisträger andererseits. Er war immer einer, der sich vor allem durch Kenntnisse auszeichnen wollte, jetzt aber ist er eine öffentliche Figur: «Auf einen Schlag ist man eine Art Held. Der Held spricht, er kann jeden Blödsinn sagen. Man wird ihm trotzdem zuhören. Da muss man abwägen, welchen Blödsinn man preisgibt», sagt er. «Man muss entscheiden, wofür man kämpft.» Er habe bei einer Rede von Greta Thunberg geweint, sagt er später im Film. Als die Klimastreikbewegung in Gang kommt, sieht Dubochet die Chance, seine Stimme für ein zentrales Anliegen der Zeit einzusetzen.
 
Das schwungvolle Werk vom erprobten Stéphane Goël (Insulaire, De la cuisine au parlament) setzt sich von den oft eher langsamen, kargen Dokumentarfilmen des Jahres ab; mitunter bildet der Film die Beschleunigung von Dubochets Leben als charmantes Durcheinander von Facetten und Kontexten ab: Hier hält er einen Vortrag, hier eine Wanderung, hier das Büro, in dem er in den Achtzigern Anti-Atomkraft-Kleber befestigt hatte, hier ein altes Home-Video, hier sammelt er Unterschriften für die Gletscherinitiative. An Schwerpunkten fehlt es aber nicht: Citoyen Nobel ist die Geschichte eines plötzlich umgekrempelten Lebens und ein Film über Aktivismus, über den Versuch, den eigenen Überzeugungen zu entsprechen, letztlich über Verantwortung. Das neue Leben ist reich an Hürden für ihn und seine Frau, die Künstlerin Christine Dubochet, aber Jacques Dubochet ist ein Mensch mit einem Ethos, humorvoll, aber nicht ironisch distanziert. Er kann es nicht ertragen, wenn Leute tun, als gehe sie das Leben späterer Generationen nichts an. Das einzige Mal, dass man den sonst so warmen und reflektierten Mann zornig sieht, ist, als nach einem Vortrag einer witzelt, man sei doch nicht hier, um die Welt zu retten. Dubochet ist da anderer Ansicht.
Marco Neuhaus
*1991, hat in Zürich Germanistik und Philosophie studiert und hat für die Zürcher Studierendenzeitung, buchjahr.uzh.ch und das Filmbulletin geschrieben.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]