MARCO NEUHAUS

MIRAGGIO (NINA STEFANKA)

Miraggio fängt mit einer langen, melancholisch wirkenden Einstellung an: Ein langsam wogendes Meer, dunkel warmes Abendrot hinter Wolken, langgezogene Töne schwellen an, dann ein harter Schnitt und die Musik bricht ab. Dieses Meer war und ist Verheissung und Bedrohung; es trennt nun die fünf jungen Männer, die im Debütfilm von Dokumentarfilmerin Nina Stefanka porträtiert werden, von ihren westafrikanischen Herkunftsorten. Jetzt leben sie in Italien. Es sind keine Neuankömmlinge, die meisten von ihnen sind schon Jahre hier, haben lange Reisen hinter sich. Sie sind vor Krieg und Elend aus Westafrika in Richtung Europa geflohen, sind aufgerieben von schier endlosen Asylverfahren und zu einem Leben in Ziellosigkeit und Ungewissheit gezwungen.
 
Die Armut ist drückend, aber wenn die Männer – Issa, Bubu, Drissa, Sekou, Yassine und Alassane – von ihrer Lage erzählen, dann stehen oft die seelischen Wunden im Vordergrund: Einsamkeit, Heimweh, enttäuschte Erwartungen und die Angst, die Zuversicht der Verwandten in der alten Heimat durch die Wahrheit zu zerstören. Sie telefonieren mit den fernen Familien oder trauern um Angehörige, die die Reise übers Meer nicht überlebt haben. Sie leben in unpersönlichen Asylzentren, auf der Strasse oder in selbstorganisierten Flüchtlingslagern, die ständig von der Räumung bedroht sind. Arbeit ist rar; wo sie verfügbar ist, ist der Lohn kläglich, gibt keinen Lebensunterhalt her. Am bedrückendsten ist das scheinbar ewige Warten auf Dokumente, das Ringen mit den Behörden. Jeder Funke Optimismus ist hier hart erkämpft.
 
Miraggio ist ein schmerzhafter, trauriger, stellenweise schwer erträglicher Film, gerade weil er auf Pathos und falsche Drastik verzichtet. Es geht darin nicht um das Unheil, das schlagartig, abrupt über die Menschen herfällt, sondern darum, wie das Unzumutbare zur Normalität, zur Alltäglichkeit geronnen ist. Regisseurin Stefanka und Kameraleute Marco Barbieri und Greta De Lazzaris finden dafür zurückgenommene Bilder von Schutzlosigkeit und stiller Verlorenheit: einsame Gänge durch die Nacht, schweigsame Mahlzeiten, die Hilflosigkeit vor den Behörden. Durch die Alltagsnähe und die Konzentration auf die Erzählungen von Angst und inneren Konflikten gelingt es Stefanka, auf unvergessliche Art zu konkretisieren, was zu oft in Platitüden verhandelt wird. Man sieht die jungen Menschen in ihrem Alltag, während sie selbst aus dem Off sprechen und erzählend nach ihrer Würde tasten. So individuell die Geschichten sind, stehen sie aber auch für unzählige weitere, die mit gleichem Recht erzählt werden könnten: «Tausende Geschichten wie meine sind erzählt worden. Manche schaffen es, manche nicht.»
Marco Neuhaus
*1991, hat in Zürich Germanistik und Philosophie studiert und hat für die Zürcher Studierendenzeitung, buchjahr.uzh.ch und das Filmbulletin geschrieben.
(Stand: 2021)
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