THOMAS HUNZIKER

DARWIN'S NOTEBOOK (GEORGES SCHWIZGEBEL)

Konstant ist einzig der Wandel. Eine stetige Veränderung der Geninformationen der Lebewesen auf der Erde sorgt für die von Charles Darwin beschriebene Evolution. Dieses Prinzip der besten Anpassung an die Lebensbedingungen lässt sich auch mit dem Zeichenstil des Animationsfilmers Georges Schwizgebel vergleichen, in dessen Werken die Zeichnungen ständig in einander verschmelzen, gegeneinander rotieren und neue Kreationen entstehen lassen. Schwizgebel ist der Meister solcher fliessenden Übergänge. Seine Werke können sozusagen als künstlerische Umsetzung der Evolutionstheorie bezeichnet werden. So war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sich Schwizgebel einmal mit Darwin befassen würde.
 
In Schwizgebels Darwin's Notebook ist der britische Naturforscher, Geologe und Biologe allerdings nur eine Randfigur. Als Zeitzeuge begegnet Darwin darin den Opfern des Kolonialismus. 1831 waren an Bord der HMS Beagle auf ihrer zweiten Reise nämlich nicht nur der junge Darwin, sondern auch drei Ureinwohner aus dem Volk der Yagan aus Feuerland. Diese waren auf der ersten Reise der HSM Beagle entführt worden. In England sollten sie ausgebildet und christianisiert werden, um die vermeintlichen Vorzüge der europäischen Zivilisation ihrem Volk zurückzubringen und gleichzeitig als Übersetzer und Vermittler für die Engländer zu dienen.
 
Bisher standen die Filme von Schwizgebel meist im Dialog mit anderen Kunstwerken: So hat er ein Kunstmärchen von Adelbert von Chamisso (L’homme sans ombre, CH 2004), ein Musikstück von Rachmaninow (Romance, CH 2011), ein Gedicht von Goethe (Erlkönig, CH 2015) oder ein Gemälde von Paolo Uccello (La bataille de San Romano, CH 2017) als Grundlage verwendet. Inhaltlich entfernt sich Schwizgebel mit Darwin's Notebook somit deutlich von diesen Vorgängern. Erstmals setzt er sich in einem seiner Werke mit einem historischen Ereignis auseinander. Formal reiht sich Darwin's Notebook dennoch nahtlos in sein bisheriges Schaffen ein. In seinem unverkennbaren Stil setzt Schwizgebel bei den Zeichnungen auf starke Kontraste zwischen der bunten Welt der Yagan und den mehrheitlich in grauen und braunen Tönen gehaltenen Szenen in der alten Welt. In kurzen Ausschnitten schildert er die Entführung der drei Menschen aus ihrem Paradies. Passend dazu illustriert er in einer berauschenden Passage die Bibelgeschichte von der Schöpfung über die Vertreibung von Adam und Eva bis hin zur Fahrt von Noahs Arche.
 
Nachdem Schwizgebel bereits für La jeune fille et les nuages (CH 2000) und für Erlkönig (CH 2015) den Schweizer Filmpreis erhalten hat, ist er nun auch für Darwin's Notebook mit dieser Auszeichnung geehrt worden.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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