MISCHA HABERTHÜR

SICILIAN GHOST STORY (FABIO GRASSADONIA, ANTONIO PIAZZA)

SELECTION CINEMA

Sizilien scheint im Kino immer etwas unerklärbar Magisches anzuhaften. Sogar in relativ nüchtern gehaltenen Filmen wie Il Gattopardo oder Salvatore Guiliano besitzen die Aufnahmen des Landes und seiner Bewohner eine mystische Ausstrahlungskraft. Wenn irgendein Ort dieser Erde Geister beherbergt, möchte man glauben, dann diese einzigartige Insel, die nur einen Katzensprung vom italienischen Festland entfernt liegt und trotzdem ihr eigenes Universum begründet. In Sicilian Ghost Story bedienen sich die beiden italienischen Regisseure Fabio Grassadonia und Antonio Piazza dieser Assoziation, indem sie die implizite Fabelwelt zum expliziten Handlungsschauplatz machen.

Der Film basiert auf dem tragischen Fall des zwölfjährigen Giuseppe Di Matteo, der in den 1990er-Jahren aufgrund der Zeugenaussagen seines Vaters von der sizilianischen Mafia entführt, während Monaten gefangen gehalten und schlussendlich ermordet wurde. Der Fokus liegt auf Guiseppes Freundin Luna, die sich nach dessen Verschwinden auf Spurensuche begibt, wobei im Zuge ihrer Ermittlung die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung zunehmend verschwinden.

Eine Märchenerzählung in Grimm’scher Manier wollten die Regisseure gemäss eigenen Aussagen schaffen und dieses Kunststück ist ihnen zweifellos geglückt. Mit der gleichen Zurückhaltung und Leichtigkeit wie ein Film von Weerasethakul vermischt Sicilian Ghost Story das Fantastische mit dem Mondänen. Das Übernatürliche erscheint dabei nicht als gewalttätiger Eindringling, wie dies oft im Horrorgenre geschieht, sondern als subtiler Bestandteil der Umwelt; dessen Präsenz manifestiert sich ausschliesslich über die Tonebene und die eleganten Kameraeinstellungen. Es ist dieses gekonnte Spiel mit unserer rationalen Auffassung der Welt, das dem Film seinen besonderen Reiz verleiht.

Die Schwächen offenbaren sich in den realistischeren Momenten, die sich nicht immer nahtlos in das Gesamtbild einfügen. So spricht der Film auf die relevante Tatsache an, dass die Mafia in der Gesellschaft gut verankert war und die Täter dementsprechend auf den Rückhalt diverser Bürger zählen konnten, doch dieser Gedanke wird nicht weiterentwickelt. Auch einige der Coming-of-Age Elemente, insbesondere Szenen des Schul- und Familienalltags, treten nur peripher in Erscheinung und hätten einer stärkeren thematischen Integration bedurft.

Doch solch geringfügige Kritikpunkte verschwinden angesichts des eindrücklichen Endes, das den schwierigen Spagat schafft, den historischen Begebenheiten gerecht zu werden und dennoch Hoffnung auf emotionale Erlösung zu propagieren. Bleibt uns die Katharsis im richtigen Leben oft verwehrt, so finden wir sie zumindest im Märchen. Und im Kino.

Mischa Haberthür
Hat Betriebswirtschaft an der Universität Zürich studiert und arbeitet beim Schweizer Fernsehen. Als Mitglied des Studierendenkinos der UZH und ETH beteiligt er sich an der Programmation von Filmreihen und dem Verfassen von Filmtexten.
(Stand: 2021)
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