THOMAS HUNZIKER

LA TRAQUE (NATACHA BAUD-GRASSET)

SELECTION CINEMA

Langsam schreitet der Hirsch aus dem Wald auf die Wiese. Achtsam erkundet er die Umgebung und beurteilt die Lage. Nach einer Weile ruft er die Mitglieder seiner Herde zu sich. Doch nur kurz können die Hirschkühe und ihre Kälber äsen. Auf der Anhöhe erscheint zuerst ein einzelner Wolf, dann das ganze Rudel. Die Hirschweibchen und ihre Jungen flüchten in eine Richtung, der Hirsch lockt die Wölfe in eine andere.

Die ersten Szenen im kurzen Animationsfilm La Traque von Natacha Baud-Grasset sehen beinahe noch so aus, als ob sie aus dem Zeichentrickfilm Bambi (US 1942) von Walt Disney stammten, in dem ein Kampf zwischen Bambi und einer Meute von Jagdhunden einen Höhepunkt darstellt. Der Unterschied in der Gestaltung der Tiere ist vor allem in den Augen erkennbar, die bei Disney vermenschlicht und vergrössert, bei Baud-Grasset hingegen schon fast leblos starr sind. In diesen Augen deutet sich bereits an, dass in der Folge ein unerbittlicher Kampf auf Leben und Tod stattfinden wird.

Kaum beginnt in La Traque (frz. für Treibjagd) die Verfolgung zwischen Hirsch und Wölfen, weicht Baud-Grasset von den anfänglich naturalistischen Illustrationen ab. Durch die rasante Flucht verwischen zunächst die Konturen von Tieren und Bäumen. Die Landschaft wird in ein rotes Licht getaucht. Dann verwandeln sich die Tiere in abstrakte Figuren, als ob ihnen das Adrenalin, das durch ihren Körper strömt, übernatürliche Kräfte zukommen lässt. Baud-Grasset inszeniert den gnadenlosen Kampf zwischen Jägern und Gejagtem als mythisches Epos. In atemberaubendem Tempo und beinahe erdrückenden Visualisierungen steigert sich die Erzählung. Das Knurren und die Bisse der Wölfe sind ebenso erschütternd wie die Tritte des Hirsches.

Zwischendurch scheint der Hirsch die Jagd zu überstehen, die Wölfe treiben angeschlagen, erschöpft in einem Fluss. Doch noch einmal wird die Jagd auf eine nächste visuelle Stufe gehoben. Hirsch und Wölfe verwandeln sich in Ikonen und führen den Kampf bis zum bitteren Ende weiter, bis der Kreis des Lebens sich schliesst. Zähne schneiden ins Fleisch, Blut spritzt, Gedärme dringen heraus. Virtuos hat Natacha Baud-Grasset diesen Todeskampf umgesetzt und dabei die Möglichkeiten der 2-D-Animation voll ausgeschöpft. Die Regisseurin erzeugt durch die kräftigen, eindringlichen Bilder eine intensive, teilweise auch verstörende Wirkung. Stimmungsvoll untermalt wird die Treibjagd durch die pulsierende elektronische Musik von Dario Galizia und die gruselige Geräuschkulisse von Jérôme Vittoz.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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