THOMAS BEUTELSCHMIDT

«PROVOKATIVES MACHWERK» ODER «MEISTERHAFTES KUNSTWERK»? — DER FERNSEHFILM URSULA

CH-FENSTER

«Skandal – Filme, die Geschichte schrieben» lautete jüngst eine Filmreihe des deutschen Privatsenders Tele 5, passenderweise von Oskar Roehler präsentiert – einem selbst nicht unumstrittenen Regisseur. Zu sehen waren unter anderem Das grosse Fressen (Marco Ferreri, FR/IT 1973), Der letzte Tango in Paris (Bernardo Bertolucci, FR/IT 1973), Wenn der Postmann zweimal klingelt (Bob Rafelson, US 1981) oder Die letzte Versuchung Christi (Martin Scorsese, US 1988). Der Titel Ursula (Egon Günther, DDR/CH 1978) schaffte es nicht in diese Retrospektive, obwohl er in mehrfacher Hinsicht einen Skandal ausgelöst hatte und lange Zeit im Giftschrank verschwunden war. Wie kaum ein anderer Fernsehfilm geriet die gewagte Adaption der recht biederen Vorlage von Gottfried Keller in die Kritik. Denn der extravagante DDR-Regisseur Egon Günther hatte formal mit üblichen Konventionen gebrochen, sich durch sexuelle Freizügigkeiten dem Vorwurf der Pornografie ausgesetzt und wurde wegen seiner subversiven Ausdeutung der Reformationszeit angegriffen.

Die eigenwillig erzählte Liebesgeschichte nach der gleichnamigen Zürcher Novelle wurde am 5. November 1978 im deutschsprachigen Fernsehen der Schweiz und 14 Tage später in Ostdeutschland gezeigt. Es handelt sich um die erste Koproduktion der DDR mit einem TV-Sender des ‹Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes› (NSW) und um die einzige Zusammenarbeit mit dem Fernsehen der neutralen Schweiz; sie war als «höchst ausserordentliche kulturpolitische Konstellation»1 umstritten.

Die Literaturverfilmung diente als willkommene Projektionsfläche für ideologische Auseinandersetzungen in beiden Ländern. Die Arbeit geriet in politischen Instanzen und beim traditionsbewussten Publikum wie kaum ein anderer Fernsehfilm in Verruf.

Die schwierige Ausgangslage

In der Schweizer Öffentlichkeit existierte von Anfang an eine Skepsis in Bezug auf diese länderübergreifende Zusammenarbeit West-Ost. Allgemein lässt sich dies auf das latente Ressentiment gegenüber der DDR als sozialistischem Parteienstaat und Exponent des Warschauer Paktes zurückführen. Die hartnäckigen Feindbilder des Kalten Krieges bauten sich erst allmählich ab: Nach den Verträgen der Bundesrepublik mit den osteuropäischen Nachbarn, der völkerrechtlichen Anerkennung und dem UNO-Beitritt der DDR sowie der erfolgreichen ‹Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa› (KSZE) konnte sich seit Anfang der 1970er-Jahre eine spürbare Entspannungspolitik durchsetzen. Im Zuge der internationalen Annäherung hatten die Schweiz und die DDR 1973 ihre Botschafter in Ostberlin bzw. Bern akkreditiert und 1975 einen Handelsvertrag geschlossen.

Da lag es nahe, dass auch das programmhungrige Schweizer Fernsehen DRS seine Fühler ausstreckte. Die Entstehung der Ursula fiel aber genau in die Zeit einer tiefgreifenden Krise zwischen dem Medium, seinen Zielgruppen und der Politik. Die schwindende Toleranz gegenüber der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) und ihrer Auslegung des Sendeauftrags hatte zu einer Grundsatzdiskussion über ihre Legitimität und Programmgestaltung geführt. Wenn damals die No-Billag-Initiative nach Ausstrahlung von Ursula angestanden hätte, wäre die Volksabstimmung über die Gebührenpflicht für die öffentlich-rechtlichen Medien vielleicht anders ausgegangen. 1976 jedenfalls scheiterte die Abstimmung über einen Verfassungsartikel mit verbindlichen Grundsätzen für die Arbeit des Fernsehens, der dessen Eigenverantwortung und Freiräume begrenzt hätte.2

Umstritten war vor allem die Frage, wie gross der zulässige Einfluss der Politik sein dürfe. Denn konservative Kreise im Nationalrat versuchten, Abkommen mit Ostdeutschland zu verhindern – aus Angst, die SRG könnte zum Sprachrohr der DDR geraten und eine Beeinflussung mit dem Gedankengut der SED drohen:

«Wird der Bundesrat dafür sorgen, dass keine Abkommen geschlossen werden, die zweifelsohne unser Volk nie gutheissen würde?»3 Mit Hinweis auf die Eigenverantwortlichkeit der Funkmedien wurden staatliche Eingriffe jedoch vom neutralen Bundespräsident zurückgewiesen. Das hinderte die Behörden allerdings nicht, exponierte Bürger mit Verbindungen in die DDR zu überwachen. Sowohl der Fernsehdirektor Guido Frei als auch die SF-DRS-Dramaturgin Yvonne Sturzenegger – beide in das Ursula-Projekt involviert – erfuhren nach eigenen Aussagen erst 1989 von der Registrierung ihrer Person in einer sogenannten Fiche4 durch die politische Polizei der Schweiz aufgrund ihrer Ost-Reisen. Dies zeigt, wie misstrauisch jeder Austausch mit den sozialistischen Staaten selbst in einem erklärt demokratisch gesinnten Land beobachtet und kontrolliert wurde.

Letztlich aber konnten Verträge über die Systemgrenzen hinweg abgeschlossen werden, solange sie die Aussenbeziehungen des Bundes im Tenor der Helsinki-Schlussakte der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) nicht störten und der positiven Grosswetterlage in der Europapolitik Rechnung trugen. Die Potenziale der ostdeutschen Filmschaffenden sowie anerkannter DDR-Schauspieler_innen hatten es nahegelegt, sich aus künstlerischen wie aus pragmatischen und wirtschaftlichen Gründen nicht mehr nur den traditionellen Partnern der westdeutschen und österreichischen Anstalten zuzuwenden. So entschied sich das Fernsehen DRS für diese gleichberechtigte Koproduktion mit den ostdeutschen Kollegen. Konnte es damit weltläufig und fortschrittlich erscheinen und gleichzeitig seine Kompetenz als ernst zu nehmender Produzent beweisen, der qualitätsvolle wie prestigeträchtige Programme anbieten und namhafte Regisseure vorzeigen kann.

Das Vorhaben Ursula hatte also schon einen schwierigen Start. Für weiteren Konfliktstoff sorgten dann noch die zwei divergierenden Arbeitsweisen bei der Realisierung des bis dato grössten Filmprojekts, das im Auftrag des Fernsehens DRS hergestellt wurde: Ein professioneller DEFA-Studiobetrieb als durchorganisierter Auftragsproduzent traf auf den eher improvisierenden Stil des freien Schweizer Teams der Ciné-Groupe Zürich.

Vorlage und Umsetzung

Grundsätzliche Probleme ergaben sich vor allem durch die Auswahl und Interpretation der Literaturvorlage. Es stellte sich die Frage, warum gerade dieser weniger relevante Text aufgegriffen wurde. Denn Ursula zählte zu Kellers unbekanntesten Werken und stiess auch in der Forschung kaum auf Resonanz. Nach Hartmut Laufhütte wurde es vielfach nur als fragmentarisch empfunden und die schlecht geglückte Synthese von Geschichte und Dichtung bemängelt.5 Die federführende SF-DRS-Redaktion rechtfertigte jedoch ihre Zustimmung zu der von DDR-Seite eingebrachten Idee. Sie konnte sich auf der einen Seite den Ursula-Stoff wegen der personenreichen Volks- und Kriegsszenen gut in einer filmischen Umsetzung durch einen innovationsfreudigen Regisseur wie Egon Günther vorstellen. Auf der anderen Seite kam ihr eine weitere Zürcher Novelle gelegen – entstand doch gleichzeitig unter ihrer Ägide der Film Der Landvogt von Greifensee in der Regie von Wilfried Bolliger: eine Koproduktion mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) 1979.

Für die DDR-Medien wiederum galt der Schweizer Nationalschriftsteller als hoffähig, weil er nach sozialistischer Lehrmeinung für die «ganz Europa erfassende revolutionäre Volksbewegung des Vormärz»6 sowie mit ‹progressiven› Dichtern wie Georg Herwegh, Ferdinand Freiligrath oder August Heinrich Hoffmann von Fallersleben sympathisierte.

Was das eigentliche Thema betrifft, so erzählt der Prosatext von Keller bekanntermassen von der Zeit der Reformation inmitten einer Phase radikaler gesellschaftlicher Umwälzungen – ein aufgeladener Diskurs, der Ende der 1970er-Jahre durchaus mit dem aufklärerisch-emanzipatorischen Zeitgeist korrespondierte: auf der einen Seite der Reformator Ulrich Zwingli; auf der anderen die Wiedertäufer, die umfassendere Veränderungen und unbedingte Freiheit forderten. Deshalb stellte Zwingli die Machtfrage und setzte auf Repression und Verbannung. Am Ende verlor die sozialrevolutionäre Bewegung ihre Kraft, die aufsässigen ‹Propheten› blieben eine Randerscheinung in der Geschichte.

Dem historischen Setting haben sich die Filmemacher zwar durchaus gestellt. Aber eine werkgetreue Adaption war augenscheinlich nicht intendiert. Im Subtext ging es ihnen um humanistische Werte und ein Plädoyer für Frieden: die Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Leben und individuelles Glück einerseits – die Warnung vor Agitatoren und Krieg sowie die Forderung nach Toleranz und Menschenrechten andererseits. Die Drehbuchautorin Helga Schütz und der Regisseur griffen bewusst den weit zurückliegenden Stoff auf, um – laut des damaligen Stellvertretenden Vorsitzenden des Staatlichen Fernsehkomitees, Hans Bentzien – sozusagen in ‹historischem Kostüm› und im Schutz des nobilitierten Literaturkanons Probleme ihrer Gegenwart zu reflektieren. In der DDR ein bewährtes Verfahren, um sich einer allzu genauen Beobachtung durch die Funktionäre zu entziehen oder gar der Zensur zu entgehen.

Für seine Anliegen nutzte Günther den Gehalt der Novelle also doppeldeutig und versuchte Aktualisierungen. Diese wurden im Nachgang allerdings nicht nur in der Presse manchmal als «allerhand symbolisches Brimborium»7 verworfen. Als Beleg seien zwei Beispiele angeführt – zum einen: Nach der militärischen Niederlage und dem Tod Zwinglis wird dessen Leiche gevierteilt. Der Leichenschänder will danach aus dem Bild gehen, bezieht dann aber unvermittelt die Kamera mit ein: Er geht auf sie zu, bewegt abwehrend die Hände und schüttelt den Kopf, um uns den Blick zu verbieten – ein deutlicher Hinweis auf die bis heute praktizierte Vertuschung von Kriegsverbrechen auf der einen und das Verlangen der Medien an spektakulären Gräuelbildern auf der anderen Seite.

Zum anderen: Eine Jesus-Figur trägt ihr Kreuz über den verwüsteten Kriegsschauplatz. Er trägt eine Dornenkrone – die ursprünglich sogar aus Stacheldraht sein sollte – und wird mit einem Maschinengewehr beschossen, dem Sound nach vermutlich mit einer russischen Kalaschnikow: insgesamt also keine Gegenwehr, keine Glorie, kein Heldentum. Die pazifistische Position als entschiedene Absage nicht nur an die Militärdoktrin der DDR zieht sich als Konstante durch Günthers Werk.

Die Kritik am Film

Der appellative Charakter und die mehrdeutige Inszenierung der historischen Protagonisten und Ereignisse stiessen nach der Ausstrahlung in beiden Ländern vielfach auf Unverständnis und Widerspruch. Entsprechend der gesellschaftlichen Kontexte und Seherfahrungen des Publikums wurden die Codes aber auf unterschiedliche Weise gelesen. In der Schweiz monierten insbesondere einflussreiche Kritiker wie Martin Schlappner und Vertreter kirchlicher Kreise, das entheroisierte Bild Zwinglis sei unzulässig historisch verkürzt und im marxistischen Sinn verändert.8

Als diffamierend und reduziert wurde ferner die Sicht auf die Täufer empfunden. Die dargestellte sexuelle Freiheit – oder, je nach Standpunkt, Zügellosigkeit – sah man als Günther’sche Erfindung. An dieser Stelle wird die Differenz zwischen Film und literarischer Vorlage am deutlichsten. Der Schweizer Dichter hatte das Verhalten der Täufer verurteilt. Er instrumentalisiert die Schilderungen der sexuellen Grenzüberschreitungen, um die Irrationalität der Sektierer deutlich zu machen. Dem setzen die Filmemacher eine ganz andere Botschaft entgegen: Hier wird gelebte Promiskuität zum Ausdruck von menschlicher Freiheit schlechthin. Religiöse Gefühle verletzte besonders die sexuell konnotierte Handlung Suzanne Stolls mit einem hölzernen Kruzifix. Sie kann leicht als Andeutung einer Onanie Ursulas gelesen werden – auch wenn das nur in der Haltung mit gespreizten Beinen über der Figur und ihrem verklärten Blick angedeutet, aber nicht ausdrücklich gezeigt wird.

Die explizite Sexualität verstiess nach der gesellschaftlichen Liberalisierung in den 1970er-Jahren vielleicht nicht mehr gegen feste Tabus. Aber als Beitrag zum Abendprogramm im breiten Familienkreis am Reformationssonntag – allein diese Programmierung mit der Hoffnung auf hohe Einschaltquoten wurde als Affront empfunden – überschritten die Bilder die Schamgrenze. Doch erscheint der Vorwurf der Pornografie in West und Ost unbegründet, weil Egon Günther in diesen Einstellungen Distanz und Würde bewahrt. Es ging ihm nachvollziehbar nicht um voyeuristischen Lustgewinn, sondern um Aufklärung – und vermutlich auch um ein wenig Provokation. Deshalb überlagern die freizügigen Bilder zum Teil die Ernsthaftigkeit und das pazifistische Anliegen der Verfilmung. Sie beeinträchtigen den Gesamteindruck und erschweren den Zugang zu dieser per se nicht eingängigen Geschichte: «Ursula – ein schwerer Brocken» titelte das «Luzerner Tagblatt» am 7. November 1978 nicht zu Unrecht.

Zusätzlich als abstossend empfunden wurden die Einstellungen mit einem durchfallgeplagten Söldner: «Ich lasse mir an einem Sonntagabend nicht gern in meine Stube kacken!»9 Oder die als Zumutung empfundene Behandlung des verletzten Beins von Ursulas Verlobtem: Auf die Wunde uriniert Suzanne Stoll nach den Kriegshandlungen, um sie zu desinfizieren. Und zu guter Letzt verwirrte der Wechsel zwischen Hochdeutsch und Dialekt sowie der vulgäre Sprachgebrauch – laut der «Zürichsee-Zeitung» «ein einigermassen befremdliches Konglomerat»10, mit dem Günther überreizt habe.

Die Kritik bezog sich aber auch auf andere Stilmittel und Metaphern, die den Film aufgeladen hatten und übliche Fernsehgewohnheiten sprengten. Da ist einerseits die nicht lineare, sprunghafte Erzählweise mit fragmentarischen Episoden an diversen Schauplätzen. Sie werden nur mühsam mit der eigentlichen Liebesgeschichte zwischen Ursula Schnurrenberger und Hans Gyr zusammengehalten. Als modischer Effekt irritierten andererseits einige Gegenwartsbezüge im historischen Kontext: Fremde Elemente wie die Masten einer Hochspannungsleitung oder der Flug eines Deltaseglers, dessen Aufdruck ‹Zetka› im DDR-Kontext gleichzeitig als unerwünschte Anspielung auf das ‹ZK›, das Zentralkomitee der Staatspartei, gelesen wurde.

Aber gerade diese Verfremdungsstrategien und überraschenden Kompositionen verweisen auf die künstlerische Ambition des Regisseurs, offen für Experimente zu sein und verschiedene Assoziationsebenen anzubieten. Dadurch beeindruckt der Film in seiner Vielschichtigkeit und inspiriert in seiner Visionskraft bis heute.

Die Resonanz in der Schweiz

Insgesamt also hatte der komplexe TV-Film Ursula einen schweren Stand. Aber durch die Verpflichtung von Egon Günther konnten die beiden Fernsehpartner von vornherein keine brave Keller-Verfilmung erwarten. Hatte er sich doch eher dem 142. Aphorismus von Theodor W. Adorno aus dessen Minima Moralia verschrieben: «Aufgabe von Kunst ist es heute, Chaos in die Ordnung zu bringen.»11 Die verantwortlichen Redakteure hatten trotzdem an ein «epochemachendes Werk»12 geglaubt – in der Hoffnung, die Zuschauer würden akzeptieren und goutieren, dass hier keine unterhaltsame Lovestory, sondern das Moment der Reformationswirren im Mittelpunkt steht. Das Ausmass des Proteststurms überraschte allerdings. Die sperrige Sendung wurde zu einem Störfall und bestenfalls als ein elitäres Minderheitenprogramm im Massenmedium Fernsehen akzeptiert. Fegte er in aller Öffentlichkeit über die Schweiz, so fand er in der DDR mehr hinter den Türen statt. Nach der negativen Publikumsreaktion und internen Analysen wurde der Film dort zur Chefsache erklärt und der SED-Apparat in Bewegung gesetzt. Personelle wie fernsehpolitische Konsequenzen konnten nicht ausbleiben, um später Vollzug nach oben melden zu können.

In der Schweiz schienen für die protestantische Kirche die Grenzen des Erlaubten aber nicht nur in Bezug auf übersteigerte Freizügigkeit und künstlerische Extravaganz überschritten. Hatte das Fernsehen mit Zwingli doch eine ihrer wichtigsten Leitfiguren und die identifikationsstiftende Meistererzählung über die Reformation infrage gestellt. Der evangelische TV-Beauftragte Hans-Dieter Leuenberger stand im Zentrum eines heftigen innerkirchlichen Machtkonfliktes, weil er zu wenig eingegriffen und die Ausstrahlung nicht verhindert hatte – eine Einflussnahme, die allerdings als kirchliches Vorzensurrecht in fundamentalem Gegensatz zur Presse- und Informationsfreiheit gestanden hätte.

Auf die Entrüstung des Publikums nach der Ausstrahlung reagierte das Schweizer Fernsehen mit einer Fachdiskussion über den Film in der hauseigenen Sendung Fernsehstrasse 1-4 am 27. November 1978. An dieser nahmen neben dem Germanisten Adolf Muschg und dem Kirchenhistoriker Fritz Büsser Vertreter der evangelisch-reformierten Kirche und des Schweizer Fernsehens teil. Danach aber kritisierte der «Zoom»-Filmberater, dass das «für viele halt doch eigentliche Ärgernis – die grobschlächtige, von manchen als obszön empfundene Darstellung von Sexualität in Verbindung mit einer historisch-religiösen Thematik» gar nicht erst thematisiert wurde.13 Wegen dieser «unzüchtigen Veröffentlichungen» war im Dezember sogar noch eine Strafanzeige gegen das Schweizer Fernsehen eingegangen. Die Bezirksanwaltschaft kam nach einer Sichtung allerdings zum Schluss, dass keine Szene «unter Würdigung der im Film geschilderten Gesamtzusammenhänge als unzüchtig im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis zu Art. 204 StGB bezeichnet werden kann».14

Zudem musste sich SF DRS der Flut empörter Zuschriften stellen. Die beantwortete der verantwortliche Ressortleiter Max Peter Ammann in einem Standardschreiben, in dem er die künstlerische Absicht der beanstandeten Gestaltungs- und Stilmittel rechtfertigte:

Wie auch immer: Wir haben Film, Sendezeit und -tag zu verantworten. Da wir, was der Film substanziell zur Darstellung zu bringen beabsichtigt, keineswegs für sittenwidrig halten, da es uns zudem fern lag, das moralische, das religiöse Empfinden eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft vorsätzlich zu verletzen, müssen wir das Zeugnis Ihres Unwillens oder gar Ihrer Empörung entgegennehmen als Ausdruck eines Widerspruchs, der sich in unserer Zuschauerschaft hin und wieder ob unserer Programme erhebt: Was die einen ärgert, freut die anderen (und umgekehrt). Diesen wohl grundsätzlichen Widerspruch jemals aufzugeben, dürfte keiner Fernsehanstalt vermutlich gelingen. Es ist auch fraglich, ob dieses denn zu wünschen wäre.15

Aber auch der Bundesrat erhielt Protestschreiben, für die Bundespräsident Willi Ritschard in seiner differenzierten Stellungnahme mit helvetischer Zurückhaltung Verständnis zeigte:

Recht häufig erhalte ich Programmbeanstandungen, bei denen mehr oder weniger starke Eigeninteressen die Feder geführt haben. Bei den Schreiben zum Film Ursula empfand ich das anders. Hier kam eine tiefempfundene und ehrliche Empörung zum Ausdruck. Solche Kritik müssen wir sehr ernst nehmen. […] Ich glaube aber, das Fernsehen hat sich bei diesem Film zu wenig Rechenschaft über dessen Wirkung gegeben. Es hat zu wenig berücksichtigt, dass hier Bereiche berührt werden, die wie Religion und Sittlichkeit zum Innersten des Menschen gehören. […] Ich möchte aber mit meinen Bemerkungen nicht sagen, das Fernsehen dürfe keine kritischen und aufrüttelnden Filme ausstrahlen. Im Gegenteil, wir brauchen Beiträge, die uns aufrütteln und Widerspruch auslösen.16

Und das Fernsehen versuchte auf seine Weise, die Wogen zu glätten: Um sich vor weiteren Konflikten zu schützen – vielleicht aber auch aus Mangel an Zivilcourage –, veränderte oder schnitt es danach umstrittene Filmstellen – gewissermassen eine Aktion ‹sauberer Bildschirm›. Deshalb basierten die späte Zweitausstrahlung in der Schweiz im Juli 1990 sowie die Exportvariante nur auf einer zensierten Fassung. Aber auch mit ihr gelang dem zuständigen Vertrieb Telepool/Europäisches Fernsehkontor GmbH die erhoffte Vermarktung und damit teilweise Refinanzierung nicht mehr.

Die Resonanz in der DDR

In der DDR hingegen fand die Auseinandersetzung über den Film wie gewohnt nicht in aller Öffentlichkeit statt, obwohl seine Freizügigkeit hier bei weiten Teilen des überforderten Publikums ebenso auf Abwehr stiess. Im Gegensatz zur Schweiz dürften die ideologischen Gralshüter in den zuständigen ZK-Abteilungen der Staatspartei aber auch über die versteckten Friedensappelle verstimmt gewesen sein. Denn just 1978 war der umstrittene Wehrunterricht in der DDR als Baustein der militärisch organisierten und gesellschaftlich institutionalisierten Sicherheitspolitik eingeführt worden. Da musste die Übertragbarkeit historischer Bilder auf die Gegenwart negativ aufstossen. In einer Szene beispielsweise trägt ein Soldat ein Schwert mit der Spitze nach unten: ein Kreuz. Er dreht es, die Spitze zeigt nach oben: eine Waffe. Und an anderer Stelle zeigt eine kreuzförmige Hellebarde in die Luft. Der Erzähler steckt sie dann in den Boden und stützt sich darauf. Die Wahl zur Nutzung als Mordinstrument oder als Gebrauchsgegenstand ist also eine Frage der Entscheidung – für DDR-Sozialisierte ein Hinweis auf die Slogans ‹Schwerter zu Pflugscharen› und ‹Frieden schaffen ohne Waffen›, was dann in den 1980er-Jahren zum Motto der staatskritischen unabhängigen Friedensinitiativen avancierte. So reagierte die unflexible Kulturbürokratie mit Sanktionen auf das «aus Staatsgeldern finanzierte» Machwerk, das als «vieldeutig schillerndes, elitär angelegtes Verwirrspiel» geradezu ein Angriff auf die «Politik unserer Partei» und deren sozialistisches «Kunstideal» sei:17

Zusammenfassend ergibt sich: Dieser Film hätte mit dieser Konzeption nie produziert werden dürfen. Er verletzt das sittliche Empfinden der DDR-Zuschauer. Die geschichtlichen Vorgänge, die die eigentliche literarische Vorlage beschreibt, werden verzerrt wiedergegeben. Der Film huldigt in einem Wirrwarr befremdlicher Gefühlsausbrüche anarchistischen Tendenzen. Er hat Ablehnung und Empörung hervorgerufen. Aus alledem müssen im Staatlichen Komitee grundsätzliche Schlussfolgerungen gezogen werden, die verhindern, dass in Zukunft noch einmal Derartiges entstehen kann.18

Das verantwortliche Personal in der Abteilung Dramatik musste sich dem Ritual der ‹Aussprachen› und ‹Selbstkritik› unterziehen, wobei Dramatik-Bereichsleiter Hans Bentzien wegen ideologischer Unzuverlässigkeit und fehlender Parteidisziplin sogar seinen Posten verlor.

Ebenfalls ins Schussfeld gerieten die Szenaristin und der Regisseur. Die weit über die Grenzen hinaus bekannte Helga Schütz erhielt die nächsten zehn Jahre keine Aufträge mehr aus Adlershof und Babelsberg. Und ihr charismatischer Partner Egon Günther hatte sich mit seiner Grenzüberschreitung auch ins Abseits gestellt. Er war nicht mehr bereit gewesen, sich mit den Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit im ‹real existierenden Sozialismus› abzufinden. Das erklärt das während der Ursula-Produktion mehrfach zu beobachtende Beharren auf exzentrischen Entscheidungen über das vorgelegte Drehbuch hinaus als ein (lust)volles Ausreizen aller Möglichkeiten «manchmal bis zum Gehtnichtmehr».19 Doch die Suche nach möglichen Freiräumen und Ausdrucksmöglichkeiten scheiterte an den rigiden Kulturdogmen. Kann der Film im Nachhinein vielleicht schon als fulminant inszenierte Abschiedsbotschaft verstanden werden? In jedem Fall hatte er damit die Machtfrage gestellt: Sollten dem Künstler oder der Künstlerin wie gefordert mehr Eigenverantwortung und kreative Selbstverwirklichung gestattet werden? Oder sollte man die weitere Zusammenarbeit aufkündigen? Das Ergebnis ist bekannt: Das SED-Politbüro bewilligte im November 1978 die Ausreise aus der DDR als ‹Beurlaubung›. Das Enfant terrible kehrte erst nach der friedlichen Revolution 1990 wieder zur DEFA nach Babelsberg zurück. Wieder war ein Leistungsträger verloren gegangen und die Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Sozialismus in einer veränderten DDR ein weiteres Mal geschwunden. Es blieb ein Klima der Resignation und Stagnation, das Film und Fernsehen in der kommenden (und letzten) Dekade bestimmen sollte.

Walter Deuber, «Die Schuldigkeit dem Staat gegenüber. Über das Akzentesetzen», in: Tages-Anzeiger (28.10.1978).

Edzard Schade, «Immer Ärger mit dem Fernsehen: Die SRG-Kritik in den sechziger und siebziger Jahren», in: Neue Zürcher Zeitung (19.9.2003).

Nationalrat, Amtliches Bulletin der Bundesversammlung. Frühjahrsession 1978. 77.387, S. 182.

Es handelt sich um eine im Umfeld des Kalten Krieges entstandene Registratur der politischen Polizei, welche Kontrollkarten (Fichen) und Dossiers aus teilweise widerrechtlicher Überwachung von Personen umfasste: ein erst 1989 aufgedeckter politischer Skandal – siehe Kollektivgesellschaft Mengis + Ziehr (Hg.), Schweizer Lexikon, Horw/Luzern 1992, hier Band 2, S. 599.

Hartmut Laufhütte, Geschichte und poetische Erfindung: Das Strukturprinzip der Analogie in Gottfried Kellers Novelle «Ursula», Bonn 1973, S. 11.

Kurt Böttcher u. a./Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 8.1: Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1975, S. 567.

«J, Ursula – ein schwerer Brocken», in: Luzerner Tagblatt (7.11.1978).

Martin Schlappner, «Sitten und Gebräuche bei den Wiedertäufern: Zu Egon Günthers Fernsehfilm ‹Ursula›», in: Neue Zürcher Zeitung (10.11.1978).

Hans Heinrich Fridlin, «Ursula – ein Ärgernis?», in: Einsiedler Anzeiger (7.11.1978).

Sonja Augustin, «Kellers ‹Ursula›», in: Zürichsee-Zeitung (4.11.1978).

Theodor Adorno, Minima Moralia. Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main 2003, S. 254.

Martin Schlappner (wie Anm. 6).

Franz Ulrich, «Liebe Leser», in: Zoom-Filmberater 23 (1978), S. 1.

Bezirksanwaltschaft Zürich, Verfügung vom 18. Juli 1979.

Max Peter Ammann/Abt. Dramatik/Radio Fernsehen DRS, Direktion, Standardantwortbrief auf Zuschauerreklamationen, Zürich 1978.

Willi Ritschard, Standardantwortbrief auf Zuschauerreklamationen, Bern 27.12.1978.

Frank-Joachim Herrmann, Schreiben an Erich Honecker, Berlin (DDR) 21.11.1978.

Fernsehen der DDR/Programmdirektion, Bericht zur 48. Programmwoche (19. bis 26.11.1978), Berlin (DDR) November 1978, S. 3.

Egon Günther «Podiumsrunde ‹DEFA 50 – Die Fünfte› am 19.9.1996», in: Ingrid Poss, DEFA 50. Gespräche aus acht Filmnächten, Potsdam 1997, S. 113.

Thomas Beutelschmidt
*1953 in Frankfurt/Main, Dr. phil., Medienhistoriker und Publizist, Kurator und Regisseur, assoziierter Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Promotion über die Sozialistische Audiovision. Geschichte der Medienkultur in der DDR (Berlin 1995), Forschungsschwerpunkte: Film, Fernsehen und Medienpolitik in der DDR/transnationale Medienbeziehungen Osteuropa/Architekturgeschichte.
(Stand: 2021)
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