HANNES BECKER

DER ROMAN IN DEN BÜSCHEN

ESSAY

Er wusste, in wessen Träume man gerät (wer wollte es Fänge nennen?), den sieht man nicht wieder.

Ilse Aichinger

Es ist heute ganz unmöglich zu wissen, ob nicht doch jemand zuschaut, selbst dann, wenn man sicher ist, alleine zu sein – denn gerade diese Momente sind für andere interessant. Und so fragte ich mich jetzt, weil ich selber wirklich gerade ganz alleine mit mir selbst war - - - fragte mich, obwohl mir der Gedanke an eine Verschwörung vollkommen uninteressant erschien und ich entschlossen war, keine Theorie daraus zu machen, da ich Verschwörungstheorien überhaupt für eine zwecks Beeinflussung von aussen verbreitete Verschleierungstaktik hielt oder gewohnt war zu halten - - - fragte mich, ob nicht doch eine Absicht dahintergesteckt hatte, Absprachen und Vorbereitungen getroffen worden waren und schliesslich einfach nur ein gut durchdachter Plan durchgeführt worden war und ich erwartungsgemäss zur Strecke gebracht worden bin. Oder ist doch alles ein Zufall gewesen?, fragte ich mich in diesem Moment, der zunächst nur einer von vielen möglichen Momenten im Zeitalter des Internets im Jahr 2019 gewesen ist, wo man auf die für die Zeit und für das Internet typische Weise alles Mögliche denkt. Doch alle diese Fragen und Gedanken, Träume und Gedanken, waren – bevor sie zu etwas anderem wurden, indem sie hier das erste Mal öffentlich zu lesen gewesen sind – halb bewusste, ganz private, nur für mich gedachte, geradezu intime, erotisierende, erregende Gedanken beinahe schon sexueller Art gewesen. Gedanken, gedacht von mir alleine, Träume, geträumt nur von mir – und trotzdem aber Gedanken, wie sie auch schon zu früheren Zeiten gedacht wurden, Träume, wie sie schon geträumt wurden, als solche Träume und Gedanken noch bewegt waren von in ganz anderer Weise bedeutsamen Fragen. Statt einen Übergang von einem wandernden, wirklichen Bild zum nächsten in der Mediengesellschaft nachzuvollziehen, gaben sie ein empfindsames Abbild der inneren Wirklichkeit der Seele inmitten der Entäusserungen der Verhüllungen noch früherer Zeiten, ein Abbild der inneren Wirklichkeit der Seele inmitten der Freisetzung des Kapitals und der Umwälzung der Produktionsverhältnisse - - - statt einen die Grenze zwischen Innen und Aussen, Privatem und Öffentlichem zum Verschwinden bringenden, die zeitliche Abfolge der einander überbietenden irreversiblen Erfindungen Fotografie, Film, Internet aufhebenden und zur Weite eines Nebeneinanders selbstvergessener Vorgänge verwandelnden allgemeinen FILM zu ergeben, brachten sie den ROMAN der bürgerlichen Existenz.

Im Jahr 1856 träumte Alexander Speck von Sternburg, er hätte sich mitten in der Nacht im Landschaftspark auf dem Gut seiner Familie bei Lützschena verlaufen. Er lief auf einem der mit Holz ausgelegten Nebenwege in dem weiträumigen Gebiet zwischen Weisser Elster und Hinterwasser, da huschte etwas durch sein Blickfeld, sein zerstreuter Blick sah, wie es zuckte im Gebüsch neben dem Weg und ihn anzog; als er die Gefahr spürte, war es, als erwachte er. Er war in die entgegengesetzte Richtung zurückgewichen, etwas schlüpfte ihm über den Fuss, und er geriet in Wirklichkeit, statt zu erwachen, noch tiefer auf einen Nebenweg. Sein Körper, der sich anfühlte, als sei es der Körper eines ganz kleinen, der Sprache noch nicht mächtigen Kindes – was ihm in seinem Traum auch auffiel –, glitt lautlos, ohne dass er es sah, unter den Wipfeln zweier zu einem gotischen Bogen zusammengebogener Bäume hindurch, und er fand sich wieder auf der ausserhalb des Parks gelegenen sogenannten Reisswiese.

Alexander Maximilian Speck von Sternburg war 1856, als er den Traum träumte, fünfunddreissig Jahre alt und Leiter einer Brauerei in Topeka im Bundesstaat Kansas der Vereinigten Staaten von Amerika. Am Tag zuvor hatte er durch seinen Vater, den aus einfachen Verhältnissen stammenden, europaweit erfolgreichen Wollhändler und Industriellen sowie Gartenliebhaber Maximilian Speck von Sternburg, die Berufung erhalten, die Leitung der familieneigenen Brauerei in Lützschena bei Leipzig zu übernehmen – Alexander musste sich also auch im Inneren auf eine Rückkehr nach Sachsen und in die Welt seiner Kindheit vorbereiten. So ist der Traum mit einem innerlichen Motiv vielleicht erklärt, nicht aber, warum Alexander, der nach dem Zaren Alexander benannte jüngste Sohn der Familie Speck von Sternburg, der in der Wirklichkeit des Jahres 1823 erst zwei Jahre alt gewesen ist, im Traum auf die Reisswiese geraten war und dort in eine Filmvorführung mit ihm als einzigem Zuschauer. Auf der Reisswiese, einem ausgelagerten Teil des zum Rittergut der Familie in Lützschena gehörigen Landschaftsparks, fanden in der Wirklichkeit des Jahres 1823 wohl grössere Zusammenkünfte, Vogelschiessen und Schafschuren statt, das Kino war aber, so steht es im Internet, im Jahr 1823 noch nicht erfunden – war doch sogar die erste Fotografie erst im Jahr 1826 aufgenommen worden – und auch im Jahr 1856, als Alexander den Traum träumte, waren es noch zweiunddreissig Jahre, bis in Leeds in England die ersten Filme gedreht wurden, und noch neununddreissig Jahre waren es, bis 1893 die erste öffentliche Filmvorführung in Berlin stattfand. Der Gedanke eines Films war aber schon ein weit weniger abwegiger Gedanke geworden, als er es dreiunddreissig Jahre zuvor noch gewesen wäre, wenn ihn damals schon jemand gedacht und nicht nur davon geträumt hätte. Der Traum vom Film war allmählich dabei, praktisches Denken und durch Technik wiederholbare Wirklichkeit zu werden, und so kann es sein, dass der allen technischen Neuerungen aufgeschlossene und wegen der ihm bevorstehenden biographischen Zäsur und ins Auge gefassten Rückkehr ins elterliche Lützschena im Traum auf Abwege geratene, fünfunddreissig Jahre alte Unternehmer Alexander Maximilian Speck von Sternburg kraft einer zutreffend verirrten Vorstellung ein Kino erträumt und im Traum auf der eigentlich anderen Zwecken gewidmeten Reisswiese auch wirklich vorgefunden hatte.

Beinahe zweihundert Jahre später, an dem Tag nach der Nacht mit dem Sextraum, in dem mich Janina Pieper fragte, was meiner Auffassung nach die Funktion des bürgerlichen Romans und welche die Funktion des grossen erhabenen Mediums Film sei, zum Zeitpunkt der jeweiligen Entstehung, und bis zum heutigen Tag, sowie in einem beide Zeiten übereinanderlagernden Szenario, und während noch die Sonne aufging über der weiten Gegend, sass ich und las:

Er musterte im Rückspiegel rasch auch die andere Frau. Die liess ein verständnisvolles, in Zurückhaltung gehülltes, leicht leidendes halbes Lächeln auf den Lippen schweben. Was es bedeutete, war nicht ganz klar. Sie schien vermitteln zu wollen, dass sie mit ihrem ganzen hingebungsvollen Wesen in jedem der nun folgenden Augenblicke zu Frau Erna stehen würde. Es war offensichtlich, dass es gespielt war.

Ich erkannte den Roman, und ich erkannte den Film – und ohne dass ich Worte für sie fand, eilten meine Gedanken mir voraus, überströmten meinen Geist, rannten an gegen meine Arme, Beine, Schlüsselbeine, Schläfen, gegen den Körper, der zu langsam war, ein Gefühl für die eiligen Gedanken bereitzustellen, und in wachsender Erregung dachte ich, im Empfinden halb schon wieder bei der vergangenen Nacht, halb noch bei der eben gelesenen Stelle: Der Roman ist die Behauptung einer Welt, in der ein Mensch einen Menschen ansieht und sieht, was dieser wirklich in seinem Inneren denkt und fühlt, die innere Wirklichkeit, die aber doch auch vom Roman als eine Wirklichkeit aufgefasst wird, welche insofern wirklich ist, als sie im Inneren verborgen bleibt, oder nur in Gesten zum Ausdruck kommt, die auch etwas anderes bedeuten könnten als das innere Leben, das sie hervorgebracht hat. Wir schauen ja selbst, dachte ich, voller Unsicherheit in unseres Inneres – und auch das zeigt der Roman, und verführt uns so in die Vorstellung, er sei nicht bloss seine eigene Welt, sondern eine Beschreibung der Welt, wie sie wirklich ist – und wir können das nicht glauben, was wir glauben, dort in unserm Inneren zu sehen. Wir können oder wollen es nicht glauben, denn wir wollen oder können uns selbst niemals erkennen und sehen.

«Sind Sie, wer ich glaube, dass Sie sind?», fragte ich.

«Sie haben mich erkannt», sagte Janina Pieper.

Der Film aber, jedenfalls ein Spielfilm wie der, von dem Alexander Speck von Sternburg im Jahr 1856 träumte, dass er ihn im Jahr 1823 auf der Reisswiese neben dem elterlichen Landschaftspark in Lützschena sah --- der Film zeigt den Traum eines Menschen, der den Traum träumt, niemand schaue ihm beim Träumen zu, und nichts kann ihn von dieser Überzeugung abbringen. Während es in Wirklichkeit doch so ist, dass alle ihn dabei beobachten, wie er sich selbst vergisst und in der Selbstvergessenheit sichtbar und anziehend, VORBILDLICH wird, auch in seinem abstossenden Verhalten, für all die anderen, die ihn sehen, nur nicht für sich selbst, der sich selbst nicht sieht. Er glaubt, nicht im Bild zu sein, während in Wirklichkeit alle im Bilde sind, und während ja sogar der Traum, den er, der Mensch, träumt, der glaubt, alleine zu sein, und den der Film als Figur zeigt, von der Vorstellung bestimmt ist, dass genau dieser Mensch sich vorstellt, er wäre in einem Film und könne sich selbst sehen wie in einem Film, während er aber gleichzeitig sich selber nicht sieht und überzeugt ist, dass er alleine ist und also die Vorstellung, es gäbe ein Publikum, beschützt wäre durch die tatsächliche Einsamkeit des Menschen im trotz aller Beweglichkeit des Films vorübergehend ruhenden Bild.

Janina Pieper, die Atemberaubende, die Weltberühmte, Janina Pieper, die Vordenkerin, mein Vorbild, die Ältere, die Glücklichere, Klügere, Schönere, die Gelassenere, Neugierigere, Janina Pieper, jetzt, hier, ich hatte sie gefragt, ich hatte es gewagt!

Und aus diesem Traum kann niemand diesen Menschen wecken, oder der Film, jedenfalls dieser Spielfilm im Jahr 1823 auf der Reisswiese in Lützschena, wäre zu Ende: Und entweder würde Alexander Speck von Sternburg, der Sohn des höchst erfolgreichen Wollhändlers und Philanthropen Maximilian Speck von Sternburg, plötzlich erwachen und sich an dem am Ende einer mit Träumen unruhig verbrachten Nacht ganz gewöhnlich angebrochenen Morgen im Jahr 1856 wiederfinden, wo er dem Roman gerade noch entkommen wäre, dem Roman, und das heisst nicht: einem gedruckten Buch, sondern jener seinem Leben und seiner bürgerlichen Existenz, seiner objektiven, äusseren Realität ganz entgegengesetzten inneren Realität: dem Roman, der in seinem Traum nach ihm gegriffen, nach ihm GESCHNAPPT hatte und der von Alexander Speck von Sternburgs wehrhaftem Geist in einer Art psychischen Notwehr in den Traum eines Spielfilms aus dem Jahr 2019 aufgelöst worden war, den es im Jahr 1823 noch gar nicht hatte geben können, der aber folgerichtig im Traum doch bereits Wirklichkeit geworden war.

Was ich denn glaube, was die Funktion des bürgerlichen Romans und im Vergleich und Unterschied dazu die zeitgenössische Funktion des Filmes sei, fragte mich Janina Pieper in dem sogenannten Sextraum oder Skandaltraum, zum Zeitpunkt der jeweiligen Entstehung, und bis zum heutigem Tag, sowie in einem beide Zeiten übereinanderlagernden Szenario - - - der Roman ist das, sagte sie, als ihr, anlässlich ihrer eigenen Frage, und aufgrund ihrer grösseren geistigen Wendigkeit, die Antwort, schneller als mir, zufällig gerade selber eingefallen war, der Roman ist das, was als in einer heimlichen Innenwelt gelegene geheime Seite gerade bei besonders erfolgreichen, produktiven Menschen immer angenommen wurde: das Nichtstun, das Abwarten, der Zweifel, und dann das Erstaunen der Leser, dass solch ein scheuer Mensch, ein solcher menschenscheuer Bürger und biederer Herr trotzdem so viel getan, vollbracht und produziert hat. Dieses innere Leben des an seinem sich bereits abzeichnenden, in klarer Weise über ihn Auskunft gebenden, äusseren Lebensweg zweifelnden Bürgers und die Verwunderung der Leserinnen über die Spannung zwischen der für die Zukunft belegten Produktion des Bürgers und seinen diese Produktion allezeit begleitenden Zweifeln - - - das ist der WIRKLICHE Roman, der aus einem möglichen in der Schriftform erschienenen Roman austritt und den Lesern entgegentritt, indem dessen Wortlaut laufend mit dem wirklichen LEBEN, das heisst, dem äusseren, in Gesellschaft vollzogenen Lebenslauf verglichen wird, wodurch – durch den unüberwindbaren Kontrast und zugleich die unermesslichen Übereinstimmungen – jener wirkliche Roman ERWACHT und – heimlich im inneren Bewusstseins des Bürgers von sich selbst – mit dem wirklichen Lebenslauf mitläuft - - - nahe bei ihm bleibt - - - niemals eins wird mit ihm - - - und ihn von nun an für immer begleitet.

Es war der Roman, der nach Alexander von Sternburg geschnappt hatte, und es war der Film, zu dem er sich gerettet hatte. Der Film auf der Wiese, der Reisswiese, der Roman in den Büschen. Der Roman in den Büschen entlang des Wegenetzes im Landschaftspark von Lützschena, der auf das schlafende Bewusstsein des Unternehmers eingeschnellt war, und ihn zurück ins Jahr 1823 und auf die Reisswiese in Lützschena gezogen hatte, wo der Film bereits lief.

Er lief um die Leinwand herum, sah, dass nichts dahinter war, nur der Wald, noch viel weiter hinten, wo niemand war --- und dass es also aus dem Gerät kam - - - dass das, was er FILM nicht nennen konnte, aus dem «Beamer» kam, dessen Namen er aber wusste, ohne sich zu wundern, dass er ihn wusste – Digitaltechnik, 21. Jahrhundert, jetzt im Jahr 1823 – er wusste es, und er wusste es auf dieselbe Weise, wie ihm zuvor, nach der Selbstrettung vor der Bewegung in den Büschen und dem Durchqueren des aus den Wipfeln zweier zusammengebogener Bäume gebildeten Bogens, aufgefallen war, dass sein Körper sich anfühlte wie der Körper eines ganz kleinen, der Sprache noch nicht mächtigen Kindes, wie er es im Jahr 1823 wirklich gewesen ist, jenes Kind, jenes jüngste Kind der Familie, jener ganz kleine Sohn, der spätere erfolgreiche Unternehmer Alexander Maximilian Speck von Sternburg, der jetzt tief in Gedanken auf dem mit Holz ausgelegten vorläufigen Wegenetz des Lützschenaer Lustwaldes unterwegs war, all die Aufgaben ahnend, die ihm bestimmt waren, und an die er – obwohl fast noch ein Säugling – doch jetzt schon dachte. Er war seiner Zeit voraus, er geriet auf die Reisswiese, hier befand sich kein Mensch. Nur eine grosse Leinwand war aufgespannt worden, auf die, wie in Erwartung der aus unzähligen Augen geworfenen zukünftigen Blicke, das bunte Licht aus dem Beamer strömte und einen Film ergab. Dabei war aber nur das Bild eines beinahe farblosen, nach oben hin offenen Raumes auf der Leinwand zu sehen, aus dem ein Mensch eben geflohen war und von dessen Anblick ausserdem Stimmen ablenkten, die aus einem halb versteckt am Rand stehenden Radio kamen.

Oder der Film, sagte ich jetzt, die Pause ausnutzend, die dadurch entstand, dass Janina Pieper und ich, in dem Traum, den ich von ihr hatte, einander nur still ansahen, mit den Blicken nacheinander suchten, versuchten, in den Augen des Gegenübers EINANDER zu ERKENNEN - - -

Der Vater unterdessen war noch nicht wieder vom Wollkonvent in Leipzig auf das Rittergut zurückgekehrt, wo indessen schon alle Vorbereitungen getroffen waren, um in vorbildlicher Weise die Delegation ausländischer Händler und Experten zu empfangen, die am darauffolgenden Tag die europaweit als fortschrittlich gerühmte feine Wollgewinnung auf dem Rittergut in Augenschein nehmen würden. Der Sohn und alle seine älteren Geschwister, vor allem aber eben er selbst, der Jüngste von allen, Alexander, benannt nach dem Zaren Alexander, waren an den Vorbereitungen beteiligt gewesen und konnten jetzt beruhigt in den Schlaf finden. Die Mutter Charlotte – obwohl dem Namen nach eine Adelige, doch von ihrer ganzen inneren und äusseren Einstellung her eine Bürgerliche – war im Inneren des Hauses beim nach einer vormaligen Rezitation erfolgten Anhören der Hausmusik eingeschlafen, hatte sich jedoch nicht – wie es die Figur der Königin Anne in dem Film The Favourite aus dem Jahr 2018/19 getan hätte – von den Dienern ins Bett tragen lassen, sondern hatte sich, obwohl schlafend, ganz vorbildlich nichts anmerken lassen und hatte die Gesellschaft der anwesenden vornehmen Damen zu Ende unterhalten, bevor sie sich, noch immer schlafend und jetzt schon fest am Träumen, für die Nacht in ihre Räume zurückgezogen hatte.

Oder der Film, sagte ich zu Janina Pieper, hätte mit der Beendigung des Traums vom Alleinsein aufgehört, ein Film zu sein und wäre eine Nachrichtensendung geworden, von der alle wissen, dass alles, was darin zu sehen ist, von allen gesehen wird: eine Nachrichtensendung oder ein Gesellschaftsfilm, ein Klatsch- und Tratschmagazin über heutige Prominente und ehemalige Prominente, Filmstars, bronzene, alt gewordene Sänger aus den Hitparaden vergangener Jahrzehnte, die jetzt aber im Fernsehen angekommen waren, wegen irgendeiner unangenehmen Geschichte.

«Wobei haben sie dich denn erwischt?», fragte sie, als spräche sie selbst aus Erfahrung.

Es war der Roman, der nach Alexander von Sternburg geschnappt hatte, und es war der Film, zu dem er sich gerettet hatte. Es war das Verdienst des Films, zwischen der inneren Wahrheit des Romans, die sich niemals durchsetzen darf – dem Abwarten, dem Nichtstun, dem Zweifel –, und der Wahrheit der Berichterstattung des Skandals die Balance zu halten, beide davon abzuhalten, ganz wirklich zu werden und die Wirklichkeit zu verschlingen – einzusaugen ins Innere als ausdrucksloses schwarzes Loch oder es für alle Zeiten in die Schrecksekunde des äusseren Anscheins hineinversteinern zu lassen als SCHNAPPSCHUSS eines Bildjournalisten oder gewissenlosen Paparazzos.

«Wobei haben sie dich denn erwischt?», frage mich Janina, denn wir waren jetzt beim «Du», wir sagten «du» zueinander: Sie als die Ältere und Berühmtere von uns beiden hatte es mir angeboten, und ich hatte es angenommen, es nicht einmal heimlich ablehnen wollen. «Beim Sex mit mir selber», sagte die Stimme aus dem Radio – und das war ja das Radio in dem Film, den der Unternehmer Alexander Maximilian Speck von Sternburg auf der Reissweise in Lützschena sah, und die Stimme war die Stimme, die aus dem Radio kam in der aktuellen Szene im Film, und das war ja – meine Stimme, die, das war ja ich, der, das sagte.

Aber das waren doch geheime Sehnsüchte. Aber das waren doch Fragen und Gedanken und Träume und Gedanken, Gedanken, die nur ich gedacht, Fragen, die ich mir selbst gestellt hatte, Träume, die Träume gewesen waren, die nur geträumt worden waren von mir allein. Nichts davon war für die Öffentlichkeit bestimmt.

Na sag schon, wobei haben sie dich erwischt, fragte mich Janina, das bleibt unter uns. Und das war ja Janina, die das sagte, was jetzt im Film auf der Reisswiese plötzlich zu hören war, das, was, wie ich gedacht hatte, ein Gespräch zu zweit gewesen war, in einem Traum, den ich geglaubt hatte, ganz alleine zu träumen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, im Schlaf, ein sogenannter Sextraum, wie jeder zustimmend sagen würde. Aber offenbar ist eben doch alles aufgezeichnet worden und wurde gesendet dort in dem Skandalfilm auf der Leinwand auf der Reisswiese abseits des Landschaftsparks der Familie Speck von Sternburg bei Lützschena im Traum des Alexander Maximilian Speck von Sternburg. Oder die von mir erträumte intime Unterhaltung wurde vielleicht sogar live gesendet, aber offenbar im Jahr 1823, lange bevor wir das Gespräch miteinander gehabt hatten, zu der Zeit, als Alexander Maximilian Speck von Sternburg auf der Reisswiese alleine dastand und Janinas Worte in dem Film auf der Leinwand aus einem Radio kamen, in seinem Traum, das heisst, in einem Moment ausserhalb oder innerhalb – oder neben all diesen Zeiten, 1823, 1856, 2019, ein Traum, der vielleicht doch ein Traum von der Zukunft war, da es ja in diesem Traum einen Film gab, in dem jetzt plötzlich live zu hören war, was Janina sagte, da kam es aus dem kleinen Radio, das jenseits des Bildausschnitts in dem nach oben offenen Raum stand, der eigentlich ein Balkon war und aus dem ich eben erst geflohen war – und es war also eine Antenne gewesen, die Antenne des kleinen Radios, die da ins Bild ragte, während aus dem Off, von den Lautsprechern des kleinen Radios her, hier in dem Zimmer im Jahr 2019, das der Film zeigte, Janinas Stimme zu hören war und dann meine Stimme zu hören war, wie ich wieder sagte: «Beim Sex mit mir selber», weil das Wort «Sex» mich irgendwie auf einmal wirklich anmachte, weil ich annahm, dass ich das Wort ja gerade wirklich zu ihr, zu Janina Pieper, sagte, das heisst, zu sagen wagen durfte: «Beim Sex mit mir selber, oder beim Gedanken daran, auf dem kleinen Balkon meiner Wohnung im Innenhof in der ersten Etage des Wohnhauses, in dem ich wohnte, der Balkon, von dem ich gedacht hatte, er wäre über mir mit einem das Tageslicht abdämpfenden weissen Leinentuch abgedeckt gewesen, so dass ich nicht gesehen würde – obwohl alle, die an den Fenstern ihrer vollgestopften kleinen Wohnungen standen und in den Innenhof hinabschauten, von oben auf meinen Balkon hinabschauen konnten, den ich deswegen verdeckt hatte und von dem ich noch immer angenommen hatte, das er verdeckt war. Doch es war kein Tuch, das das Licht dämpfte, nur der Himmel hatte sich bedeckt und mit Wolken überzogen.»

Das Tuch war lautlos, oder in seinem Geräusch von meinen eigenen Geräuschen und Gedanken übertönt, hinabgeglitten und lag jetzt unten auf dem Boden des schmutzigen Innenhofs, viel zu weiss, ein ganz grober, viel zu heftiger Kontrast. Mir schossen bei dem Anblick die Tränen in die Augen, und die Tränen machten mich beinahe, doch nur beinahe blind. Während umgekehrt alle mich ganz deutlich sehen konnten, hatte ich gedacht, ich würde von niemandem gesehen, und mich auch so verhalten, wie ich mich verhielt, wenn nicht einmal ich selbst mich sehen konnte.

Und ich war ein sehr bekannter Mann, eine Berühmtheit, eine öffentliche Person, ein Politikum, so dass es ein grosses Thema im Internet geworden ist, beziehungsweise von den an ihren Fenstern Stehenden und auf mich Hinabschauenden dazu gemacht worden ist. Statt dass sie, sagte ich zu Janina, ohne mir direkt etwas davon zu sagen, einfach so, als meine Nachbarn, ihre Meinung über mich geändert hätten oder statt dass sie ihre Meinung über mich auf diese unzumutbare Weise im Anblick meines mit sich selbst beschäftigten, ganz dem Sex mit mir selber hingegebenen Körpers bestätigt gefunden hätten oder statt dass ich ihnen überhaupt zum ersten Mal aufgefallen wäre, woraufhin sie gedacht hätten, Ach, der wohnt hier, oder, Wohnt der hier --- statt also einfach so, diskret, nur in Gedanken und heimlich, ohne mir direkt etwas davon zu sagen - - -

«Auch so haben sie es dir ja nicht gesagt», sagte Janina, «sondern sie haben es auch erst nur für sich alleine gedacht und dann wieder ganz alleine, im Schutz der Nacht öffentlich gemacht, ohne je direkt etwas zu dir zu sagen.»

Und ich sagte, das sei wahr.

«Sie sind alle die Helden ihres eigenen Films», sagte Janina, Janina Pieper, meine Heldin, mein Gegenüber, meine Gesprächspartnerin, meine Freundin, mein Freund, «Helden, aber Helden wie Schurken, die mit ihren heimlichen Blicken das Bild aus dem Film lösen und, ohne selbst sichtbar zu werden, das Tuch von dem Menschen heben, der als DER ENTHÜLLTE ab diesem Zeitpunkt sich nicht mehr, nie wieder, so wird sehen können, als schauten ihm andere zu, während er in Wirklichkeit daran glauben darf, dass er allein ist. Er ist es nicht. Er ist es nie wieder.»

Und jetzt, damals, jetzt, in dem Traum, den ich träumte, kamen wir zu einer Übereinkunft, traten ein in ein wechselseitiges Einvernehmen, und in unser beider Herzen reifte ein gemeinsamer Entschluss. Wir trafen Absprachen, fassten einen Plan. Während wir uns unsichtbar bewegten, wanderte unser Blick hinaus, über die Ränder des Raums und des Rahmens, der Wiese, in den Wald, in die Nacht, um jene anderen Menschen zu suchen, jene seltsamen, normalen Menschen des 21. Jahrhunderts, und ihnen in ihr schauendes Auge zu blicken und sie zu erkennen, wie wir uns erkannt hatten, in dem Traum, von dem ich gedacht hatte, dass nur ich ihn träumen würde, den vielleicht aber auch wirklich die grosse Janina Pieper von mir geträumt hatte, der Traum, den wir dann ja gemeinsam geträumt hätten, und der vielleicht ein sogenannter Sextraum gewesen war, na gut, der aber im empfindsamen Auge des träumenden Betrachters aus dem Jahr 1856, durch die Live-Übertragung ins Jahr 1823, im Jahr 2019 ein Skandalfilm geworden ist.

Und wir haben sie gefunden, wir finden sie alle.

Im Internet haben sie währenddessen alles schon längst besprochen und hören auch weiterhin nicht auf, die wieder und wieder neu werdende Neuigkeit zu berichten und immer neuen, die Neuigkeit erneuernden Wertungen und Bewertungen zu unterziehen. Doch sie können nicht verhindern, dass wir sie finden und sehen und dass wir erkennen, wer sie sind: unser Gegenüber, trotz allem, was sie bereits gesagt und getan haben, und trotz allem, was wir bereits gesagt und getan haben und bei dem sie uns und bei dem wir ihnen zugesehen haben. Wir treten von hinten hervor aus der Dunkelheit, wir treten von vorne hervor aus dem Licht, und sie zeigen sich uns, und wir zeigen uns ihnen.

Und ein Gespräch beginnt.

Vielen Dank an Benjamin Dörr, dessen noch unveröffentlichte Monographie zum Lützschenaer Park mich auf die Idee für diesen Text gebracht hat. Mögliche Abweichungen von der historischen Rekonstruktion des Lützschenaer Parks und der Situation der Familie Speck von Sternburg im hier vorliegenden Text sind ein Ergebnis der literarischen Aneignung, und die Verantwortung dafür liegt beim Autor, bei mir!

Die zitierte Passage steht auf S. 226 des Romans Parallelgeschichten von Péter Nádas, erschienen bei Rowohlt in Reinbek bei Hamburg 2012, aus dem Ungarischen von Christina Viragh.

Hannes Becker
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2021)
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