MORTICIA ZSCHIESCHE

WERK ODER MACHWERK? — SERIENKILLER-FILME ALS ZERRSPIEGEL EINER GESELLSCHAFT

ESSAY

«Skandal! Skandal! Skandal!» – wie sich einst der Kritiker Friedrich Luft zur Premiere des Serienkiller-Psychogramms Peeping Tom (Augen der Angst, GB 1960) von Michael Powell echauffierte, polarisiert die derzeitige Welle an Filmen über Massenmörder im Mainstreamkino Filmkritik und Publikum gleichermassen. Von namhaften Regisseuren in Szene gesetzt, hinterlassen besonders drei viel diskutierte Produktionen die Frage: Sind diese neuen Filme grosse Werke oder blosse Machwerke – und was sagt die Filmgeschichte zu einstigen Serienmörder-Skandalfilmen?

So trieb The House That Jack Built (DK/DE/FR/SE 2018) des preisgekrönten Dogma-Regisseurs Lars von Trier sogar hartgesottene Kreuzberger aus ihrem Programmkino in Berlin hinaus, als der fiktive Serienkiller Jack (Matt Dillon) seinem Opfer die Markierung auf ihre Brüste aufzeichnet, an der er sein Messer ansetzen wird. Auf Jacks Höllenritt, begleitet durch den grossen Mimen und Iffland-Ring-Träger Bruno Ganz als Verge in einer seiner letzten Rollen, leistet auch Lars von Trier in Querverweisen Abbitte für seine eigenen Regie-Vergehen an seinen Schauspielerinnen. Wichtiger Schlüsselfilm zum Werk eines Künstlers oder krankhafte Nabelschau?

Erfolgsregisseur Fatih Akin brüskierte auf der Berlinale mit seinem drastischen Kammerspiel Der Goldene Handschuh (DE/FR 2019), der die Verbrechen des Frauenmörders Fritz Honka im Hamburg der 1970er-Jahre detailversessen im Trinker-Milieu in Szene setzt, um den Bestsellerroman von Heinz Strunk zu verfilmen – Duftbäume gegen den Gestank von Leichenteilen, Vergewaltigung mit Spülbrüste und blutiges Gemetzel in der Dachkammer inklusive. Kongeniale Milieustudie eines Hamburger Regisseurs, der seinen Kiez kennt, oder abartiges Ekelkino?

Und zur Eröffnung der Filmfestspiele in Cannes schliesslich liess der zweifache Oscargewinner Quentin Tarantino in Once Upon a Time in Hollywood (US/GB 2019) mit einem grossen Staraufgebot an Schauspielern die Morde der Jünger rund um den Sektenführer Charles Manson wieder lebendig werden, bei denen 1969 die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate und ihre Freunde in Hollywood umgebracht wurden. Innovative Fortsetzung im Filmschaffen eines Cineasten oder kalkulierter Skandal?

Der Blick auf die Filmgeschichte zeigt, dass Serienkiller-Filme abseits des reinen Genrefilms viel über unsere Gesellschaft erzählen und zugleich filmästhetisch brillieren können, auch wenn sie oftmals zum Zeitpunkt ihres Erscheinens lautstarke Proteste vermeintlicher Sittenwächter auslösten. Einst verfemte Filme wie Peeping Tom von Michael Powell, A Clockwork Orange (Uhrwerk Orange, GB/US 1971) von Stanley Kubrick, Die Zärtlichkeit der Wölfe (DE 1973) von Ulli Lommel und Natural Born Killers (US 1994) von Oliver Stone gelten mittlerweile als wegweisende Meisterwerke. Sie zeigen erstaunliche Parallelen zu den drei oben genannten Filmen auf und liefern damit Hinweise, wie sich die derzeitigen Skandalfilme in ihrem Wert schon heute einordnen lassen. Mehr als 250 Serienmörder-Filme listet allein Wikipedia auf und beginnt mit dem expressionistischen Stummfilm Das Cabinet des Doktor Caligari (D 1920) von Robert Wiene als Archetyp. Als Subgenre des Kriminalfilms enthalten Serienkiller-Filme oftmals Rückgriffe auf den Horrorfilm, spielen mit ‹thrill›, aber auch theatralischer Überhöhung, um ihre Geschichte zu erzählen. Doch umstritten ist, wie weit man dabei gehen darf.

«Es riecht nach schlecht gewordenem Essen und lässt den Geschmack von Asche im Mund zurück»1 – so zitiert der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer die Meinung eines zeitgenössischen Kritikers zum Cabinet des Doktor Caligari. Der Film rief ebenso Abscheu hervor, wie er gleichzeitig sein Publikum in den Bann zog, nicht zuletzt, weil die unheimliche Begegnung mit einem echten ‹Jahrmarktmörder› die Figur des somnambulen Mörders Césare (Conrad Veidt) inspirierte,2 der gleichzeitig als Sinnbild für das erfolglose Aufbegehren gegen Autoritäten steht, verkörpert von Dr. Caligari (Werner Krauss), der Césare zum Morden schickt.3 Caligari lasse tief in die Seele einer Gesellschaft blicken, wie es Siegfried Kracauer in seinem berühmten Werk Von Caligari zu Hitler von 1947 ausführt und eine Lanze dafür bricht, wie wir durch den Film gesellschaftliche Tendenzen entschlüsseln können. Er begründet es damit, dass Filme nie nur Produkt eines Individuums seien, sondern in ihrem Produktionshergang aus Teamarbeit resultierten. Sie erhielten damit immer Kollektivcharakter, der über Einzelinteressen und persönlichen Neigungen stehe. Filme seien zudem für die Menge gemacht, sodass man davon ausgehen müsse, dass sie derzeitige Massenbedürfnisse befriedigten und nationale Merkmale reflektierten. Und das gelte nicht nur für Deutschland, wo vor 1933 neben der Ufa die vielen kleinen Studios in ihrer Verschiedenheit im Angebot die «Spiegelfunktion des deutschen Films verstärkten». Auch Hollywood müsse sich dem geistigen Klima anpassen, und auf lange Sicht bestimmten die Bedürfnisse des Publikums die Natur der Hollywoodfilme.4 Und das verlangte immer wieder nach wirklichkeitsgetreuen Sensations- und Skandalgeschichten über gruselige Serienkiller, auch wenn sich vordergründig Kritik und Publikum zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Filme oft entrüstet gaben. Wer will schon einen vermeintlichen Spiegel vorgehalten bekommen, wenn es um derart Abartiges geht? Doch in der Retrospektive mit genügend zeitlichem Abstand wurde einigen der früheren Skandalfilme später Ruhm zuerkannt ob ihrer beklemmenden Analyse zeitgenössischer Missstände und ihrer bildhaften Sprache, die sozialen Schattenseiten kongenial ins rechte Licht zu rücken und dabei ihr Publikum ebenso zu brüskieren wie zu faszinieren.

Mit dem Kamerastativ in die Wunde des eigenen Filmgewerbes

«Krank, absonderlich, anwidernd», so titelte der Daily Express 1960 nach der Premiere von Peeping Tom, der heute zu den Meisterwerken des psychologischen Films zählt.5 Die Darstellung eines Spanners, der Frauen mit seinem Kamerastativ qualvoll tötet und dabei filmt, katapultierte den preisgekrönten britischen Regisseur Michael Powell (The Life and Death of Colonel Blimp, GB 1943, The Red Shoes, GB 1948, The Tales of Hoffmann, GB 1951) und seinen Hauptdarsteller Karlheinz Böhm, der bisher auf seine Prinzenrolle in den Sissi-Filmen festgelegt war, ins künstlerische Abseits. Vor allem Powell erhielt nach dem Film lange Zeit keine Finanzierung mehr für weitere Projekte und arbeitete hauptsächlich für das Fernsehen. Erst in den 1970er-Jahren erreichte sein Werk Kultstatus – wiederentdeckt von Martin Scorsese und Francis Ford Coppola –, bis Michael Powell Anfang der 1980er-Jahre auch offiziell späte Ehre zuteilwurde. Er erhielt den Ehrenpreis der British Academy of Film and Television Arts und den Goldenen Löwen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig für sein Lebenswerk. Diese nachträgliche Rehabilitation hat Powell insbesondere der Wiederentdeckung durch die französische und englische Filmkritik in den 1980er-Jahren zu verdanken. Zudem nannten ihn Regisseure wie Martin Scorsese, Francis Ford Coppola sowie Brian DePalma als wesentliche Einflussquelle.

Peeping Tom erzählt die Geschichte des unscheinbaren Kameramanns Mark Lewis (Karlheinz Böhm), der für ein Filmstudio tätig ist und ein Doppelleben führt. Wir sehen durch den schwer zu ertragenden und zugleich voyeuristischen Blick des pervertierten Filmemachers, wie er sich nach seiner Arbeit unter einem Vorwand Frauen jenseits der bürgerlichen Gesellschaft – Prostituierte, Fotomodelle, Tänzerinnen – mit seiner Kamera nähert, sie auf die immer gleiche sadistische Weise zur Lustbefriedigung mit seinem Stativ aufspiesst und den Moment des Horrors und Todes in ihren Augen filmt. In vollgestopften Regalen seines privaten Studios lagert er diese Filmbänder und ergötzt sich nachträglich an seinen Taten. Die Leichen, die mit angsterfüllten, erstarrten Gesichtern aufgefunden werden, mehren sich drastisch. Nur die tugendhaft-naive Helen (Anna Massey), die mit ihrer blinden, alkoholkranken Mutter (Maxine Audley) in Marks Elternhaus wohnt und sich Mark gefühlvoll nähert, bleibt verschont. Die Gründe für seine inszenierten Morde offenbaren sich im Laufe der Handlung: Es sind ein Trauma und mutmassliche Impotenz, verursacht durch Marks Vater, der als Psychiater Angst bei Kindern untersuchte und seinen eigenen Sohn für Versuchszwecke missbrauchte. Auch er versetzte Mark in Angst und Schrecken, indem er ihm beispielsweise einen Leguan auf sein Bett setzte oder ihn ans Totenbett seiner Mutter zwang und die Reaktion des Kindes dabei filmte.

In der britischen Presse setzte ein Sturm der Entrüstung ein. Selten war sich die linke wie rechte Presse so einig wie in der einhelligen Ablehnung dieses Films.6 Auch in Deutschland schlugen die Wellen in den konservativen Medien hoch – der «Schmutz zu Schauzwecken» erhielt von der katholischen Zeitschrift film-dienst das Siegel «Abzuraten, da im Ganzen untragbar».7 Ähnlich wie bei Lars von Triers Film The House That Jack Built wurde Michael Powell vorgeworfen, den talentierten Schauspielstab für abscheuliche Effekte zu missbrauchen, allen voran die beliebte Schauspielerin und Tänzerin Moira Shearer, die Hauptdarstellerin aus The Red Shoes und The Tales of Hoffmann, die hier in einer besonders aufrüttelnden Szene um ihr Leben gebracht wird.8 Denn den Clou behält sich der Film bis zum Schluss vor, wenn Mark, selbst sowohl Opfer als auch Täter, qualvoll zu Grunde geht: Die Frauen mussten beim Sterben in ihr eigenes Gesicht sehen, weil ein Spiegel am Objektiv befestigt war – metaphernreicher lässt sich eine Geschichte über Voyeurismus, Eitelkeit und Medien und zugleich über das sadomasochistische Verhältnis von Regisseur und Akteurinnen nicht erzählen. Dies war unerhört, nicht nur für die damalige Zeit, wie die Empörung über Lars von Triers eigene Höllenfahrt mit Starriege noch heute zeigt. In Deutschland erschien erst 1961 nach mehreren Zensurschleifen eine verstümmelte Schnittfassung von Peeping Tom unter dem Namen Augen der Angst – unsinnigerweise genau ohne die aufklärende Spiegelszene am Schluss.

Nahezu als Blaupause könnte man Peeping Tom nehmen, um Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, wann es sich beim Serienmörder-Film um ein schwer zu ertragendes Kunstwerk oder lediglich um ein billiges Genre-Machwerk handelt. Michael Powell schaffte es, ganz im Sinn von Kracauer, mit dem Bild von Kamera und Stativ als Mordinstrumente ganz tief in die Wunde einer sensationslüsternen Gesellschaft zu stechen, die nach immer mehr ‹screams on screen› verlangte, und einer Filmindustrie, die ihr dieses liefert. Denn der Horrorfilm hatte damals wie heute Hochkonjunktur. Der Regisseur erlaubt sich zahlreiche Hinweise auf seine Botschaft. So wird die unmotivierte Hauptdarstellerin des Films, der in den Studios von Marks Arbeitgeber gedreht wird, erst dann zur ‹scream queen›, wenn sie die echte Leiche von Marks Opfer im Koffer findet. «My instinct says all this filming isn’t healthy» («Diese Filmerei ist nicht gesund, sagt mir mein Instinkt»), wie ausgerechnet die blinde Mutter von Helen ruft, als sie Marks doppeltes Spiel ahnt. Und natürlich verkörpert Michael Powell im Film selbst Marks Vater als Wurzel allen Übels und legt damit den Finger oder besser die Kamera mit ihrem Stativ in die offene Wunde seines eigenen Gewerbes.

Das Besondere ist diese Metaebene jenseits der eigentlichen Story, die in einer aussergewöhnlichen Bildsprache jenseits der Effekthascherei umgesetzt wird. Die Ähnlichkeit zu Lars von Trier ist unverkennbar, wenn dieser analog zu den Morden von Jack und dessen Leichengerüst seine eigenen Filme in schneller Schnittfolge einbaut, in denen er seine Hauptdarstellerinnen in den Jahren zuvor als gequälte Opfer vorgeführt hat und sich damit das Fundament für seinen Ruhm schaffte. 34 Jahre nach ihrem Verriss in der Sunday Times9 entschuldigte sich 1994 die Journalistin Dilys Powell an gleicher Stelle bei Michael Powell und lobte die meisterlichen Leistungen des Regisseurs, seines Drehbuchautors Leo Marks und Kameramanns Otto Heller.10 1960 wollte man in England seinem Vorzeigeregisseur, ganz im Gegensatz zum Hollywoodregisseur Alfred Hitchcock und seinem Serienkiller-Gegenstück Psycho (US 1960), den Rückgriff auf den Horrorfilm einfach nicht zugestehen.11 Powell jedenfalls erlebte die späte Ehrerbietung der britischen Leitmedien nicht mehr, er starb bereits 1990 im Alter von 84 Jahren. Für Lars von Trier sollte eine Würdigung besser zu Lebzeiten reichen.

Hungriger Vampir als Zerrbild einer Mangel-Gesellschaft

Lernen von den filmischen Vorbildern – dies lässt sich auch vortrefflich, wenn es um die Verarbeitung der Taten von historischen Serienmördern geht. Eine erstaunliche Analogie zu Fatih Akins Der Goldene Handschuh weist die Milieustudie Die Zärtlichkeit der Wölfe (DE 1973) auf. Es ist die zweite Regiearbeit von Ulli Lommel und war bei Erscheinen ebenfalls ein polarisierendes Werk, das wie Akins Film für den Goldenen Bären bei der Berlinale nominiert war, aber auf ebenso wenig Gegenliebe bei Kritik und Publikum traf. Friedrich Luft, Star unter den Feuilletonisten, stand zur Premiere nach den ersten Gewaltszenen auf und diffamierte den Film lautstark, und 500 andere Zuschauende folgten ihm, wie sich Regisseur Ulli Lommel erinnert.12 Zärtlichkeit der Wölfe gilt heute als sein bester Film, der mittlerweile Kultstatus erreicht hat und noch immer in internationalen Retrospektiven läuft, auch wenn er zu Unrecht bei der grossen Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten ist. Als 1977 der Kritiker Vincent Canby in der New York Times anlässlich einer Wiederaufführung in einem New Yorker Kino seiner Begeisterung Ausdruck verlieh und den Film mit den frühen Werken von Andy Warhol verglich,13 kam es zu einer schicksalhaften Begegnung zwischen Lommel und Warhol, der den Artikel gelesen hatte und den Regisseur nach der Kinoaufführung am Ausgang abpasste. Eine intensive Zusammenarbeit der beiden Künstler folgte, die Lommels Auftakt zu seiner Regie-Karriere in Hollywood war, die ohne den Wolf-Film nicht möglich gewesen wäre.

Während sich Fatih Akin dem realen Mörder Fritz Honka widmet, der in den 1970er-Jahren in Hamburg auf dem Kiez vier Alkoholikerinnen aus der Kneipe «Goldener Handschuh» in seine Wohnung verfrachtete, sie bestialisch umbrachte, die Leichen dort zerteilte und bis zu ihrer Verwesung lagerte, ist es bei Lommel der homosexuelle Fritz Haarmann, genannt der «Der Werwolf von Hannover», der als Mörder von 24 Jungen und jungen Männern in den 1920er-Jahren in die Geschichte einging. Beide Regisseure blicken jeweils um 50 Jahre zurück – es brauchte wohl einen grossen zeitlichen Abstand, um einen künstlerischen Ausdruck für die Grausamkeiten der beiden Fritzen zu finden. Lommel verlegte kurzerhand das Setting in die 1940er-Jahre-Nachkriegszeit mit Film-noir-Ästhetik als Hommage an Fritz Lang. Akin überhöhte den Trinkhallen-Stil der 1970er-Jahre mit grotesk-entstellendem Masken- und Kostümbild.

Die Zärtlichkeit der Wölfe wurde finanziert von Rainer Werner Fassbinder, mit dem Ulli Lommel bis 1977 noch in über 21 Produktionen zusammenarbeitete. Dass der Film ein Kollektivprodukt wurde, ist den engen Verbindungen der Künstler untereinander geschuldet, die sich aus dem Antitheater und vorherigen Filmprojekten kannten: Fassbinder fungierte als Produzent, war neben Thea Eymèsz auch für den Schnitt verantwortlich, spielte in einer Nebenrolle mit und stand hinter seiner Crew, die während der Dreharbeiten in einem Haus zusammenlebte. Die Star-Besetzung mit der ‹RWF›-Familie war möglich geworden, da das Ensemble des Antitheaters zu dieser Zeit am Theater Bochum von seinem Engagement bei Peter Zadek freigestellt und das Honorar nebensächlich war. So reicht die Besetzung bis in die kleinsten Nebenrollen für Stars wie Jürgen Prochow, Irm Hermann oder Ingrid Carven. Zadek half zudem bei Kulissen und Kostümen mit seinem Fundus aus. Hauptdarsteller Kurt Raab, der auch für das Drehbuch und die Ausstattung von Haarmanns Dachstube verantwortlich war, sah sich ebenfalls zeitweilig als Regisseur. Es ist zudem einer der ersten grösseren Kinofilme von Kameramann Jürgen Jürges, der später zahlreiche Filmpreise für seine Kameraleistungen im Neuen Deutschen Film erhielt. So entstand in einer engen, fantasievoll ausgestatteten Dachstube ein echtes ‹Kammer›-Spiel mit unheimlich knarrenden Dielen, Engelsgemälden, ausgestopften Tieren und einem überdimensionierten Holzkreuz an der Wand, in dessen Schatten die homoerotische Unzucht mit minderjährigen Knaben und ihre Morde geschehen. Die Räumlichkeiten erinnern sofort an Honkas Hamburger Horrorrefugium, das Akin, anders jedoch als Lommel und Raab, minutiös nach vorliegenden Tatort-Fotos aus Polizeiakten nachstellte und ebenfalls mit einem erstklassigen Theaterensemble besetzte.

Ulli Lommel hatte bereits in mehreren Filmen von Fassbinder mitgespielt, darunter die Hauptrolle in Liebe ist kälter als der Tod (DE 1969), und galt seit diesem Auftritt als deutsche Ausgabe vom eiskalten Engel Alain Delon (Le samouraï, Jean-Pierre Melville, FR 1967) – übrigens auch ein (Auftrags-)Serienkiller. Es war eine hervorragende Entscheidung, Kurt Raab die Rolle des Fritz Haarmann verkörpern zu lassen und nicht mit Lommel selbst zu besetzen. Denn Raab tut dies in jeder Filmminute in überzeugender Weise, wenn er ausgestattet mit lila Hut, Vollglatze und fast weissem Gesicht, das nur aus seinen diabolischen Augen zu bestehen scheint, durch die düsteren Gassen geistert oder im Spiessrutenlauf an den misstrauischen Nachbarinnen in seine Wohnung hinauf- und herabsteigt. Jürgen Jürges vollbringt eine Meisterleistung, wenn er mit jeder Einstellung Bilder einfängt, die geprägt sind von einer spannungsvollen Lichtstimmung und reduzierten Bildkomposition. Er schafft dies mit einem ausgeklügelten System von sogenannten ‹Inkis›, kleinen 150-Watt-Scheinwerfern, die die Szenerie kunstvoll ausleuchten. Teile des Gesichts oder der Kulisse liessen sich so über Spotlights hervorheben. Die physische Ähnlichkeit zu Peter Lorre in M von Fritz Lang (DE 1931) und dem expressionistischen Licht- und Schattenspiel sind frappierend. Langs Film wiederum beruhte u. a. auf den Taten des Serienmörders Peter Kürten, dem ‹Vampir von Düsseldorf›, der das Blut seiner Opfer trank. Und genau dieser stand bei Zärtlichkeit der Wölfe Pate, um die Hauptfigur zu zeichnen.

Denn Fritz Haarmann ist bei Ulli Lommel ein ebensolcher Vampir, der sich erotisch aufgeladen seiner Opfer bedient. Gemeinsam mit seinem Kompagnon (Jürgen Prochnow) dreht er krumme Dinger, wird von der Polizei, die ihn mit einem Jüngling im Bett erwischt, erpresst und muss für sie als Spitzel arbeiten. Nachts bei der Kontrolle auf dem Bahnhof liest er junge Ausreisser und Strichjungen auf und lockt die Strassenkinder unter dem Vorwand der Hilfe in seine Wohnung. Nachdem er die Jungen so in Abhängigkeit gebracht hat, vergeht er sich an ihnen und versucht, ihre Jugend und Potenz zu inkorporieren, indem er ihr Blut trinkt, sie dabei tötet und ihr Fleisch verarbeitet. Aus ihren Leichen produziert er Würste, die er der Kiezdame Louise Engel (Brigitte Mira) regelmässig in ihrem Lokal vorbeibringt. Das Fleisch, die Lust, der Alkohol – Haarmanns Umfeld befindet sich wie bei Akin im tiefsten Sumpf des Milieus. Hier wird am Bahnhof gesoffen, und bei ausgiebigen Festmahlen mit Haarmanns Fleisch-Gaben lassen die Zuhälter ihre Mädchen tanzen. Sie prägen damit das Bild einer lustorientierten, degenerierten Mangel-Gesellschaft, die Haarmann durch seine Taten verzerrt widerspiegelt und in pervertierter Form steigert. Er ist nur ein einsamer Wolf unter vielen anderen Wölfen, die ebenso hungrig nach frischem Fleisch sind wie er.

Wenn Haarmann nach seinem Blutrausch die Leichen geräuschvoll durch die Kammer schleift und ihr Fleisch zerteilt, ahnt seine Nachbarin (Margit Carstensen) nichts Gutes. Wie bei Akin dringt der Schrecken durch die Wände, und schliesslich fliegt das Doppelleben von Haarmann auf. In einer ganz ähnlich arrangierten Abschlussszene kommen in beiden Filmen die Nachbarn zusammen, um gemeinsam mit der Polizei den Schandfleck aus ihrem Oberstübchen zu entfernen. Dabei sind die Zusammenkünfte von Haarmann mit seinen Opfern – im Gegensatz zu Akin – von grosser Zärtlichkeit geprägt und ästhetisch inszeniert, was genau zu seiner Ablehnung beim Publikum führte, das sich mit dem Protagonisten identifizierte. Die schönste Szene ist, wenn Haarmann einen nackten Knaben beim Baden beobachtet und dieses junge Wesen, das sich dort am Nass erlabt, mit in sein Bett nimmt, um es dort stumm auszusaugen. Es ist übrigens der junge Christoph Eichhorn, der einige Jahre und Filme später als Hans Castorp in Hans W. Geissendörfers Literaturverfilmung Der Zauberberg (DE/IT/FR 1982) dem grossen Publikum bekannt wurde. Diese zurückhaltend-poetische Inszenierung der Einsamen und Aussenseiter, die in starren Bewegungen agieren, wird oft durchbrochen von heiteren Tanzstücken der 1920er-Jahre (Musik: Peer Raben), die eine lakonische Stimmung erzeugen. Einen Gastauftritt hat dabei der Pianist der Comedian Harmonists. Es ist ein Stilmittel, das sich in zahlreichen Filmen von Aki Kaurismäki wie von Rainer Werner Fassbinder wiederfindet und das zum berührenden Bekenntnis für die Menschen am Rande der Gesellschaft wird. Noch lange bleiben die grünlich-braune Farbe der brüchigen Gebäude, das strenge Kostümbild der 1940er-Jahre und die nebelig-frostige Herbststimmung in den Strassen in der Erinnerung haften.

Serienkiller als Popstars des Sensationsjournalismus

Auch Regie-Legende Quentin Tarantino widmete sich in seinem neuesten Film Once Upon a Time in Hollywood als Regisseur, Drehbuchautor und Koproduzent dem realen Serienkiller Charles Manson, mit dessen Gewalttaten er die Geschichte Hollywoods der späten 1960er-Jahre aufs Korn nimmt. Durch den Sektenführer Manson und die sogenannte ‹Manson Family› kamen 1969 mehrere Menschen ums Leben, darunter die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate, die damals von ihrem Ehemann Roman Polanski ein Kind erwartete. Vier Anhänger der Manson Family überfielen sie in ihrem Haus und erstachen sie und ihre drei Gäste sowie den Hausmeister in einem brutalen Blutrausch. Wie emotional aufgeladen die Erinnerung an Sharon Tate und der mediale Umgang mit dem Mord an dem beliebten Hollywoodstar immer noch sind, zeigte die Reaktion auf den ursprünglich angesetzten Filmstart: Nach zahlreichen Protesten zog Sony Pictures den US-Start am 9. August 2019, dem 50. Todestag von Sharon Tate, zurück und verlegte ihn zwei Wochen vor. Zu gross der Druck der Öffentlichkeit und die Angst, durch Pietätlosigkeit den reibungslosen Start zu gefährden.14 Denn auch wenn Charles Manson für seine Taten mit lebenslanger Haft büssen musste, ist es noch gar nicht so lange her, dass er selbst sein Image aus seiner Zelle heraus pflegte. Bis zu seinem Tod 2017 hatte er zahlreiche Follower, erfüllte Autogrammwünsche und sein Konterfei prangte auf T-Shirts und Kaffeebechern. Die Manson-Figur erhielt als fragwürdige Ikone Einzug in die Popkultur, und die Medien berichteten bis zu seinem Tod immer wieder über ihn.

Das Hakenkreuz, das sich der rechtsradikale Manson selbst auf die Stirn einbrannte, nahm Tarantino als Motiv bereits in Inglourious Basterds (US/DE 2009) auf, als er dort am Ende Nazis von ihren Häschern brandmarken liess. Der fatalen Verbindung von extremer Gewalt durch Serienmörder mit Popkultur und Sensationsjournalismus widmete er sich jedoch bereits viel früher. Für den dreifachen Oscarpreisträger Oliver Stone und seinen Film Natural Born Killers (US 1994) schrieb er die Drehbuchgrundlage. Sein Stamm-Kameramann, der ebenfalls mehrfach oscarprämierte Robert Richardson, lieferte eine irrwitzige Aneinanderreihung von Bildern, die alle gängigen Fernseh- und Medienformate persiflieren, darunter Sitcom, Videoclip, Live-Übertragung oder Videospiel. Der Soundtrack umfasst mehr als 35 Popsongs und unterlegt fasst den kompletten Film. Das schrille Roadmovie über Mickey (Woody Harrelson) und Mallory Knox (Juliette Lewis), die von den Medien verfolgt und kultisch gefeiert mordend durch das Land ziehen und nach einer blutigen Gewaltorgie der Polizei entkommen, um eine Familie zu gründen, hinterliess Ratlosigkeit zur Premiere bei den Filmfestspielen in Venedig: Darf man so etwas zeigen?

Die Diskussion erinnert an Stanley Kubricks anfangs ebenfalls stark umstrittenen Film A Clockwork Orange (GB/US 1971), den Oliver Stone sogar direkt zitiert, wenn Mickey sich ein Auge ähnlich schminkt wie dessen Protagonist. Wie Serientäter Alex (Malcolm McDowell) mit seinen ‹Droogs›-Freunden zum Song «Singin’ in the Rain» eine Frau vergewaltigt und ihren Mann rhythmisch zum Krüppel schlägt, knallen Mickey und Mallory untermalt von Popmusik alles ab, was sich ihnen in den Weg stellt, und lieben sich exzessiv dabei – eine popkulturelle Sexualisierung von Gewalt, die sich selbst befeuert. Und wie bei Kubrick schiessen die beiden eine Gesellschaft nieder, der Gewalt inhärent ist und die selbst aus allen Kanälen zurückfeuert, sodass im Laufe des Films unscharf bleibt, wer Täter und wer Opfer ist: Missbrauch durch die Eltern, Folter im Gefängnis, Polizeischüsse auf Schwarze und allen voran der ‹Kameraschuss› durch Sensationsreporter, die um jeden Preis auf der Jagd nach der nächsten grossen Story sind. Wieder ist es diese Negativzeichnung der anderen Figuren, die ähnlich wie bei A Clockwork Orange oder Die Zärtlichkeit der Wölfe die Killer zu Sympathieträgern macht, mit denen sich der Zuschauer identifiziert, was wiederum die Kontroversen auslöst. Zum Ende von Natural Born Killers unterstreicht eine Collage von realen Nachrichten-Bildern von mutmasslichen Tätern und Opfern wie den angeklagten Prominenten O. J. Simpson und Tonya Harding oder dem von Polizisten verprügelten Rodney King, wie nahe sich der Film an der Wirklichkeit bewegt.

Ganz im Kracauer’schen Sinne bekommt eine Gesellschaft die Filme, die sie aus sich selbst herausbildet und die dadurch das geistige Klima offenbaren. Die betrachteten Serienkiller-Filme fungieren als eine Art Zerrspiegel der Gesellschaft, ihrer Filmindustrie, ihrer Kultur und ihres Journalismus. Sie liefern in beklemmender Art und Weise genau das, wovon wir gern unseren Blick abwenden und gleichzeitig heimlich darüber mehr erfahren wollen – ein bigottes Verhalten, das nicht zuletzt die Spirale der Gewalt und Gewaltdarstellung selbst weiter antreibt. Natürlich lösen die drastischen Szenarien, die weder zum Arthouse- und noch zum Genre-Publikum passen, bei Lars von Triers The House That Jack Built zunächst Ablehnung und Abscheu aus. Und doch lässt sich der Film ähnlich wie Peeping Tom als brutaler Seitenhieb auf den Voyeurismus des Publikums verstehen, der Filmschaffende immer mehr antreibt, über Leichen zu gehen. Der Ekel, der mit Fatih Akins Der Goldene Handschuh aufkommt, öffnet vielleicht den Blick für die gebrochenen Gestalten in den ranzigen Eckkneipen und dunklen Dachstuben, die sich ihre Tristesse bis zur Besinnungslosigkeit wegtrinken oder wie in Zärtlichkeit der Wölfe Schönheit und Jugend gewaltsam verinnerlichen, weil sie ihnen selbst nicht gegeben ist und sie deswegen von ihrem Umfeld abgelehnt werden. Und die Nähe von extremer Gewalt zur Pop- und Medienkultur, wie sie uns Tarantino in Once Upon a Time in Hollywood vor Augen führt, erinnert daran, dass sich seit A Clockwork Orange aus den 1970er-Jahren und Natural Born Killers aus den 1990er-Jahren wenig daran geändert hat, wie ‹sex and crime› immer noch für Schlagzeilen und Soundtracks sorgen, nur eben jetzt auch in den omnipräsenten sozialen Medien. Wenn Serienkiller-Filme, die diese Metaebene liefern und Missstände reflektieren, dann auch noch mit hoher Schauspielkunst und Bildästhetik verbunden sind, wie es bei Lars von Trier, Fatih Akin und Quentin Tarantino zweifelsfrei der Fall ist, kann man tatsächlich von Kunstwerken jenseits des Skandals sprechen, für die nur eines gilt: hinsehen – auf den Film und die Gesellschaft. Es sollte nicht erst Jahrzehnte dauern und die ‹Entskandalisierung› durch hartnäckige Cineasten benötigen, um diesem filmischen Blick auf unsere dunklen Seiten standhalten zu können.

Amiguet, «Cinéma! Cinéma!», S. 37, in: Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler – Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1995. S. 9.

Kracauer 1995 (wie Anm. 1), S. 67.

Robert Wiene fügte entgegen der ursprünglichen Drehbuchfassung von Hans Janowitz und Carl Mayer eine von diesen bekämpfte Rahmenhandlung hinzu, in der die Geschichte als Irrenfantasie eines geistesgestörten Franzis (Friedrich Fehér) erzählt wird. In Wirklichkeit ist der Mörder Dr. Caligari ‹nur› Anstaltsdirektor und sein somnabules Mordinstrument Césare Anstaltsinsasse. Kracauer sah darin die «Doppelseitigkeit deutschen Lebens», wenn in der Rahmenhandlung Caligaris Autorität triumphiere, in der Halluzination von Franzis dieser jedoch in die Zwangsjacke gesteckt werde.

Kracauer 1995 (wie Anm. 1), S. 10 ff. und 291.

Len Mosley, Daily Express (8. April 1960), http://www.powell-pressburger.or..., zuletzt besucht am 30.6.2019.

Steve Crook, The Powell and Pressburger Pages, http://www.powell-pressburger.or... 60_PT/Killers/index.html, zuletzt besucht am 30.6.2019.

Katholische Filmkommission, Filme – Kritische Notizen aus drei Kino- und Fernsehjahren 1959–61, Handbuch VI der Katholischen Filmkritik, Düsseldorf 1959–1961, S. 8 und 17.

Isobel Quigley, The Spectator (15. April 1960), http://www.powell-pressburger.or..., zuletzt besucht am 30.6.2019.

Dilys Powell, Sunday Times (10. April 1960), http://www.powell-pressburger.or..., zuletzt besucht am 30.6.2019.

Dilys Powell, Sunday Times (Juni 1994), http://www.powell-pressburger.or..., zuletzt besucht am 30.6.2019.

Der katholische film-dienst in Deutschland spielt Psycho bei seinem Erscheinen allerdings auch nur schnöde herunter: «Hitchcocks humorlos-abgeschmacktes Rätselspiel um den Irren, der die Mutter tötete und seitdem an Wahnideen leidet, ist sein bisher uninteressantester Film.» Film-dienst empfahl den Film immerhin für Erwachsene – der Rest ist Geschichte. Vgl.: Katholische Filmkommission für Deutschland (Hrsg.), Filme – Kritische Notizen aus drei Kino- und Fernsehjahren 1959–61, Handbuch VI der Katholischen Filmkritik, Düsseldorf (ohne Datum), S. 8/ S.17/S. 135.

Uwe Huber im Interview mit Ulli Lommel. Die Zärtlichkeit der Wölfe, DVD, CMV-Laservision, München 2015.

Vincent Canby, «Screen: Vampire in Fassbinderland», in: New York Times (20. Mai 1977), https://www.nytimes.com/1977/05/..., zuletzt besucht am 30.6.2019.

Carsten Baumgardt, «Nach Protesten: Sony verschiebt Quentin Tarantinos Manson-Mörder-Film Once Upon a Time… in Hollywood», in: filmstarts.de (20. Juli 2018), www.filmstarts.de/nachrichten/18..., zuletzt besucht am 30.6.2019.

Morticia Zschiesche
Film-, Kommunikations- und Sozialwissenschaftlerin. Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg in Soziologie. Arbeitet als Filmjournalistin sowie Autorin und berät Organisationen zu Finanzierung und Evaluation. Für das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg arbeitet sie derzeit an der Evaluation und Fortschreibung der Filmkonzeption des Landes mit.
(Stand: 2021)
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