THOMAS BASGIER

WAS EIN SKANDAL IST, BESTIMMEN WIR — HOLLYWOODS TAUMEL IN DIE SELBSTZENSUR (1921–1934)

ESSAY

Der Begriff ‹Skandalfilm› ist eigentlich ahistorisch, er ist schwammig, eine Art Leerformel, zumindest kein klar definierter Terminus. Er taugt nicht zur Kategorisierung von Filmen, weil er suggeriert, bestimmte merkmalsabhängige Produktionen seien auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, obwohl sie oft genug über einen solchigen nicht verfügen, weil er unterschiedliche historische, politische, sozialgesellschaftliche, ökonomische Kontexte in ein Verhältnis der Vergleichbarkeit setzt, die gemeinhin nur unter grössten intellektuellen Verbiegungen verglichen werden können. Nicht ohne Grund taucht das Wort ‹Skandalfilm› bei ernst zu nehmenden Autoren mit einschlägiger thematischer Interessenslage so gut wie kaum auf: weder bei Hans Scheugl (Sexualität und Neurose im Film) noch bei Amos Vogel (Film as a Subversive Art), weder bei Buhle/ Wagner (Radical Hollywood) noch bei Georg Seesslen (Der pornographische Film).

Eine der wenigen in sich schlüssigen und konsistenten Skandalchroniken des Kinos stammt aus der Feder Kenneth Angers. Hollywood Babylon hat den Vorzug, dass es sich allein mit den Alpträumen der ‹Traumfabrik› befasst und mit sonst gar nichts. Anger schert sich nur peripher um Systemfragen oder um politische Hintergründe, schiesst mit seiner Vorliebe für Kolportage und Kitsch, für Fetische und Technicolor, für Koks- und Alkoholdealer allerdings oft genug übers Ziel hinaus. Vieles ist nur Hörensagen und Gerücht, vieles hat sich als fragwürdig erwiesen. Erstaunlich ist, wie wenig Platz dieser Pionier des schwulen Kinos (Scorpio Rising von 1963) dem Thema Homosexualität einräumt. Eine längere Passage über den Schauspieler William Haines, der zwischen 1923 und 1934 eine Reihe von Filmen gedreht hatte und nach seinem (unfreiwilligen) Outing sein Dasein als Innenausstatter fristen musste, ein paar Seitenhiebe gegen Clark Gable, nur eine kleine Randbemerkung zu Montgomery Clift. Für filmwissenschaftliche Oberseminare wäre es durchaus eine lohnenswerte Fragestellung, ob sich in den Hollywoodproduktionen von George Cukor (Camille, 1936 mit Greta Garbo; Gaslight, 1944 mit Ingrid Bergman) oder James Whale (Frankenstein, 1931, und Bride of Frankenstein, 1935, beide mit Boris Karloff) so etwas wie ein schwuler Filmcode respektive Subtext finden lässt.1 Wenn schon Vergleiche, dann könnte man hier eine Analogie sehen zu den politisch extrem verschlüsselten Arbeiten von Carlos Saura während der Franco-Zeit (Cria cuervos, Züchte Raben, 1975) oder von Tarkowski (Andrej Rubljow, UdSSR 1964–66).

Was hat Letzteres nun mit dem Skandal-Sujet zu tun? Filme, die nur von Insidern dechiffriert werden können, entfachen in der Regel keinen Eklat. Der Grund für ihre Verschlüsselung ist allerdings Voraussetzung für jeden Skandal. Anders ausgedrückt: Jedes politische System (ob auf Profitmaximierung ausgerichtet oder nicht) folgt gewissen Gesetzmässigkeiten, und erst deren Überschreitung ermöglicht eine Skandalisierung. Zugespitzt gesagt: ohne staatliche Zensur oder Selbstzensur einer ganzen Branche keinerlei Reibefläche für die grossen Aufreger. Der Regelbruch braucht zunächst die Regel, um dann den Bruch zu vollziehen. Auf Hollywood trifft dies spätestens für die Zeit ab 1922 zu. Dabei ist es von Bedeutung, Filme nicht isoliert als das Endprodukt zu betrachten, als das sie über die Leinwand flimmern. Es müssen alle Aspekte der Produktions- und Rezeptionsästhetik einbezogen werden (Entstehungsgeschichte, sämtliche Produktionsabläufe, sämtliche Akteure, Reaktionen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, unmittelbare Affekte des Publikums etc.). Erst diese Gesamtschau bietet Erläuterungsmodelle für das vermeintlich Skandalöse. Auch insofern ist es widersinnig, nur den kinematografischen Schlusspunkt eines komplex verschachtelten Realisierungsvorgangs als Skandalon charakterisieren zu wollen.

Um ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit herauszugreifen: Hätte Ridley Scott in All the Money in the World (US 2017) den der Übergriffigkeit bezichtigten Kevin Spacey nicht herausgeschnitten und durch Christopher Plummer ersetzt, wäre dies dann ein Skandalfilm gewesen? Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Diese Massnahme war als Marketingstrategie – auch wenn sie eine Stange Geld kostete – unbezahlbar. Riesenwerbung für einen mittelmässigen Streifen. Soll heissen: Man kann mit dem Skandal durchaus kokettieren und Profit aus ihm schlagen. Was dabei nicht vergessen werden sollte: Der strikt arbeitsteilige Prozess des Filmemachens in Hollywood produziert schon rein strukturell weit mehr (namenlose) Opfer als Profiteure. Raymond Chandler hat dies so formuliert: «Hollywood lässt sich leicht hassen, leicht verachten, leicht beschimpfen. Einige der treffendsten Beschimpfungen erfolgten durch Leute, die nie durch ein Studiotor gekommen sind, einige der besten Verhöhnungen durch egozentrische Genies, die beleidigt abreisten – ohne zu vergessen, ihren letzten Gehaltsscheck einzukassieren – und hinter sich nichts als das exquisite Aroma ihrer Persönlichkeiten und eine verpatzte Arbeit für die erschöpften Lohnschreiber zurückliessen, die sie in Ordnung bringen mussten.»2 Diese «erschöpften Lohnschreiber» sind der eigentliche Skandal.

Fatty

Der Tag, an dem Hollywood das Lachen im Halse stecken blieb, war der 5. September 1921. Während einer aus dem Ruder gelaufenen Party im St.-Francis-Hotel in San Francisco kollabierte das 26-jährige Starlet Virginia Rappe. Gastgeber der rauschenden Fete war Roscoe Arbuckle, Spitzname ‹Fatty›, seinerzeit einer der bestbezahlten Schauspieler überhaupt, bei Paramount unter Vertrag und vor der Kamera Sidekick von Charlie Chaplin und Buster Keaton. Als Rappe am 9. September im Krankenhaus starb, machte schnell das Gerücht die Runde, dies sei die Folge einer Vergewaltigung durch Arbuckle gewesen: Er habe sie entweder mit einer Flasche penetriert, woraufhin sie einen Blasenriss erlitten habe, oder aber er habe sie, bei dem Versuch, sie zu besteigen, schlicht durch seine Körperfülle ins Koma befördert (dass bei ihr ausserdem eine Alkoholvergiftung diagnostiziert wurde, kam erschwerend hinzu). In der Tat war Fattys enormes Kampfgewicht in Verbindung mit einer erstaunlichen Gelenkigkeit fast sein einziges darstellerisches Kapital. Ansonsten war er der Typus Mann, dem die Chancenlosigkeit beim weiblichen Geschlecht ins Gesicht und auf den Leib geschrieben war, darin vergleichbar mit – bittere Ironie der Geschichte – Harvey Weinstein.

De facto läuft, bezogen auf das patriarchalisch-sexistische Machtgefüge innerhalb der Studios, eine direkte historische Verbindungslinie von Arbuckle zu Weinstein, eine Art Perlschnur männlichen Fehlverhaltens, bei der keine Niederträchtigkeit ausgelassen wurde (von der Vergewaltigung über die Zwangsprostitution bis hin zu den erzwungenen Abtreibungen). Einen Unterschied muss man allerdings konstatieren: Nach drei Prozessen, die sich bis zum April 1922 hinzogen, wurde Arbuckle freigesprochen, was dann freilich keinen Unterschied mehr machte. Beruflich und finanziell war er erledigt, ein Häufchen Elend, dem seine Gehaltsschecks und der Alkohol, der trotz Prohibition in Strömen floss, das Gehirn vernebelt hatten, eine Persona non grata, deren Filme im Giftschrank landeten, obwohl es in diesen nicht eine einzige skandalöse Einstellung gibt. Nur Buster Keaton soll noch zu ihm gehalten haben. Gemeinsam mit ihrem besten Freund sinnierten die beiden über die Zukunft: Buster, Fatty und der Schnaps …

Der Skandal traf Hollywood zur Unzeit: Bereits ab 1920 und zum Teil befeuert durch europäische Produzenten hatten die selbst ernannten Tugendwächter der USA zur Mobilmachung gegen den ‹Sündenpfuhl› aufgerufen. Bigotte Vereine wie die Southern Baptist Conference oder die General Federation of Women’s Clubs, aber auch die katholische Kirche prangerten die öffentliche Gefährdung von Sitte und Moral an, und angesichts der Tatsache, dass bis 1921 in 37 US-Bundesstaaten Zensurgesetze erlassen wurden, sahen sich die Studios in ihrer Absatzpolitik bedroht. Ursprünglich konkurrierende Firmen schlossen sich 1922 zu einem Interessensverband zusammen, der zunächst lediglich der Selbstzensur diente. Die Motion Picture Producers and Distributors of America Inc. (MPPDA), nach ihrem Präsidenten, dem ehemaligen Postminister Will H. Hays, kurz Hays Office genannt, operierte dabei nach aussen und nach innen. Für die Aussenbeziehungen (zu dem in Verbänden organisierten Publikum) war vor allem eines relevant, «die Einhandlung generalisierender Unterstützung im Interesse langfristiger Gewinnkalkulation».3 Nach innen wurden vor allem die Produzenten, das heisst die Atelier- und Studioleiter, in einem oft Jahre dauernden Prozess quasi weichgekocht, um ihnen «neue Gesichtspunkte zu vermitteln». Hays (bzw. sein zuständiger Adlatus Colonel Joy) erreichte so, dass ihm Filme gezeigt wurden, bevor sie in den Verleih kamen und dass er Drehbücher vor deren Realisierung zu lesen bekam. Auf diese Weise konnte das Office in vorauseilendem Gehorsam Empfehlungen abgeben, was bei den verschiedenen Ziel- und Zuschauergruppen eventuell Anstoss erregen könnte.

Vor diesem Hintergrund zeichnen sich im Hollywood-Kontext schablonenhaft verschiedene Ausprägungen eines Skandalons ab. Prinzipiell ist ein Skandal zunächst alles, was im Zusammenhang mit der Rezeption eines Films zu Einnahmeverlusten führt, weil Empfindlichkeiten des Publikums oder der Presse zu wenig Berücksichtigung fanden. Davon zu unterscheiden sind interne Eklats, bei denen die vermeintlich anrüchige Aussenwirkung gerade noch rechtzeitig bemerkt wurde – dies konnte kostspielige Änderungen an einem schon fertigen Film zur Folge haben, woraus letztlich wieder Gewinneinbussen resultierten. In einer dritten Kategorie sind Produktionen anzusiedeln, die bewusst den herrschenden Moralkodex verletzen, wobei die Verantwortlichen hoffen, dass dies nicht in einen Zuschauerboykott mündet, sondern im Gegenteil mit mehr Zulauf und folglich mit grösserem Profit endet. Die vierte Kategorie schliesslich sind ‹Skandalfilme› mit Langzeitwirkung, deren anstössiger Subtext einem damaligen Publikum nicht bewusst wurde und die ihr Potenzial erst mit zeitlicher Verzögerung entfalten. Hier wird auch die ganze Problematik dieser Einteilung deutlich, eben ihre Schablonenhaftigkeit: Was die Zuschauermasse goutiert oder nicht goutiert, kann sich unter Umständen rasend schnell ändern, was in einem Jahrzehnt maximalen Profit abwirft, kann schon im nächsten gnadenlos floppen, was heute belustigt, kann morgen verärgern – die Geschichte Hollywoods strotzt vor solchen Wendungen. Nicht zuletzt hängt die Einschätzung dessen, was der Kern eines Skandals ist, von der Perspektive der Protagonist_innen ab. Arbuckle empörte sich hauptsächlich über die geifernde Berichterstattung der reaktionären Hearst-Presse,4 während er bei den Studiobossen zu Kreuze kroch («Lasst mich doch arbeiten. Ich will zurück auf die Leinwand.»5).

Die Kinokarriere von ‹Fatty› hatte 1912 bei Mack Sennetts ‹Keystone Cops› begonnen, einer Truppe durchgeknallter Polizistendarsteller, die – stets die Ordnung im Blick – für blankes Chaos sorgte, ein anarchisches Durcheinander aus den immer gleichen Zutaten anrührte (Verfolgungsjagd und Tortenschlacht). So sehr man in der Filmgeschichtsschreibung den sozialkritischen Impetus der frühen Sennett-Burlesken lange überbewertet hat, so sehr hat man wohl den fragwürdigen Charakter des weiblichen Pendants (The Water Nymph, 1912) zu den ‹Cops› unterschätzt. Aus heutiger Sicht sind die ‹Bathing Beauties› kaum mehr als eine absonderliche Zusammenrottung leichtgeschürzter Mädchen, deren laszive Posen ausgerechnet darauf abzielen, ihre Kindlichkeit und ihre Unschuld zu betonen. War Mack Sennett nicht nur der ‹King of Comedy›, sondern auch der ‹Lord of Lolitas›? «Die Bathing Beauties waren jenseits von Gut und Böse und schon deshalb ein Skandal.»6

Stroheim

Arbuckle hatte zusätzlich das Pech, dass sein Fall den Beginn einer ganzen Skandalserie markierte: Am Abend des 1. Februar 1922 wird der Paramount-Regisseur William Desmond Taylor in seinem Bungalow im Westlake Distrikt von Los Angeles erschossen aufgefunden. Am 18. Januar 1923 erliegt der heroische Leinwand-Schönling Wallace Reid in einem Privatsanatorium seiner Morphin-Abhängigkeit. Gemäss dem Diktum von Hollywood-Tycoon Louis B. Mayer, er beschäftige nur kleine Angestellte in einer grossen Unterhosenfabrik, wo die gleiche Hose Grossvater, Vater und Kind passen sollte, muss man sich stets vergegenwärtigen, dass schon allein die drei Genannten nichts weiter waren als schlichte Rädchen in einem gigantischen Getriebe, ausgestattet mit ein paar Privilegien bei maximaler Fremdbestimmung – da passt es ins Bild, dass die Drogensucht Wally Reids wohl hauptsächlich auf Erschöpfung und Überarbeitung zurückzuführen war.

Auch die bis dato souveränen Regisseure wurden sukzessive degradiert zu reinen Funktionsträgern. Vereinzelt regte sich Widerstand, Chaplin zahlte man sein Beharren auf künstlerische Unabhängigkeit erst 1952 heim. Im Falle Erich von Stroheims ging es schneller und quälender. Ausgestattet mit falschem Adelstitel und geschönter Biografie kam der gebürtige Österreicher und Sohn eines Hutmachers 1909 in die USA und 1914 als Statist nach Hollywood, wo er 1918 erstmals negativ auffiel: In The Heart of Humanity von Allen Holubar verkörperte er einen deutschen Offizier, der bei dem Versuch, eine Krankenschwester zu vergewaltigen, ihr brüllendes Baby aus dem offenen Fenster wirft (eine Szene, die schon sieben Jahre später nie und nimmer gedreht worden wäre). 1919 wurde Stroheim von der Universal mit seiner ersten Regiearbeit betraut (Blind Husbands), die ein veritabler Erfolg wurde. Bis 1933 folgten neun weitere Filme, denen alle ein ähnliches Schicksal – mal schlimm, mal weniger schlimm – beschieden war: Kürzungen um ein Drittel der Länge und mehr, Übernahme des Schnitts durch einen anderen Regisseur, Entlassung von Stroheim während der Dreharbeiten, kompletter Abbruch von Dreharbeiten, Verweigerung des Kinostarts und Verbannung ins Archiv. Dies alles mit wechselnden Produktionsfirmen (Universal, MGM, United Artists, Fox) – bis fast keine mehr übrig blieb.

Pars pro toto mag der Geniestreich Greed (1924) erwähnt sein, ein schonungs- und hoffnungsloser Blick auf die von Profitsucht getriebene soziale Wirklichkeit Amerikas. In der Ursprungsfassung soll der Film über neun Stunden gedauert haben (nach anderen Quellen fast sechs), vom Studio eingedampft auf zwei, bis heute sind etwas über drei Stunden restauriert. Die sich hier offenbarende Gigantomanie Stroheims paarte sich mit einer realitätsversessenen Detailverliebtheit. Dutzende von Anekdoten sind diesbezüglich überliefert. Eine von Jean Renoir, der von einer Aufnahme bei Foolish Wives berichtet (1922), für die mehr als tausend Statisten aufgeboten worden waren und die von Stroheim abgebrochen wurde, weil ein Palastwächter ganz im Hintergrund keine weissen Handschuhe trug, was auf der Leinwand nie zu sehen gewesen wäre. «Dieses winzige Detail kostete die Metro wahrscheinlich ein Vermögen», aber Stroheim hatte recht.7 Für Foolish Wives liess «der dreckige Hunne» (Anger) ausserdem halb Monte Carlo auf dem Studiogelände nachbauen (inklusive Casino und Hotel de Paris mit einer funktionierenden elektrischen Klingelanlage, in einem Stummfilm offenbar ein unabdingbares Muss), was die Produktionskosten auf für damalige Zeiten exorbitante 1,1 Millionen Dollar emporschnellen liess.

Stroheims Gebaren, seine Ignoranz gegenüber Dreh-, Budgetplänen oder sonstigen Vorgaben wurde von den Studios als existenzbedrohend empfunden. Und dies war ein weit eklatanterer Skandal als die Eskapaden irgendeines Schauspielers, weil hier einer den Versuch unternahm, das System mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Je mehr Geld man Stroheim zähneknirschend bewilligte, desto mehr verpulverte er. Aber der Konflikt ging noch tiefer. Auf den ersten Blick muten die Plots seiner meisten Filme banal, bieder und klischeehaft an. Es sind entweder Ehebruchsdramen, bei denen ein ‹good American girl› den Verführungskünsten eines europäischen Lebemanns erliegt, amerikanischer Puritanismus also auf die Libertinage der Alten Welt trifft, oder sie entfalten vor dem Hintergrund der aristokratischen Gesellschaft im Vorkriegseuropa eine Dreiecks- bzw. Romeo-und-Julia-Geschichte (so in Merry-Go-Round von 1923, in The Merry Widow von 1925, in The Wedding March von 1926 und dem unvollendeten Queen Kelly von 1928). Diese konventionellen Handlungsgerüste werden dann aber gleich auf doppelte Weise brüchig: zum einen durch die unzweifelhaft konsequente Haltung Stroheims, seinen Frauengestalten – auch in Momenten grösster Erniedrigung – nie den Respekt zu versagen, ihr Leid nie sensationalistisch auszuschlachten und zugleich als permanente Ursache diesen Leids jene Männerwelt anzuklagen, in der es nur so wimmelt von lächerlich anmutenden Wichtigtuern in kaiserlich-und-königlichen Operettenuniformen, berauscht von ihren eigenen Allmachtsfantasien, gepeinigt oder abgestumpft von ihrer körperlichen und seelischen Impotenz. «Szenen, die derart unbarmherzig mit dem Patriarchat abrechnen, finden sich in der Filmgeschichte nur bei Stroheim.»8

Zum anderen sind es die immer wiederkehrenden Motive, welche die Arbeiten des Monokelträgers weit über jedes Mittelmass hinauskatapultieren. Kaum ein Film kommt ohne eine Orgie aus, getarnt als Verlobungs- oder Hochzeitsfeier, als Opernball oder Theaterpremiere. Die nächtelangen Dreharbeiten zu diesen Ausschweifungen sind in Hollywood bis heute geheimnisumwittert und legendenumrankt. Strohheim liess den entsprechenden Studiokomplex hermetisch abriegeln, um dann seine Vision vom Kino Realität werden zu lassen, nämlich das ans Licht zu zerren, was sich hinter verschlossenen Türen wirklich abspielt. Nichts ist Suggestion, alles ist Sinnlichkeit, alles ist zeigbar und sichtbar, alles ist authentisch, erst dann ist es Kino. Wo Champagner draufsteht, ist auch Champagner drin, was wie Kaviar aussieht, ist auch Kaviar, und die Scharen leicht zu habender, leicht zu kaufender Mädchen waren genau ebensolche. Schon 1922 wurde Stroheim vorgeworfen, er sei «eine Beleidigung jedes Amerikaners».9 Er hat dies wahrscheinlich als Kompliment aufgefasst. Wie sehr Hedonismus und Systemzersetzung bei ihm Hand in Hand gehen, hat er Jahrzehnte später – in Frankreich – noch einmal auf den Punkt gebracht: «Wissen Sie, seit wann ich zu viel Whisky trinke? Seit 1919, seit der Prohibition …, um zu zeigen, dass ich ein freier Mann bin.»10 Noch so ein Treppenwitz der Geschichte: In dem Jahr, als die Prohibition abgeschafft wurde, 1933, war auch Stroheims Karriere als Regisseur am Ende. Er blieb der eitrigste Stachel im Fleische Hollywoods …

Das Jahr 1933 war noch in anderer Hinsicht bedeutsam. Auf massiven Druck der militant katholischen Legion of Decency wurde der vom Hays Office 1927 ausformulierte Moralkodex erstmals für verbindlich erklärt. Vorausgegangen war 1930 die Gründung der Motion Picture Production Code Administration (MPPCA), die sich die totalitäre Durchsetzung ebenjener ominösen Liste von ‹Dont’s and Be Carefuls› auf die Fahnen geschrieben hatte, welche als sittlicher Leitfaden für die amerikanische Filmwirtschaft dienen sollte. Geächtet waren: ein respektloser Umgang mit Worten wie ‹God›, ‹Lord›, ‹Jesus› oder die Verwendung von Ausdrücken wie ‹hell›, ‹damn›, das Zeigen von Nacktheit (auch nicht mittels Schattenbilder), vom Handeln mit Rauschgift oder mit weissen (!) Sklaven, Hinweise auf sexuelle Perversionen, die Thematisierung von ‹Rassenschande› (!), Darstellungen von Intimhygiene, Geburtsvorgängen, Geschlechtsteilen von Kindern, Lächerlichmachung von Geistlichen. Darsteller sollten zudem vertraglich auf einen «anständigen Lebenswandel» verpflichtet werden. Darüber hinaus durfte die Visualisierung einiger anderer Aspekte nur mit besonderer Sorgfalt erfolgen. Der Katalog reicht von Angaben zum Umgang mit der Flagge über die Ablehnung von Sympathiebekundungen für Kriminelle bis hin zur Verabscheuung von Bett- und ausgedehnten Kuss-Szenen. Wie alle Zensurbehörden konnte es sich auch das Hays Office nicht verkneifen, sein Arsenal an Verboten immer weiter zu verfeinern und zu konkretisieren. Bis schliesslich die Vorführung eines Films ohne Freigabe durch den Production Code eine Strafe von mindestens 25’000 Dollar nach sich zog. Eins darf dabei nicht aus dem Fokus geraten: Der sogenannte Hays Code war nicht eine gegen die Industrie gerichtete Massnahme, sondern er lag im ureigensten Interesse Hollywoods. Er ermöglichte es den sechs grossen ‹major companies› (the ‹Big Six›) – Metro-Goldwyn-Mayer, Warner Brothers, Paramount, Universal, Fox, United Artists – sich als Monopol zusammenzuschliessen, unliebsame Konkurrenten auszuschalten und den Erwartungen der im Hintergrund agierenden Bankhäuser wie Morgan und Rockefeller gerecht zu werden. Ausserdem konnte endlich der unerbittlich schwelende Machtkampf innerhalb der Produktionsfirmen zwischen künstlerisch orientierten Abteilungen und den fürs Monetäre zuständigen Departements entschieden werden – und zwar zugunsten der Verwaltung und des Finanzmanagements.

Diese Fixierung aufs Kapital wurde durch die Zeitumstände verschärft. Während die Kinoeinnahmen nach Etablierung des Tonfilms kurzfristig stiegen, brach der Markt 1929 in Folge des Börsencrashs zusammen: Bis 1933 schrumpften die Einspielergebnisse von 720 auf 482 Millionen Dollar,11 bis 1932 mussten 20% der mit den Studios eng verbundenen Lichtspielhäuser schliessen. Der Production Code schien das probateste Mittel, um dieser Abwärtsspirale entgegenzuwirken. Was nicht nur zur grösseren Konformität von Filmstoffen und deren Gestaltung führte. Fortan hatte Hollywood auch die Deutungshoheit über das Thema ‹Skandale› inne, die Klaviatur der Eklats und Affären war nun beliebig bespielbar …

Freaks

Irving Thalberg galt in den 1920er-Jahren als eine Art Wunderkind unter den Produzenten. Er hatte bei Universal Erich von Stroheim den Geldhahn abgedreht, und als er 1924 zu MGM ging und erneut auf Stroheim traf, zog er wieder die Reissleine. Es war das erste Mal, dass sich ein Produzent derart rigoros gegen einen renommierten Regisseur durchsetzte, der zudem meist noch als Hauptdarsteller in seinen eigenen Filmen brillierte.

Im Bestreben, die noch nicht sanktionierten Regularien des Hays Code auszureizen und womöglich zu unterwandern, brachte besagtes Universal, diese Studiogründung des kreuzbiederen Carl Laemmle aus dem schwäbischen Laupheim, 1931 gleich zwei Verfilmungen von Bühnenadaptionen bekannter Horrorklassiker in die Kinos: Dracula unter der Regie von Tod Browning (Hauptrolle Bela Lugosi) und Frankenstein des schon erwähnten James Whale. Beeindruckt vom Erfolg beider Filme begab sich Thalberg ebenfalls auf die Suche nach einem geeigneten Stoff. Er stiess auf eine 1923 im Mystery Magazine veröffentlichte Kurzgeschichte mit dem Titel Spurs (Autor: Clarence ‹Tod› Robbins), kaufte die Rechte für 8000 Dollar und beauftragte Tod Browning mit der Regie. Browning war bei MGM schon einmal wegen seines Alkoholkonsums hinausexpediert worden, wurde nun aber für dieses Projekt, das fortan unter dem Namen Freaks firmierte, aus seinem Vertrag mit Universal herausgekauft. Auch weil er bekannt dafür war, Filme billiger zu realisieren, als es das Budget vorsah, weil er über Erfahrungen mit dem Zirkusmilieu verfügte und man ihm eine Vorliebe für obskure Stoffe nachsagte. Bereits 1916 hatte er mit dem Drehbuch für die relativ skandalfreie Sherlock-Holmes-Parodie The Mystery of the Leaping Fish die Branche aufhorchen lassen. Douglas Fairbanks spielt einen Detektiv namens Coke Ennyday (!), auf dessen Schreibtisch eine Büchse in Grösse einer Keksdose thront, versehen mit der Aufschrift ‹Kokain›.

Zur Genialität von Freaks gehört die Einfachheit seines Plots, der zugleich mit der Wucht einer griechischen Tragödie über den Zuschauer hereinbricht: Schauplatz der Geschichte ist ein Wanderzirkus, erzählt wird von dem mittels einer Erbschaft reich gewordenen Liliputaner Hans (Harry Earles), der sich in die hochgewachsene Trapezartistin Cleopatra verliebt, die ihn zwar heiratet, aber nur um ihn langsam zu vergiften und so an sein Vermögen zu gelangen. Eine Reihe von Nebenfiguren laden die Handlung mit Konfliktpotenzial auf: die ebenfalls kleinwüchsige Frieda, die Hans in wahrer Liebe zugetan ist, was dieser aber verblendet ignoriert. Der Eisenbieger Hercules, der eigentliche Liebhaber Cleopatras. Und schliesslich jene zahlreichen Darsteller, die man früher nur aus den ‹Side-Shows› grosser Zirkusdynastien wie Barnum & Bailey kannte und die despektierlich als ‹Freaks› tituliert wurden: mehrere Zwerge, ein siamesisches Zwillingspaar, ein Hermaphrodit, zwei Frauen ohne Arme, der Mann ohne Unterleib, ein Skelettmensch, die Frau mit Bart, ein lebender Torso sowie diverse ‹Pin-Heads›, Stecknadelköpfe, medizinisch und politisch korrekt Mikrozephale genannt.

Die Wahl dieses Personals evoziert zunächst eine wenig schmeichelhafte Erinnerung des Kinos an seine eigenen Anfänge in den Schmuddelecken der Varietés. Seit Karrierebeginn des Stummfilm-Mimen Lon Chaney (The Hunchback of Notre Dame, 1923; The Phantom of the Opera, 1925) wurde zudem die Maske zu einem konstituierenden Genremerkmal des Horrorfilms, zu einer tragenden Säule, um den Illusionscharakter des Unheimlichen zu perfektionieren (der diesbezügliche Höhepunkt ist dann die Arbeit des Maskenbildners Jack Pierce für Frankenstein).12 Freaks funktioniert bis kurz vor dem Finale nach ganz anderen Gesetzmässigkeiten. Es wird auf jede Maskerade verzichtet, die Entstellungen und Handicaps sind real und nicht herbeigeschminkt oder simuliert. Wie bei Stroheim ist hier das Beharren auf Authentizität untrennbar mit der Skandalisierung des Films verbunden – sein radikaler Anti-Illusionismus erweist sich als erster Stein des Anstosses. Dabei wechselt Browning beständig die Tonalität der Erzählweise. Stets aufs Neue werden wir wider Erwarten mit einem Familienepos konfrontiert: Da bekommt die Frau mit Vollbart ein Baby, der ganze Clan der ‹Kuriositäten› versammelt sich freudestrahlend anlässlich der Entbindung, während der stolze Vater, ‹The Skeleton Man›, Zigarren verteilt. Da verguckt sich eine der siamesischen Zwillinge (Daisy und Violet Hilton) in einen hoffnungslosen Stotterer, während die andere den neuen Verehrer öde findet und trotzdem den ausgetauschten Zärtlichkeiten nicht entrinnen kann. Der Hermaphrodit Joseph/Josephine lebt eine Zweierbeziehung mit sich selbst, und selbst Schlitzie, der Charmebolzen unter den ‹Pins›, ist empfänglich fürs Flirten. Zeitweise mutiert Freaks dann plötzlich zum reinen Attraktionskino. Etwa wenn der ‹lebende Torso› Prince Randian sich eine Zigarette ohne fremde Hilfe anzündet. Mit zunehmender Dauer wird aber aus dem gegen jede Konvention gebürsteten Familienepos zunächst ein aufwühlendes Melodram und letztlich ein extrem düsterer Horrortrip.

Es bleibt ein Rätsel, was Thalberg bewogen hat, dieses Projekt bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Schon die Dreharbeiten vom November und Dezember 1931 waren gespickt mit Schwierigkeiten. Fünf Script-Autoren werden verschlissen, weil die ausgearbeiteten Dialoge von Teilen der Darsteller nicht bewältigt werden können. Da sich kein Hotel in Hollywood findet, das Bereitschaft zeigt, diese seltsame Truppe aufzunehmen, muss man nach Culver City ausweichen und das Ensemble jeden Morgen per Bus aufs MGM-Studiogelände karren. In der dortigen Kantine wird diesem der Zugang verwehrt – unter anderem auf Intervention der Säufernase F. Scott Fitzgerald (The Great Gatsby, 1925), eines jener ‹egozentrischen Genies› von denen Chandler spricht, dem beim Anblick der ‹Freaks› der Appetit vergeht. Schliesslich wird auch Louis B. Mayer von diversen Seiten gedrängt, den Spuk zu beenden, was Thalberg mehrfach zu verhindern weiss. Freaks bleibt letztlich, was der Film von Anfang an war: ein Frontalangriff aus dem inneren Zirkel gegen die MGM-Studiopolitik. Mehr als jede andere Produktionsfirma in Hollywood hatte MGM konsequent auf Glamour und Starkult gesetzt («More stars than are in heaven»). 1934 waren über sechzig ‹Big Shots› unter Vertrag (Clark Gable, Myrna Loy, Greta Garbo, Jean Harlow, Judy Garland, Spencer Tracy, James Stewart etc.), die alle dem aufdringlichen Plüsch-Stil der Inszenierungen verpflichtet waren: opulente Ausstattung bis in kleinste Details, aufwendige Kostümierung, Besetzung auch unbedeutender Nebenrollen mit gewichtigen Namen, viele Grossaufnahmen, Weichzeichner, schmeichelndes Licht. Bezeichnenderweise hatten alle aus dieser ersten Garde wie etwa Jean Harlow eine Rolle in Freaks kategorisch abgelehnt, sodass man notgedrungen auf die zweite Liga zurückgreifen musste (wie auf Olga Baclanova, die Cleopatra verkörpert). Bester Film des Depressionsjahres 1932 wurde Grand Hotel, in dem Greta Garbo, John Barrymore, Joan Crawford und Wallace Beery schöne Menschen in schönen Kleidern und einem schönen Ambiente spielen, die bewegende, schöne und aufregende Geschichten durchleben. Ein grösserer Kontrast zu Freaks ist kaum denkbar. Mehr noch: Freaks wirkt wie eine gallige Farce auf diese MGM-Operettenwirklichkeit und lässt sich in der Schilderung moralischer Verkommenheit, seiner Kombination aus Raffgier und Mordlust auch als Parabel auf Hollywood lesen. Wobei übliche Gut-Böse-Schemata versagen: Wenn der reich gewordene Hans mit dicker Zigarre durch die Manege stolziert und seine Mitmenschen tyrannisiert, erscheint er wie eine Karikatur von Louis B. Mayer selbst, diesem Impresario aus der Alten Welt, der argwöhnisch über sein Kapital wacht.

Die beinahe einzigen Menschen, die Freaks in der ursprünglichen Version gesehen haben, waren am 28. Januar 1932 jene knapp dreitausend Premierenzuschauer im Fox Theatre in San Diego. Wobei Mayer schon vor dieser Uraufführung das Logo des MGM-Löwen aus dem Vorspann hatte entfernen lassen. Zeitgleich hatte Thalberg angeordnet, einen neuen Schluss zu drehen (in dem Frieda ihrem Hans den ‹Fehltritt› mit Cleopatra verzeiht). Das Presseecho ist verheerend. Die New York Times empfiehlt, den Film eher im Krankenhaus als im Kino zu zeigen. Die Einspielergebnisse in der ersten Jahreshälfte 1932 sind, vor allem in den Grossstädten, ausgesprochen dürftig. Als er im Juli in New York anlaufen soll, lässt die dortige Zensurbehörde dreissig der neunzig Minuten herausschneiden, dreissig Minuten, die bis heute weitgehend verschollen sind. Hauptproblem für MGM ist jedoch der Export: Kein Zensor im Ausland lässt den Film unbehelligt, er hat solche Startschwierigkeiten, dass er kaum Publikum findet. Allein in England bleibt er bis 1963 verboten. Im Sommer 1932 beläuft sich der Verlust auf zirka 164’000 Dollar, woraufhin MGM den Verleih einstellt.

Warum Freaks auf derartige Ablehnung stiess, bedarf noch eines genaueren Blicks. Eine Schlüsselsequenz des Films ist die Hochzeit zwischen Hans und Cleopatra, die einem Initiationsritus gleicht (untermalt von dem berühmt-berüchtigten Refrain: «Gooble, gobble! We accept you, one of us!»). Allerdings lehnt die Braut die Aufnahme in diesen ‹Orden› vehement ab, schreit betrunken ihre Verachtung heraus, lässt Hans auf ihren Schultern reiten und trägt ihn durch den Saal, was für ihn eine maximale Demütigung bedeutet. Er wird auf diese Weise infantilisiert, zum Kind gemacht, das man Huckepack nimmt und folglich seiner Männlichkeit beraubt, was Folgen hat. Denn Cleo, diese arische Riefenstahl-Schönheit, wirkt im Vergleich zu Hans selbst wie eine Phallusfigur. Die US-Filmwissenschaftlerin Susan Lurie hat sie als ‹phallic woman› charakterisiert, die nicht nur sexuell aktiv ist («She looks like a woman, performs like a man.»), sondern sich auch die Potenz ihres Gegenübers einverleiben will (sein Geld). Aus Sicht der männlichen ‹Zirkusattraktionen› – nur sie treten am Schluss noch in Erscheinung – bleibt als einzige Konsequenz, Cleos Sexualität zu neutralisieren: Da sie ein ‹überzeugenderer› Mann ist als Hans, muss sie auf sein Mass zurechtgestutzt werden. Das Finale von Freaks ist somit eine monströse Kastrationsfantasie: Mit Messern rücken sie Cleo zu Leibe und machen aus ihr das, was sie selbst sind. Übrig bleibt eine Frau ohne Unterleib, ausstaffiert mit Federn, eine ‹Duckwoman›, ein Vogelwesen, das wie alle seiner Art über keinen Phallus verfügt, sondern nur über eine Kloake. Dazu passt eine Sequenz, die heute nicht mehr existiert. Auch der Muskelprotz Hercules wurde von den ‹Freaks› kastriert. Kurz vor Ende tritt er auf und singt mit einer hohen Sopranstimme. So grausam das Finale, so mutig der Film: Denn Browning macht körperliche Deformation nicht zum Ausschlusskriterium für Sexualität, vielmehr koppelt er Entstelltheit und Begierde, zeigt, dass beide in eins gehen als wesentliche Elemente personaler Identität von Menschen, die hier in keine Rolle schlüpfen, sondern sich auf der Leinwand selbst darstellen.

Kong

Kurz vor der endgültigen Installation des Hays Code 1933/34 wird Hollywood noch einmal von einem unerwarteten Kontrollverlust erschüttert, resultierend aus einer kompletten Überforderung des damaligen Publikums. Freaks gehört – wie etwa auch Fritz Langs M – zu jener Art von Filmen, die das kollektiv Unbewusste ihrer Zeit so antizipieren, dass sie als Vorausahnung einer kommenden Katastrophe gedeutet werden können (nicht zufällig tragen die beiden Protagonisten Hans und Frieda deutsche Vornamen). Ähnliches gilt für eine weitere Produktion des 1933er-Jahrgangs, wobei King Kong (Regie: Merian C. Cooper/Ernest B. Schoedsack) sich zu einem Kassenschlager entwickelte, das Studio RKO vor dem Ruin rettete und von der Zensur weitgehend unbehelligt blieb, weil er zu jener Kategorie Film zählt, deren Skandalpotenzial sich erst Dekaden später offenbart.

Es sind nur kurze Einstellungsfolgen, die der Schere zum Opfer fielen. Etwa wenn Kong zwei Finger unter das Röckchen der weissen Frau (Fay Wray) wandern lässt und anschliessend genüsslich an diesen riecht. Wie bei Freaks so sind auch bei King Kong die sexuellen Assoziationen Programm und ein Beleg dafür, dass zu Beginn der 1930er-Jahre US-Regisseure sich zunehmend politisieren und in eine symbolisch aufgeladene Bildsprache flüchten. Warum das Drama um den Riesenaffen und seine ‹verbotene Liebe› so wenig Anstoss erregte, bleibt erstaunlich und hat wahrscheinlich viel mit der emotionssteuernden, symphonischen Musik Max Steiners zu tun. Behandelt wird schliesslich nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte der Sklaverei sowie deren sozialpsychologischen Implikationen, womit die sexuelle Paranoia der weissen Mittel- und Oberschicht bezüglich der angeblich ‹tierischen› Potenz der Farbigen gemeint ist. Schon bei seiner Gefangennahme kommt man nicht umhin, in Kong einen ans Kreuz genagelten schwarzen Phallus zu sehen. In Ketten gelegt und auf ein Schiff verfrachtet, wird er übers Meer nach New York verschleppt, um in einem grossen Varietétheater zur Schau gestellt zu werden (sozusagen der Letzte der ‹Freaks›). Nach seiner von Strassenschlachten begleiteten Flucht erklimmt er, das Objekt seiner Begierde fest im Griff, das phallische weisse Herrschaftszeichen schlechthin, das Empire State Building. Am Schluss obsiegt mittels Waffengewalt die weisse über die schwarze Potenz. Vollzogen wird damit die Auslöschung einer vermeintlich animalischen Sexualität, die in Wahrheit nichts weiter darstellt als eine Projektion des puritanisch verklemmten, patriarchalisch dominierten Bürgertums in Amerika. Das Motiv der Kastration verweist dabei metaphorisch auf die Beschneidung filmkünstlerischer Ausdrucksformen und sozialkritischer Untertöne durch die Zensur. Denn wer will schon Filme drehen, die am Ende als Eunuchen über die Leinwand huschen.

Insbesondere James Whales Bride of Frankenstein gilt als Abgesang auf die auf Reproduktion angelegte Institution der bürgerlichen Ehe und entlarvt mittels der Figur der Braut die Lebenslüge vom Primat heterosexueller Beziehungen.

Raymond Chandler, «Schriftsteller in Hollywood», in: Chandler über Chandler. Briefe, Aufsätze, Fragmente, Frankfurt am Main/Berlin 1965, S. 94; zit. nach: Günter Peter Straschek, Handbuch wider das Kino, Frankfurt am Main 1975, S. 91.

Dieter Prokop, Soziologie des Films, Frankfurt am Main 1982, S. 59.

William Randolph Hearst (1863–1951) war seit Anfang des 20. Jh. Besitzer der grössten Zeitungskette in den USA. Er gilt als Vorbild für die Hauptfigur in Orson Welles’ Citizen Kane (1941).

Zit. nach: Kenneth Anger, Hollywood Babylon, Frankfurt am Main/München 1985, Bd. 1, S. 30.

Bernhard Roloff/Georg Seesslen, Klassiker der Filmkomik, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 45.

Jean Renoir, «Erich von Stroheim», in: Maurice Bessy, Erich von Stroheim. Eine Bildmonographie, München 1985, S. 204.

Ulrich Gregor/Enno Patalas, Geschichte des Films, Reinbek bei Hamburg 1982, Bd. 1, S. 128.

Photoplay, März 1922, zit. nach: Ulrich/Patalas (wie Anm. 8), S. 129.

Norbert Grob, «Ein freier Mann», in: Die Zeit (11.2.1994), https://www.zeit.de/1994/07/ein-..., zuletzt besucht am 1.7.2019.

Prokop (wie Anm. 3), S. 176.

Bis 1929 hatte Browning acht Filme mit Chaney inszeniert, darunter The Unholy Three über ein kriminelles Artistentrio, in dem Harry Earles bereits einen bemerkenswert skandalösen Auftritt hinlegt (der allerdings der Zensur zum Opfer fiel): Als ein Schulmädchen den Kleinwüchsigen für ein gleichaltriges Kind hält und zum Spielen auffordert, kriegt der einen Wutanfall und stranguliert das arme Balg.sich nicht gescheut, unbequeme Rollen anzunehmen und für ein anderes Frauenbild zu kämpfen.

Thomas Basgier
*1960, Studium der Germanistik und Kunstgeschichte mit Schwerpunkt auf der wissenschaftlichen Aufarbeitung früher Texte der deutschen Kinogeschichte. Langjährige Tätigkeit als Filmjournalist und Publizist; Kurator und Programmgestalter für diverse internationale Festivals in Japan, Russland, Niederlande, Portugal, Deutschland, Schweiz etc.; Gastdozentur an Kunsthochschulen unter anderem zur Geschichte des Animationsfilms sowie am Filmwissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich (zu Themen wie Slapstick, Ästhetik des Horrorfilms, Tabubruch im Kino).
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]