Mit – und teilweise bereits vor – der Coronakrise haben die Kinos in der Schweiz, aber auch in vielen anderen Ländern immer mehr begonnen, ‹Sofakinos› und Film-Streaming via ihre Website in Zusammenhang mit Streaminganbietern anzubieten. Die Trennlinien zwischen dem bisherigen klassischen Angebot eines Kinos – den Vorführungen in (physischen) Sälen für ein analoges Publikum – und den digitalen Services von (vielen auch sehr jungen) Plattformen wie Cinefile, Filmo, Filmingo, MyFilm, Playsuisse, Netflix, Disney u.v.a.m. werden dadurch zusehends verwischt. Wie sieht die Einschätzung der Situation aus dem Blickwinkel der Filmbranche, von Filmschaffenden, Kino- und Streamingplattformen-Betreibenden auf die rasanten Veränderungen aus? Welche Vorteile oder Gefahren birgt die Auflösung der bisher selbstverständlichen Abgrenzungen in der Auswertung – und wie verändert sich das Rezeptionsverhalten des Publikums? Was bedeutet es für einen Filmautor, eine Filmautorin, sein bzw. ihr neues Werk nicht im Kino starten zu können? Die Filmautorin Barbara Kulcsar, Andreas Furler von der Streamingplattform Cinefile, der Produzent und Filmregisseur Frank Matter und Frank Braun von der Neugass Kino AG äussern sich in diesem Gespräch, das Mitte Juni 2021 online per Zoom geführt wurde, über die Chancen, Vor- und Nachteile hybrider Aktivitäten in der Filmauswertung, ihre ersten Erfahrungen mit den neuen Möglichkeiten der Kombination von Streaming und Kinostart und die Herausforderungen für die Schweizer Filmpolitik und -förderung.
Frank Braun, Jahrgang 1965, seit 1990 Kinomacher, Mitbegründer des Kino Riffraff in Zürich, Leiter Programm und Mitglied Geschäftsleitung der Neugass Kino AG, zu der neben dem Riffraff auch das Houdini (Zürich) und das Bourbaki (Luzern) gehören. Mitte der 1990er Jahre lancierte er das Animationsfilmfestival Fantoche in Baden. Gemeinsam mit Claudius Gentinetta hat er mehrere Animationsfilme realisiert, zuletzt: ISLANDER’S REST (18 min.), 2015. Für seinen Einsatz für den Film und Kinos wurde er mit dem Prix d’honneur der 56. Solothurner Filmtage 2021 ausgezeichnet.
Barbara Kulcsar, Filmregisseurin und Drehbuchautorin, geboren 1971 in Zürich, Besuch der Schauspielschule in Budapest, Studium spanischer Literatur in Barcelona sowie Soziologie und Filmwissenschaften an der Universität Zürich. Filmstudium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Filmografie (nur kleine Auswahl): ZU ZWEIT. Kinospielfilm, 2010, ausgezeichnet mit dem Zürcher Filmpreis; NEBELGRIND, Fernsehfilm, 2012; ZWIESPALT. Fernsehfilm, 2017; REBLAND. Tatort, 2020; NEUGEBOREN. Tatort, 2021.
Andreas Furler, Jahrgang 1961, Gründer und stellvertretender Geschäftsführer der Plattform Cinefile, die sowohl aktuelle Kinofilme wie auch Klassiker und Dokumentationen zum Streamen anbietet. Er schrieb als Filmkritiker für die NZZ, war anschliessend beim Tages-Anzeiger für das Filmressort verantwortlich und wurde 2000 für 13 Jahre Co-Leiter des Filmpodiums in Zürich. Bei Trigon-Film war er bis 2016 im Bereich Programm und Ankäufe tätig, bevor er 2018 Cinefile gründete; vgl.cinefile.ch
Frank Matter, Filmregisseur, Produzent, Jahrgang 1964, arbeitete als freischaffender Journalist und Reporter für Zeitungen und Magazine. Ab 1993 lebte und arbeitete er in Brooklyn/New York als Reporter, Regisseur und Filmtechniker. 2006 kehrte er nach Basel zurück, wo er heute lebt. Er ist Inhaber der Filmproduktionsfirma soap factory GmbH (u.a.: NEL GIARDINO DEI SUONI, GROZNY BLUES, THOMAS HIRSCHHORN – GRAMSCI MONUMENT) und realisiert Spiel- und Dokumentarfilme. Filmografie (eigene Filme): VON HEUTE AUF MORGEN. Kinodokumentarfilm, 2013; PARALLEL LIVES. Kinodokumentarfilm, 2021; vgl. vgl.http://www.soapfactory.ch
Eine kurze erste Momentaufnahme: Wie schätzt ihr die aktuelle Situation für die Filmauswertung und Kinos in der Schweiz kurz nach dem zweiten Lockdown ein?
Frank Braun: Wir kommen erst gerade aus dem zweiten Lockdown, der doppelt so lang wie der erste war – und wir sind erleichtert, dass es weitergeht. Die Leute kommen wieder in die Kinos, sogar in vermehrtem Masse als nach dem ersten Lockdown. Das ist sehr erfreulich. Dennoch brauchen und beanspruchen wir aber noch die stützenden Covid-Massnahmen in Form von Kurzarbeit und Ausfallentschädigungen, und wir fragen uns, wie es in zwei Jahren aussehen wird: Werden die Publikumszahlen jemals wieder das Vorpandemie-Niveau erreichen? Wir müssen uns heute wappnen, um auf Dauer auch mit tieferen Umsätzen wirtschaftlich bestehen zu können. Ohne verstärkte Subventionierung der Kinos wird dies nicht gehen.
Frank Matter, du hast heute als Produzent mehrere Filme am Start – wie sieht dein Blick auf die heutige Situation aus?
Frank Matter: Wir sind auch sehr erleichtert, dass es jetzt weitergehen kann – denn die letzten Monate waren alles andere als eine einfache Zeit. Die Kinostarts von I'll be your mirror von Johanna Faust (CH 2019) und Arada von Jonas Schaffter (CH 2020), die wir mit soap factory produziert haben, mussten ein ganzes Jahr geschoben werden – und dann durften wir die Vorpremieren wegen der Covid-Massnahmen nur mit kleinem Publikum durchführen. Bei anderen Filmen fanden die Festivalpremieren nur online statt. Das ist natürlich ein Frust für die Regisseure, wenn kaum Kontakt mit dem Publikum möglich ist. Die Filmwelt – gerade auch die Festivals und die Kinolandschaft – veränderte sich ohnehin schon rasant, doch die Pandemie hat eine noch schnellere Veränderung bewirkt, als noch vor zwei Jahren absehbar war; ich denke, dass zum Beispiel auch bei den Festivals Streaming und hybride Formen bleiben werden. Das bietet uns neue Möglichkeiten, aber auch grosse Herausforderungen.
Wie sieht die heutige Situation aus deinem Blickwinkel als Regisseurin aus, Barbara Kulcsar?
Barbara Kulcsar: Wenn man nicht auf Kino fixiert ist, ist das jetzt ein sehr dynamischer Moment. Es gibt mehr Möglichkeiten, Platz zu finden für Film-Geschichten, die man erzählen will. Und auch, um eine Finanzierung zu finden. Nach mehreren Fernsehfilmen beginne ich aber ausgerechnet in diesem Jahr wieder, an einem Kinospielfilm zu arbeiten. Der ist für die grosse Leinwand geplant, und wenn ihn am Ende alle auf dem Laptop anschauen, ist das schon eine schreckliche Vorstellung – auch wenn den Film natürlich so viele Leute wie möglich sehen sollen …
Andreas Furler, für eure noch junge Plattform kam die Pandemie in dem Sinne gerade richtig; wie gross ist der Zuwachs an Kundinnen und Kunden bei Cinefile?
Andreas Furler: Im ersten Lockdown war der Schub extrem, wir sind nach Beginn der Pandemie auf die Landkarte von vielen Leuten gekommen, die uns entdeckten und Filme bei uns zu streamen begannen. Im Mai/Juni 2020 herrschte bei uns Euphorie – doch die brach im Sommer dann wieder zusammen. Wir mussten feststellen, dass die saisonalen Schwankungen im Streamingplattform-Bereich noch heftiger als in den Kinos sein können. Und uns ging langsam der Stoff aus, weil wegen der Pandemie viel weniger neue Filme mehr lanciert werden konnten. Der zweite Boom kam für uns im Winter 2020/21 – jetzt steht wieder der Sommer an, wir werden sehen.
Dazu kommen die Lockerungen in den letzten Wochen und Tagen, die Wiederöffnung der Kinos: ein doppelter Effekt für Cinefile?
Andreas Furler: Ja, es gab auch vereinzelte Kündigungen von Abonnements mit der Begründung, dass man jetzt wieder ins Kino kann. Aber wir beobachten dennoch, dass sich viele in den letzten Monaten daran gewöhnt haben, zweigleisig zu fahren, also Kino und Streaming zu kombinieren. Streamen ist für sie eine Option, wenn sie einen Film sehen wollen, den sie nicht so sehr als Event empfinden – oder wenn sie auch einmal einen Film bequem zu Hause konsumieren möchten. Wir haben kürzlich eine Umfrage gemacht, und die hat gezeigt: Auch die Kombination von Streamingdiensten ist gängig geworden. Die meisten unserer Kundinnen und Kunden haben mehr als einen Streamingdienst abonniert, z.B. neben Cinefile, das im Streamingmarkt ein Nischenprodukt ist, auch noch Netflix, oder andere Anbieter.
Frank Braun, ihr bietet auf den Kinowebsites der Neugass Kino AG in Zusammenarbeit mit Cinefile das Streaming von Filmen an. Wie sieht euer Konzept dazu aus?
Frank Braun: Wir sind von den Streaming-Möglichkeiten nicht überrumpelt worden, sondern nur von der Pandemie – denn wir haben ein Streamingangebot schon Jahre zuvor parallel zum Kinobetrieb aufgebaut und sind eine Partnerschaft mit Cinefile eingegangen. So konnten wir beim ersten Lockdown das Streamingangebot stärker in den Vordergrund stellen und intensivieren. Auf diese Weise prolongierten wir z.B. den Film Mare von Andrea Štaka (CH/HR 2020), der kurz vor dem ersten Lockdown seinen Kinostart hatte, im Streaming. Wie bei Mare haben wir regelmässig zu Filmneuheiten ‹Spotlights› mit weiteren Filmempfehlungen auf einer Subdomain von Cinefile editiert und sie über unsere Kanäle dem Publikum mitgeteilt. Die Pandemie hat uns bezüglich Streaming noch flexibler und offener gemacht. Wir haben neben der Kooperation mit Cinefile weitere virtuelle Kino-Ideen verfolgt und ausprobiert. In kurzer Zeit sind gerade von kleineren Verleihern Auswertungsmodelle entwickelt worden, um exklusiv via Kino-Portale Filme online zu lancieren. Auch wenn unser Streaming-Angebot für uns bisher finanziell nicht aufgeht: Es wird für uns immer wichtiger, unserem Publikum auch ausserhalb des Kinosaals Filme zugänglich machen zu können.
Wie sieht die Auswahl- und Programmierungs-Strategie der Cinefile-Plattform, die mehrheitlich auf anspruchsvolle Filme setzt, in dieser neuen Landschaft aus?
Andreas Furler: Unsere Idee ist, die Nische des Arthouse-Filmschaffens möglichst gut zu bewirtschaften. Der filmhistorische Bereich würde uns auch interessieren, aber da ist die Rechtesituation anspruchsvoll und die Garantien und Abkommen mit Libraries noch zu weit entfernt von unseren finanziellen Möglichkeiten. Unsere Idee ist auch, das Arthouse-Angebot mit stärkeren, grösseren, gehobenen Unterhaltungsfilmen, wofür u.a. das Repertoire von Ascot Elite in der Schweiz stehen kann, zu durchsetzen – sofern wir an diese herankommen. An Majors heranzukommen, ist nicht einfach, weil sie eigentlich nur ganz grosse Deals machen, und auch nicht in der Schweiz, sondern in London oder L.A..
Welche Überlegungen macht ihr euch, Barbara Kulcsar und Frank Matter, als Filmregisseur_in in der heutigen Situation in Bezug auf die Aufgleisung neuer Projekte?
Barbara Kulcsar: Wenn ich ein Projekt pitche, für das ich eine Finanzierung erreichen will, löst sich für mich die Trennlinie zwischen Kino, Fernsehen und Streaming teilweise auf. Inhaltlich und in Bezug auf die Auswertung werden andere, auch mutigere Projekte möglich. Ich empfinde es als befreiend, da weniger kategorisieren zu müssen. Es geht letztlich immer um eine gute Geschichte – und für diese den besten Rahmen zu finden.
Frank Matter: Grundsätzlich stimme ich Barbara Kulcsar bei, dass es durch die vielen Veränderungen neue Möglichkeiten gibt, Geschichten anders zu erzählen und sie in verschiedenen Formaten umzusetzen. Es ist für uns Filmschaffende eine Chance, dass es jetzt mehr Plattformen gibt und neue Kanäle, die Filme auszuwerten, auch z.B. für serielle Formate oder Kurzdokformate. Sie ermöglichen einem Film ein längeres Leben, und man erreicht ein Publikum auch in Gegenden, wo es nicht viele Kinos für Arthouse-Filme gibt. Doch es gibt auch Herausforderungen: Ein Tatort wird eh breit wahrgenommen, aber wir arbeiten ja mit Nischenprodukten. Die kleinen Filme laufen eher Gefahr, dass sie im Massenangebot des virtuellen Raumes untergehen und verschwinden. Wir brauchen das Kino, um mit Ereignissen auf einen Film aufmerksam zu machen. Durch eine Vorpremiere mit Diskussion wird ein Film in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen, die Medien berichten über Veranstaltungen, öffentliche Diskussionen. Dazu kommt die Präsenz eines Films im städtischen Raum und im Kino als sozialem Ort. Aber Streaming ist natürlich eine tolle Möglichkeit, auch ausserhalb der Kinos ein Publikum zu finden und dadurch gerade auch international neue Märkte zu erreichen. Für mich als Regisseur ist das Kino auch aus psychologischen Gründen wichtig: Seit die Säle wieder offen sind, bin ich zu zahlreichen Vorpremieren unserer Filme gereist, von Kino zu Kino, und ich habe dabei nach einem Jahr Kinopause eindrücklich erlebt, dass die direkte Auseinandersetzung mit einem Saalpublikum einen viel substanzielleren Austausch und auch eine bessere Vernetzung ermöglicht als ein Online-Screening. Nach der Online-Premiere meines neuen Films Parallel Lives (CH 2021) in Nyon erhielt ich ein paar wenige Mails mit Reaktionen, aber das ist natürlich nicht dasselbe, wie wenn man in einem Saal die Stimmung spürt und miterlebt, wie ein Film funktioniert, und danach vor Ort zahlreiche Gespräche führt; daraus lernt man viel.
Frank Braun: Das ist unbestritten so. Da erfüllen die Kinos eine ähnliche Funktion wie Filmfestivals. Doch Kinos leben nicht von «Events» alleine. Wir fragen uns vielmehr, wie das Kino nach wie vor als Alltagsangebot bestehen kann, ob ein Film täglich oder gar mehrmals täglich gezeigt werden kann, mit genug hohen Publikumsfrequenzen, die den Betrieb finanzieren. Das war schon immer die Herausforderung. Aber zum jetzigen Zeitpunkt umso mehr. Wird das Publikum bei einem ausgebauten Streaming in der Mehrheit abwandern? Das glaube ich nicht. Wir wissen nicht, wie lange diese Pandemie noch dauert, wie gross die Flurschäden schlussendlich sein werden und ob sich neue Auswertungsformen entwickeln, die man jetzt noch gar nicht kennt.
Wie interessant ist es für Cinefile, Zweitverwerter zu sein?
Andreas Furler: Das ist eine zweischneidige Angelegenheit. Durch das Kino wird ein Film bekannt; ein Film, der keine Kinolaufbahn hatte, hat es viel, viel schwerer, sich auch online durchzusetzen. Insofern sind wir gerne in der Position 2. Die Kaskade von Filmpreisen für den Film Schwesterlein von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond (CH 2020) hat auch einen Push im Streaming bewirkt. Wenn solche Ereignisse und der Streaming-Start zeitlich zu weit auseinanderliegen, wird ein Film oft nicht wirklich erfolgreich wahrgenommen. Indessen könnten Hybridstarts ein gängiges Modell für Schweizer Filme werden, das muss die Erfahrung zeigen. Bei internationalen Filmen hingegen sind sie wegen der Sperrfristen für bestimmte Nutzungsarten keine Option, weil Filme zeitlich dann nicht vorgezogen werden können.
Frank Braun: Ja, die Erfahrungen sind nicht eindeutig. Ein Beispiel ist aktuell der Film Wanda, mein Wunder von Bettina Oberli (CH 2020), der zeitgleich in den Kinos und online verfügbar ist. Für Milo Raus essayistischen Dokumentarfilm Das neue Evangelium (DE, CH 2020) setzte der Verleih Vinca Film das Startdatum auf Ostern 2021, und als der zweite Lockdown anhielt, startete er trotzdem wie vorgesehen – wenn auch nur im Streaming. Rund drei Wochen später kam der Film dann auch in die Kinos – mit gutem Resultat. Dann gab es ausländische Filme, die während des Lockdowns bereits international und auch in der Schweiz ohne Geoblocking gestreamt werden konnten. Einige haben wir im Herbst 2020 mit rund zwei Monaten Verspätung ins Kinoprogramm genommen, und das Publikum ist trotzdem gekommen. Die Frage: Kino vor – mit – oder nur Streaming? ist längst ein Politikum. Die verbreitete Branchenmeinung, wonach der Primeur-Status bzw. die Erstauswertungsfenster des Kinos geschützt werden müssen, als protektionistisch abzutun, greift zu kurz. Der Kinostart ist die Initialzündung für das Leben eines Films. Mit ihm werden die längerfristigen Geschäftsfelder wie das Streaming erst richtig belebt und sind darum im ureigensten Interesse der Streaminganbieter. Auch wenn Netflix & Co. durch ihre Dominanz in der Regel aufs Kino pfeifen – ich wünsche mir, dass es vermehrt möglich wird, auch jene Filme im Kino zeigen zu können, die von den grossen Streamern ‹weggekauft› werden.
Was muss in Bezug auf Schweizer Filme in der aktuellen Situation auf der Ebene der Filmpolitik geschehen?
Frank Braun: Die Pandemie hat zweifellos dem virtuellen Filmkonsum einen Schub beschert. Aber es hat gleichzeitig vielen die Ahnung einer Welt ohne Kinos vorgeführt und das Verlangen nach dem ‹analogen› und sozialen Erlebnis verstärkt. Die Wertschätzung der Kinokultur ist durch die Pandemie jedenfalls nicht geschmälert worden; eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Sollte die Kinokultur weiter gefährdet sein, ist ein politischer Wille gefragt, der rechtzeitig und geschickt Stützungsmassnahmen ermöglicht, um ein Implodieren der Schweizer Kinolandschaft abzuwenden. Man muss jetzt unbedingt das Ganze im Auge behalten. Die Erlösung liegt nicht im Streaming allein. Ohne die Koexistenz mit dem Kino verliert es seinen Treiber. Und bricht das Kino weg, erhält die gesamte Filmbranche derart Schlagseite, dass auch die Produktion und das gesamte Auswertungssystem ins Schleudern kommen.
Andreas Furler: Auf Cinefile können wir einem Film ein zweites und vor allem ein langes Leben geben. Uns zwingt nichts, einen Film abzusetzen, weil er wenig Publikum hat; er kann in unserer Library bleiben, die Kosten dafür sind gering. So kann man immer wieder einen Anlauf nehmen, um auch ältere Filme in einem Themenzusammenhang zu pushen und den Film wieder ins Bewusstsein zurückzurufen.
Frank Matter: Die Umwälzungen und Entwicklungen müssen auch in einem breiteren kulturellen Zusammenhang betrachtet werden. Die Sehgewohnheiten verändern sich, die Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer, und es gibt generell gerade in Schweizer Städten ein riesiges kulturelles Konkurrenzangebot. Diese Umwälzungen sind für uns gesamthaft als Produzierende noch die viel grössere Herausforderung als allein die Auswertung. Kino und Streaming-Möglichkeiten müssen in ein gutes Verhältnis kommen und koexistieren können, das finde ich wichtig, denn die reale Interaktion ist wertvoll und aus meiner Sicht nicht ersetzbar. Aber es sind auch neue Erzählformen nötig, die veränderte Auswertungsmodelle berücksichtigen oder erfordern. Auch die Förderpolitik wird sich wohl stark ändern – denn sie ist heute noch sehr auf den klassischen Kinofilm ausgerichtet. In der Schweiz werden immer mehr Filme produziert, aber es wird wohl immer weniger Kinos geben, die sie zeigen; da besteht ein Ungleichgewicht. Auf förderungspolitischer Ebene muss man darauf achten, dass nicht nur die Produktion von Filmen unterstützt wird, sondern dass auch die Auswertung und die Promotion weiter gestärkt werden.
Barbara Kulcsar: Nichts kann das Kino ersetzen. Auch unsere Kinder haben es in den Lockdowns stark vermisst. Und es ist wichtig, dass man das weitergeben kann. Ich wünsche mir, dass in der Förderung Breite und Vielfalt beibehalten werden – dass also nicht einmal nur noch Serien im Fokus stehen, dann wieder nur Kinofilme. Jede Art filmischer Erzählung soll nach wie vor ihren Platz haben und nicht unter den Tisch fallen, weil man gerade einem Trend nachrennt.
Das Succès Cinema-Fördersystem berücksichtigt seit letztem Jahr neu auch Festivaleintritte und VoD-Abrufe von Filmen online. Wie sieht das für euch in der Praxis aus?
Frank Braun: Organisatorisch-technisch ist das noch nicht so ideal automatisiert mit den VoD-Meldungen. Aber grundsätzlich befindet sich das auf gutem Weg.
Andreas Furler: Dieses Förderinstrument ist vorläufig streamenden Kinos vorbehalten. Wir selbst können als Streaminganbieter nicht von diesem Förderinstrument profitieren, das ärgert uns natürlich. Plattformen wie myfilm hingegen, die von einem Kino betrieben werden, dürfen das. Aber unsere Kinopartner machen ihre Anträge für die Förderung, das funktioniert.
Frank Matter: Das Succès-Cinema-System ist an Bedingungen geknüpft – ein Online-Screening muss zum Beispiel, so wie ich es verstehe, einem Kino zugeordnet werden können. Für uns Produzenten und Regisseure zählen die so verzeichneten digitalen ‹Eintritte› für die Gutschriften, und das ist sehr wichtig.