BETTINA SPOERRI

PARALLEL LIVES (FRANK MATTER)

Was, wenn ich woanders unter ganz anderen Umständen geboren worden wäre? Diese existentielle Fragestellung bildet den Kern des Dokumentarfilms von Frank Matter und wird zum Ausgangspunkt einer geografisch weit ausgreifenden Reflexion. Einst schrieb er einen Brief an die NASA, um sich als Astronaut zu bewerben, und suchte den Kontakt zur Tochter der russischen Kosmonautin Valentina Tereshkova, welche am selben Tag wie er selbst geboren wurde: am 8. Juni 1964.
 
Yelena reagierte nicht auf seine Anfrage. Das Nachdenken über die Koinzidenz eines bestimmten Geburtsdatums bei gleichzeitig vollkommen unterschiedlichen Existenzbedingungen irgendwo auf der Welt liess Frank Matter jedoch nicht mehr los. Vor dem Hintergrund seiner Frage, wie und warum er der geworden ist, der er ist, ging er auf die Suche nach ‹Geburtszwillingen› – Menschen, die an jenem Juni-Tag 1964 wie er geboren wurden – und wählte vier Protagonisten für sein Projekt aus: einen in Paris aufgewachsenen, nach L.A. ausgewanderten Modedesigner, der drogenabhängig wurde, einen Chinesen im Wirtschaftsboom aus einer während der Kulturrevolution verfolgten Familie, eine Südafrikanerin, deren Träume sich seit Ende der Apartheid nicht erfüllt haben, und eine Amerikanerin, die noch immer mit den Auswirkungen einer rigorosen Erziehung in ihrer Kindheit kämpft.
 
Die Konstellation dieser zwei Frauen und zwei Männer erweist sich, je enger der Film sein narratives und motivisches Netz webt, als Fokus auf die Geschichte der 1960er-Generation, aber auch als Selbstbespiegelung des Filmautors in vielen Facetten. Geprägt von der Sprengkraft der Jugendbewegung und dem Aufbruch einer neuen Widerstandskultur, wurde er zum Globetrotter, besuchte Paris und Berlin, bereiste China, viele Orte in Asien und Nordafrika, reiste als Journalist in den Westen und Osten der USA, wo er schliesslich mehrere Jahre in New York verbrachte. Die persönlichen Themen seines Lebens verbindet er auf handwerklich geschickte und intelligente Weise mit grundlegenden Wendepunkten des 20. und 21. Jahrhunderts, indem er sie in ein breites Spannungsfeld politischer, sozialer und psychologischer Momente setzt: den konvergierenden Modellen von Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus, dem Kampf für Freiheit, Gleichberechtigung, Selbstermächtigung, der individuellen Emanzipation vor dem Hintergrund der Familiengeschichte. Es ist einem sorgfältigen Editing zu verdanken, dass der Film diesen anspruchsvollen inhaltlichen Spagat elegant meistert. Dabei schafft der Filmautor Distanz zu sich selbst, indem er den Schauspieler Stefan Kurt als sein Alter Ego sprechen lässt. Archivbilder historischer Umbrüche und biografische Momentaufnahmen verbindet er mit den Begegnungen mit den Protagonisten über einen längeren Zeitraum, in dem Entwicklungen, Stagnationen und Verwerfungen sichtbar werden. Das Resultat ist eine anregende Reise durch Brenn- und Wendepunkte eines halben Jahrhunderts, die jeden und jede mit sich selbst konfrontiert.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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