BETTINA SPOERRI

DER AST, AUF DEM ICH SITZE – EIN STEUERPARADIES IN DER SCHWEIZ (LUZIA SCHMID)

«Wie viele Firmen hatten wir?», fragt Luzia Schmid ihre Schwester, und diese meint, sie wisse das nicht genau, aber sie vermute so zwischen 20 bis 40. Das ist einer der bezeichnenden Momente in diesem Dokumentarfilm, der das oft abstrakt verhandelte Thema Steuerhinterziehung, Machenschaften globaler Konzerne und die Schweiz als fette Profiteurin mittendrin von einer persönlichen Ebene angeht. Mit den Firmen sind die Briefkastenfirmen gemeint, die der Vater als Treuhänder in Zug vertrat. Luzia Schmid, 1966 in Zug geboren, erlebte zu Hause als Kind selbst mit, wie sich der Ort von einem verschuldeten zu einem prosperierenden Städtchen entwickelte und zu einem Magnet für internationale Firmen wurde – Glencore, einst als Marc Rich + Co gegründet, ist nur eine von ihnen. ‹Steuerruhe› heisst hier das Einfrieren der Steuersätze auf tiefem Niveau. Die Filmemacherin, ehemalige Moderatorin und Redaktorin beim Schweizer Fernsehen, lebt heute in Köln, und mit der Distanz beginnt sie Fragen zu stellen: Wie ist meine Familie zu Reichtum gekommen – und auf wessen Kosten?
 
Das Besondere dieses Films ist sein beinahe intimer Blick in eine Zuger Familie, die seit vielen Jahrzehnten direkt von einem absurden Steuer- und Wirtschaftssystem profitiert. Der Vater und die Mutter, die Schwester Andrea-Hodel Schmid, Anwältin und ehemalige FDP-Fraktionschefin, erzählen vor der Kamera, und auch Luzia Schmid selbst nimmt sich von der kritischen Befragung nicht aus. Indes, auch wenn da und dort zwar ein skeptischer Satz bei den Interviewten aufblitzt – letztlich neigen sie noch so gern zu Verharmlosung und Unschuldsgefühl. Diese Haltung teilen sie mit u.a. dem Lehrer und CVP-Politiker Gerhard Pfister, der fragt: «Wer hat denn eigentlich nicht profitiert?», und das rein rhetorisch meint. Auch der FDP-Politiker Georg Stucky, der als Regierungsrat zahlreiche Steuersenkungen bewirkte und als Jurist für die Erdölindustrie eintrat, verteidigt die Zuger Strategie. Ihnen halten der SGA/ALG-Politiker Hansjörg Uster, der deutsche Steuerfahnder Norbert Walter-Borjans und die Volkswirtschaftlerin Twivwe Siwale aus Sambia entgegen, welche die Kehrseite des Reichtums in Zug aufzeigen: Ungerechtigkeit und anhaltende Ausbeutung.
 
Obwohl dieser Film ein brisantes Thema aufnimmt, auf dessen Bearbeitung man im Schweizer Filmschaffen lange warten musste, ist er aus zwei Gründen leider nicht zu einem herausragenden Werk geworden. Zum einen liegt dies an der mangelnden Aufnahmequalität mancher Interviewszenen in Zug. Zum anderen wird die persönliche Perspektive des Films zur Gratwanderung zwischen Familienbündnis und Aufklärung. Die Interviewerin ist letzten Endes doch wieder zu versöhnlich und lässt manche Fragen, die unbedingt gestellt werden müssten, aus. Die von ihr selbst aufs Korn genommene eigene Naivität bleibt teilweise bis zum Ende bestehen. Insofern sehen wir einen Film, der ein Spiegel der Verhältnisse ist, in denen alle, soweit für sie nötig, Störendes im Raum stehen lassen.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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