NOEMI DAUGAARD

BÉKEIDŐ (SZABOLCS HAJDU)

Eine studentische Gruppierung protestiert mit EU-Flagge vor einem Polizeigebäude, eine Mutter und eine Blumenhändlerin geraten aneinander bis die Mutter zusammenbricht, ein Teenager-Punk mit blauem Irokesenschnitt schenkt seiner Verabredung eine verdorrte Sumpfschildkröte in einer roten Samtschatulle und eine notorische Lügnerin versucht, einen übergriffigen Theaterregisseur zu beeindrucken.
 
In gekonnt inszenierten und überzeugend gefilmten Innenräumen präsentiert dieser recht klassisch aufgebaute Episodenfilm (engl. Titel Treasure City) des ungarischen Regisseurs Szabolcs Hajdu Bruchstücke einer einzelnen, langen Nacht und sucht in den aneinandergereihten Momentaufnahmen nach einem aktuellen Stimmungsbild der Budapester Gesellschaft. Dabei schwankt dieser unterhaltsame Film stets zwischen bitterbösen Dialogen, skurriler Situationskomik – als etwa der junge Punk schief im Auto sitzen muss, um seinen Irokesen nicht zu beschädigen – und bedrückenden Stimmungen.
 
Seinen gekonnten Umgang mit Innenräumen, familiären Konflikten und beengenden Dialogen hat Regisseur Hajdu, der zu den jüngeren osteuropäischen Auteur-Filmemachern gezählt wird, bereits in seinem Kammerspiel Ernelláék Farkaséknál (HU 2016, It’s not the Time of My Life) bewiesen. Auch in Békeidő stehen Konflikte verschiedenster Art im Zentrum. Diese sind zwar in erster Linie persönlich, doch erinnert uns das Radio, das mehrfach irgendwo im Hintergrund läuft, an andere, gesellschaftsübergreifende Konflikte, wie zum Beispiel die weitverbreitete Fremdenfeindlichkeit, vor allem gegenüber der Roma. So sind es schlussendlich, trotz aller Situationskomik, Skurrilität und gekonnter Inszenierung, die bedrückenden Stimmungen und die zahlreichen Konflikte, die diesen Film besonders prägen.
 
Mehr als kurze Einblicke in verschiedene Lebensrealitäten und knappe Skizzen einzelner Figuren kann der Film in den meisten Fällen aber nicht bieten. Ebenso lässt er wenig bis gar keinen Raum für Lösungsansätze oder Zukunftsperspektiven, die Menschen scheinen in ihren Situationen gefangen, Hoffnung auf Veränderung gibt es kaum. Auch die unerwartete übernatürliche Wendung der allerletzten Szene mag daran nichts mehr ändern. Tatsächlich stellt sich am Ende die Frage, was uns der Film über das heutige Budapest sagen kann, denn das Gesellschaftsbild, das er evoziert, hat eine gewisse Allgemeingültigkeit und die Konflikte und Spannungen, die den Film prägen, könnten sich wohl, zumindest im Ansatz, in allen Städten (Ost-)Europas so oder ähnlich abspielen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Stadt selbst, auch wegen des Fokus auf Innenräume, leider nur sehr wenig Platz erhält.
 
Noemi Daugaard
*1990, studierte in Zürich Filmwissenschaft, Anglistik und Kunstgeschichte. Sie ist Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet in der Forschungsförderung.
(Stand: 2021)
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