HEINRICH WEINGARTNER

UNTER EINEM DACH (MARIA MÜLLER)

Daniel, Kathrin, Iman, Ghassan und eine syrische Übersetzerin sitzen am Esstisch. Es gibt Kaffee und Kuchen. Die syrische Übersetzerin bittet Iman und Ghassan, zu überlegen, was sie an Daniel und Kathrin stört. Als Ghassan ausführlich ausholt, fragt sie ihn: «Soll ich das übersetzen?» Sprache ist Barriere. Daniel und Kathrin haben die syrische Übersetzerin eingeschaltet, um Missverständnissen vorzubeugen. Diese passieren oft: In Syrien erholt man sich am Abend mit den Nachbarn – egal, wie man sich fühlt. In der Schweiz erholt man sich am Abend alleine – egal, wie man sich fühlt. Ghassan möchte mit Daniel und Kathrin zusammen einen Gastrobetrieb eröffnen, weil er keine Arbeit findet. Zuerst sind sie entzückt, bei genauerer Überlegung überfordert. Integration ist Arbeit.
 
Die schönen Momente überwiegen. Die siebenköpfige syrische Flüchtlingsfamilie mit vier Töchtern und einem Sohn wird vom Schweizer Paar mit offenen Herzen und Hirnen empfangen. Sie feiern zusammen den Dreikönigstag, diskutieren über Schweizer Politik, der kleine Sohn darf alleine bei Daniel und Kathrin auf Besuch. Die Regisseurin Maria Müller fängt authentische Momente ein, die wohl nur mit viel Geduld möglich waren. Nach der Hälfte von Unter einem Dach vergisst man, dass dies ein Dokumentarfilm ist und meint, einen Spielfilm zu schauen. Der unaufdringliche Gestus verstärkt dieses Gefühl: Müller arbeitet subtil, nimmt sich selber heraus und zeigt doch Haltung. Das ist schwierig. Es gelingt ihr vortrefflich.
 
Unter einem Dach beginnt temporeich und befindet sich in den ersten dreissig Minuten in einem stetigen Fluss. Ab der Mitte drosselt er, die Gespräche dauern länger, der Film gewinnt an Tiefe. Man erfährt beispielsweise, dass Iman und Ghassan der jüngsten Tochter die Entscheidung überlassen, ob sie einen Hijab tragen will und dadurch ferner auch die Entscheidung, wie stark sie sich dem Islam verpflichten möchte. Die syrische Übersetzerin bemerkt, dass dies keine richtige ‹Entscheidung› sei, weil die drei anderen Töchter bereits Hijabs tragen.
 
Unter einem Dach beweist, dass einem Toleranz gegenüber Fremdheit nicht mit Argumenten nähergebracht werden kann, sondern über das Zeigen von menschlichen Geschichten. Dann muss man nicht die Argumente verstehen, sondern die Menschen hinter den Argumenten. Maria Müller hat einen Dokumentarfilm über Integrationsarbeit gedreht und betreibt damit selber Integrationsarbeit. Genau so etwas braucht es heute.
Heinrich Weingartner
*1989, Master of Arts in Philosophie und Filmwissenschaften. Lebt und arbeitet als freier Journalist in Luzern. Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2021)
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