NATALIE BOEHLER

HEIDI EN CHINE (FRANÇOIS YANG)

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern ist ein klassisches Thema des neueren Dokumentarfilmes. Die Suche nach den eigenen Wurzeln wirft Fragen der Identität auf, der Familiengeschichte und der Erinnerung. Im Persönlichen blitzen universelle Themen auf: die Zugehörigkeit, die Heimat, die Beziehungen über Generationen hinweg. Der Lebensweg der Vorfahren soll dabei meist den eigenen Standpunkt ausleuchten: Wie wurden wir, wer wir heute sind?
 
Heidi ist die Mutter des Fribourger Filmemachers François Yang. Als Kind reiste sie 1946 mit ihrem Vater aus China in die Schweiz, wo er sie einer Pflegefamilie anvertraute. Das Versprechen, bald zu ihr zurückzukehren, löste er nie ein. Der Sohn sieht im Namen der Mutter Parallelen zur berühmten literarischen Figur von Johanna Spyri: ein Mädchen, das seine Heimat verlässt, um allein in die Fremde zu reisen. Heidi aber weist darauf hin, dass ihr Name aus dem Chinesischen stammt und erst an ihrem neuen Wohnort zum Schweizer Mädchennamen transkribiert wurde.
 
Mutter und Sohn reisen gemeinsam nach China, um der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen. Die Vatersuche von Heidi ist gleichzeitig das Filmprojekt ihres Sohnes. Oder vielleicht ist umgekehrt der Film der eigentliche Anlass für die Reise – die beiden Anliegen sind so ineinander verschränkt, dass eine Trennlinie nicht zu erkennen ist. Die Beziehung des Sohnes zu seiner Mutter wird nicht direkt thematisiert, eher äussert sie sich in den Rollen des Filmemachers und der Darstellerin: Auf ruhige, beobachtende Weise begleitet Yang Heidi. Seine unaufdringliche Handkamera und sein naturalistischer Stil ermöglichen eine respektvolle Distanz und mitfühlende Offenheit gegenüber dem Geschehen.
 
Laut Konfuzius stellt die Familie die kleinste Einheit des Staates dar, und die Beziehungen innerhalb ihr bilden das Grundgerüst für die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten. In diesem Film wird deutlich, wie Regierungsverhältnisse auf private Beziehungen wirken und von da aus auf das emotionale Erleben des Individuums. Im Zuge der Reise erkennt Heidi ihren mittlerweile verstorbenen Vater als einen von der Geschichte Chinas Getriebenen. Wegen seines Kampfes gegen die Regierung als Konterrevolutionär gebrandmarkt, war sein Leben bestimmt durch Flucht und Verfolgung. Der Film zeigt eindrücklich, wie die Traumata der staatlichen Sanktionen über Generationen hinweg wirken: Heidis Geschwister leiden bis heute unter den zerrissenen Familienbeziehungen und der Angst, die ihren Vater stets begleitete. Dennoch ermöglichen die Familienbande das Teilen von Erinnerungen und eine Art Heilung: Schliesslich begreift Heidi, dass ihr Vater sie weggab, um ihr Leid zu ersparen.
Natalie Boehler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA-Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeitgenössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2018)
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