MATTIA LENTO

MOSKAU EINFACH! (MICHA LEWINSKY)

Moskau Einfach!, der diesjährige Eröffnungsfilm der Solothurner Filmtage, erzählt die Geschichte von Polizist Viktor Schuler (Philippe Graber), dessen Aufgabe es ist, angebliche Komplotte gegen den Staat durch linke Aktivisten_innen in der Stadt Zürich aufzudecken. Der Film spielt im Jahr 1989, am Vorabend des Ausbruchs des Fichenskandals, und die antikommunistische Paranoia scheint in der Schweiz nicht aufhören zu wollen. Kommissar Marogg (Mike Müller) weist seinen Untergebenen Viktor an, das Schauspielhaus Zürich im Auge zu behalten. Um sein Bestes zu tun, ist der ungeschickte Protagonist gezwungen, seine Identität zu wechseln – er versetzt sich in die Lage eines jungen progressiven Aktivisten, der die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee und den Ausstieg aus der Atomkraft unterstützt – und sich vom Theater als Statist anstellen zu lassen. Die Schauspieler_innen des Ensembles studieren Shakespeares Was ihr wollt ein, eine Komödie, in der Verkleidungen und Täuschungen im Überfluss vorhanden sind. Während der Proben für das Stück verliebt sich Viktor unerwartet in die junge Schauspielerin Odile Jola (Miriam Stein) – Gewinnerin des Schweizer Filmpreises 2020 für die beste Hauptdarstellerin – und wirft seine Pläne zum Schutz des Staates über Bord.
 
Die leichten Töne und die Ironie des Films wurden von Kritikern und Publikum gleichermassen geschätzt, aber sie zogen auch kritische Stimmen an. Einigen Kommentatoren erscheint Moskau Einfach! zu versöhnlich und läuft Gefahr, die Dramatik des Fichenskandals zu versüssen oder gar zu leugnen. Wenn man dramatische historische Ereignisse mit dem Filter der Ironie behandelt, läuft man immer Gefahr, ein falsches Bild der Vergangenheit zu vermitteln oder zumindest diejenigen zu verletzen, die das Drama aus erster Hand erlebt haben. Es stimmt auch, dass dem fiktionalen Kino nicht (immer) zu viel historiographische Verantwortung übertragen werden sollte. Darüber hinaus kann dieser Film, wenn er als Ausgangspunkt genommen wird, auch den Vorwand für eine eingehende Diskussion des Fichenskandals bieten. Das ist tatsächlich geschehen: Moskau Einfach! ist es gelungen, der jungen Generation, die wenig über diese jüngste Episode der Schweizer Geschichte weiss, das immer noch aktuelle Thema der staatlichen Überwachung seiner Bürger näher zu bringen.
 
Bei der Bewertung des politischen Wertes eines Films sollte dieser möglichst nicht als abstrakter Text, sondern als ein lebendiges Produkt betrachtet werden, das mit bestimmten kulturellen Kontexten und sozialen Gruppen in Kontakt kommt, die seine Bedeutung erweitern oder verändern. So geschehen zum Beispiel mit Die Schweizermacher (Rolf Lyssy, CH 1978), einem leichten, komischen Film, der demjenigen von Micha Lewinsky sehr ähnlich ist, und der in den vergangenen Jahren zum Symbol der schweizerischen Fremdenfeindlichkeitspolitik wurde. Ein Film, der nicht nur bei Schweizerinnen und Schweizern, sondern auch bei denen, die das Drama der Ausländerdiskriminierung erlebt haben, noch heute als Kultstreifen gilt.
Mattia Lento
*1984 in Italien, Promotion über La scoperta dell’attore cinematografico (Pisa 2017), zurzeit Gastforscher und Dozent an der Universität Innsbruck mit einem Stipendium des Schweizer National Fonds. Forschungsschwerpunkte: Frühes Kino/Europäischer Stummfilm/Filmschauspielerei/Film und Migration/Film und Politik/Filmkultur in der Schweiz. Freier Journalist bei RSI und filmexplorer.ch.
(Stand: 2021)
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