SENTA VAN DE WEETERING

ET AU PIRE, ON SE MARIERA (LÉA POOL)

SELECTION CINEMA

Die schweizerisch-kanadische Regisseurin Léa Pool – 1950 in Genf geboren, 1975 nach Montreal ausgewandert – erzählt in Et au pire, on se mariera einmal mehr vom Erwachsenwerden, von der Liebe und den damit verbundenen Verwirrungen. Das gleichnamige Buch der Regisseurin Sophie Bienvenu war ein kanadischer Bestseller – kein Wunder, dass es die Meisterin des Coming-of-Age-Films zur Verfilmung reizte.

Aïcha ist vierzehn Jahre alt und einsam. Ihr Vater verschwand schon vor der Geburt aus ihrem Leben. Ihre Mutter ist hoffnungslos überfordert und zum Stiefvater hat sie keinen Kontakt mehr, seit die Mutter ihn aus dem Haus geschmissen hat. Die Vierzehnjährige kurvt auf Rollschuhen durch die Gegend und macht alles mit sich selber aus. Ihre einzigen Freundinnen scheinen zwei transsexuelle Prostituierte zu sein. Als sie den doppelt so alten Baz kennenlernt, verliebt sie sich auf der Stelle in ihn und tut alles dafür, Teil seines Lebens zu werden. Doch das Terrain ist neu für sie. Während ihre eigenen Signale immer unmissverständlicher werden, ist sie nicht imstande, seine ebenfalls immer deutlicher werdenden Zeichen zu verstehen und zu akzeptieren.

Pool rollt die Geschichte von Aïchas Liebe von hinten auf. Aïcha wird gleich zu Beginn des Films verhaftet. Wie es dazu gekommen ist, erfährt man bruchstückweise in manchmal verwirrenden Rückblenden. Es ist Aïcha, die erzählt – wem, weiss man nicht genau, vielleicht einer Polizistin oder Anwältin. So vermittelt der Film das Gefühl, dass man der Wahrheit näher komme. Das Publikum merkt erst nach und nach, dass Wahrheit für die Teenagerin keine oder eine ganz eigene Bedeutung zu haben scheint. Ihre eigene Verwirrung und Unsicherheit, aber auch ihre Entschlossenheit spiegeln sich in der Narration. Durch diese Struktur ist Et au pire, on se mariera für einen Film von Léa Pool sehr dialoglastig. Doch auch in ihrem neusten Werk wird klar, dass ihre grosse Stärke das Ungesagte ist, das, was sich über Blicke und Gesten vermittelt.

Léa Pool schenkt allen Figuren ihre ganze Aufmerksamkeit, sie sind glaubwürdig und vielschichtig. Die junge Sophie Nélisse dominiert den Film als Aïcha mit der Energie und der Zerbrechlichkeit, die sie in ihre Figur legt. In weiter zurückliegenden Szenen wird Aïcha von ihrer kleinen Schwester Isabelle Nélisse verkörpert, die ihre Verzweiflung, Wut und Trotz zum Ausdruck bringt. Karine Vanasse spielte 1999 selber eine Teenagerin in Léa Pools Emporte-moi, nun verleiht sie Aïchas Mutter Tiefe, Erschöpfung und Kampfwille.

Senta Van de Weetering
Filmwissenschaftlerin und Germanistin. Arbeitete als Journalistin, Redaktorin, Moderatorin und Texterin. Heute arbeitet sie für die Unternehmenskommunikation der Hochschule Luzern und im Team der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur.
(Stand: 2020)
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