SIMON MEIER

AMBIVALENTE QUALITÄTEN — ZUR WECHSELHAFTEN ROLLE DER FILMKRITIK BEI SIEGFRIED KRACAUER

ESSAY

Aber die Lichtspieltheater haben dringlichere Aufgaben zu erledigen, als um Kunstgewerbliches sich zu bemühen. Ihren Beruf [...] werden sie erst erfüllen, wenn sie nicht mehr mit dem Theater liebäugeln [...], sondern ihre Darbietungen von allen Zutaten befreien, die den Film entrechten, und radikal auf eine Zerstreuung abzielen, die den Zerfall entblösst, nicht ihn verhüllt. Sie könnten es in Berlin, wo die Massen leben, die nur darum sich so leicht betäuben lassen, weil sie der Wahrheit nahe sind (Siegfried Kracauer 1926).1

Die Rolle der Filmkritik und damit der Bewertung und Sinnzuschreibung von Film ist im Werk des Filmtheoretikers Siegfried Kracauer alles andere als eine einheitliche Grösse. Sie reicht von der Forderung von Filmkritik als Gesellschaftskritik2 bis hin zur Aufforderung zur radikalen Zerstreuung durch das Kino.3 Wie sich die Rolle der Filmkritik im Verständnis der Kritiker, insbesondere Kracauers, verändert hat und welche qualitative Bedeutung dem Film dabei zugeschrieben wird – dem möchte ich nachgehen und aufzeigen, wie die Filmkritik selber vom sich wechselnden historischen Kontext und von sich transformierenden gesellschaftlichen Strukturen und Wertemustern beeinflusst wird. In diesem Sinne wird die These aufgestellt, dass nicht nur das Kino als Spiegel der Gesellschaft fungiert, sondern eben auch die Filmkritik selber.

Die Analyse der sich wandelnden Rolle der Filmkritik geschieht anhand der Analyse von bei Kracauer wichtigen Begriffen wie ‹Zerstreuung›, ‹Oberfläche›4 und ‹Ideologie›. Hier wird deutlich, dass Kracauer nicht nur gesellschafskritische Filme als qualitativ gute Filme bewertet, sondern eben auch solche, die auf eine radikale Zerstreuung abzielen. Auch die Zerstreuung an sich, die radikale Fokussierung auf sie, führe ‹ex negativo› zu einer Enthüllung der eigenen Wirklichkeit.5 Im profanen Unterhaltungskino erschliesst sich für Kracauer daher genauso ein intellektuelles Potenzial wie im sozialkritischen Drama oder im avantgardistischen Experimentalfilm.

Kracauers filmkritisches Schaffen beginnt während der Weimarer Republik mit der Anstellung als Filmkritiker bei der Frankfurter Zeitung, für die er von 1922 bis 1933 als Feuilleton-Redaktor arbeitet. Im französischen Exil von 1933 bis 1941, nach der Machtergreifung der NSDAP, schreibt er unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und die Basler National-Zeitung. Die filmtheoretischen Hauptwerke Kracauers entstehen danach alle im amerikanischen Exil, in das er 1941 flüchtet. Die massiven gesellschaftlichen Umbrüche, die Kracauer während seiner Tätigkeit als Filmtheoretiker, Soziologe und Philosoph miterlebt, hinterlassen klare Spuren in seinen sich wandelnden Ansichten über die Gesellschaft und die Aufgabe der Kunst und des Films.

Zerstreuung als Selbsterkenntnis

Während seiner Zeit als Filmkritiker bei der Frankfurter Zeitung ist Kracauer noch der Emanzipierung des Kinos gegenüber dem Theater im Sinne der Kinodebatte verhaftet. Dies wird in seinem Text «Kult der Zerstreuung: Über die Berliner Lichtspielhäuser» von 1926 deutlich: Kracauer bezeichnet die Berliner Filmbühnen als «Paläste der Zerstreuung».6 Er sieht sie in diesem Kontext nicht mehr als Orte des Kinos, welche den Stummfilm in seiner klassischen Präsentationsform beherbergten, sondern als «Gesamtkunstwerke der Effekte», wo die Sinne der Zuschauer erbaut werden.7 Die kleinen, dunklen Lichtspielhäuser mit jeweils einem Klavier werden durch riesige Säle mit Orchester und Scheinwerfer abgelöst. Diese neuen Kulturstätten der Massenunterhaltung laufen den klassischen Kulturinstitutionen wie dem Theater den Rang ab. Hier dominiert der «Prunk der Oberfläche».8

Kracauer konstatiert eine Hinwendung zum Massengeschmack, was er aber durchaus nicht negativ sieht. Die Bildungswerte des bürgerlichen Theaters sieht er als veraltet und am Geist der Zeit vorbeigehend, sogar als nachahmend gegenüber wirklicher Kunst: Das Kino der Äusserlichkeiten entspreche der Selbstidentifikation eines Massenpublikums mehr als das bürgerliche Theater.9 Das Berliner Kinopublikum sieht er in diesem Kontext als mündig in dem Sinne, dass es sich nicht simpler Zerstreuung hingebe, sondern diese im bewussten Kontrast zu einer klar erlebten und wahrgenommenen Realität erfahre:

Man schilt die Berliner zerstreuungssüchtig; der Vorwurf ist kleinbürgerlich. Gewiss ist die Zerstreuungssucht hier grösser als in der Provinz, aber grösser und fühlbarer ist auch die Anspannung der Massen [...]. Der Hang zur Zerstreuung fordert und findet als Antwort die Entfaltung der puren Äusserlichkeit. [...] Diese Veräusserlichung hat die Aufrichtigkeit für sich. Nicht durch sie wird die Wahrheit gefedert. Sie ist es nur durch die Behauptung irreal gewordener Kulturwerte. [...] Das Berliner Publikum handelt in einem tiefen Sinne wahrheitsgemäss, wenn es diese Kunstereignisse mehr und mehr meidet [...] und dem Oberflächenglanz der Stars, der Filme, der Revuen, der Ausstattungsstücke den Vorzug erteilt. Hier, im reinen Aussen, trifft es sich selber an, die zerstückelte Folge der splendiden Sinneseindrücke bringt seine eigene Wirklichkeit an den Tag.10

Für Kracauer spiegeln die auf Zerstreuung ausgerichteten Unterhaltungsfilme der Berliner Kinos die Unordnung, Hektik, Schnelligkeit, Fragmentiertheit und Überladenheit der Grossstadt wider. Sie spiegeln sie, ahmen sie nach. Dadurch werde den Zuschauern/-innen indirekt der Charakter ihrer eigenen Lebenswelt vorgehalten, wodurch die Zerstreuung eine Selbsterkenntnis erzeugende Komponente erhalte. Bei Kracauer wird die Zerstreuung daher zu einem Begriff, der im Kino – das als Spiegel der Gesellschaft verstanden wird – die Entzauberung der Gesellschaft aufzeigt. Die Moderne im ausgehenden 19. und angehenden 20. Jahrhundert wird von vielen Intellektuellen als Krise wahrgenommen, unter anderem als Krise des Subjekts. Es ist die Zeit der Industrialisierung, der Urbanisierung und Fliessbandarbeit und der ‹Industrialisierung der Kultur›, die mit starken gesellschaftlichen Umbrüchen einhergeht.11 Kracauer bezeichnet diese Transformationen im Aufsatz «Kult der Zerstreuung» in einem wertenden Sinne als ‹Zerfall›.12 Symptomatisch ist, dass das Kino aus dieser gefühlten Krise heraus zu einem Repräsentanten der Gesellschaft wird.

Filme als Bestätigung des Geschmacks des Massenpublikums

Im nur ein Jahr später verfassten Text «Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino» (1927) nimmt Kracauer bereits eine fast diametrale Haltung gegenüber Filmen ein, die auf eine Zerstreuung des Publikums abzielen.13 Er kritisiert an den Filmen der 1920er-Jahre, dass sie keine kritische Haltung gegenüber dem Zeitgeschehen einnähmen, «das herrschende System bestätigen» würden und das Träumen jenseits von gesellschaftlichen Konventionen verhinderten.14 Die Gesellschaft dulde keine fundamentale Systemkritik in Filmen:

Dennoch soll nicht bestritten werden, dass es in den meisten Gegenwartsfilmen unwahrscheinlich hergeht. Sie färben die schwärzesten Einrichtungen rosa und überschmieren die Röte. [...] Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt. [...] Die vielen historischen Filme, die nur das gewesene illustrieren [...] sind ihrer eigentlichen Bestimmung nach Blendungsversuche. Da die Verbildlichung von Zeitereignissen stets Gefahr läuft, die leicht erregbare Menge gegen mächtige Institutionen einzunehmen [...]. Douglas Fairbanks, der ritterliche Gönner der Unterdrückten, zieht in früheren Jahrhunderten gegen eine Gewaltherrschaft zu Feld, deren Fortdauer heute keinem Amerikaner mehr nützt. Der Mut der Filme verringert sich direkt proportional mit dem Quadrat der Annäherung an die Gegenwart.15

Kracauer hebt hier den unkritischen, entmündigenden, eskapistischen und hypnotischen Charakter des Kinos hervor, das nicht zum selbstständigen Nachdenken stimuliert, sondern zum passiven, rauschhaften Träumen nach bestimmten Wunschvorstellungen und normierten, gesellschaftlichen Wertansichten einlädt. Aufgrund des kommerziellen Charakters der Filmindustrie müsse der Geschmack des Publikums auf jeden Fall getroffen werden. Kracauer kritisiert zudem, wie aus Tagträumen Ideologien werden und wie diese ein falsches Realitätsbewusstsein suggerierten: Die Heroisierung von Krieg und Gewalt in Historienfilmen führe zu einer Perversion gegenüber der Wirklichkeit, einer Modellierung von ideologischen Konstrukten. So werde der Krieg als Absurdität dargestellt, die als unerklärliche Notwendigkeit hingenommen werden müsse.

Eskapistische Zerstreuung in Zeiten der Weltwirtschaftskrise

Im Text «Not und Zerstreuung» von 1931, der nach dem Beginn der grossen Weltwirtschaftskrise entstand, hat sich Kracauers negative Einstellung gegenüber dem Zerstreuungscharakter des Kinos weiter verhärtet.16 Nichts ist mehr von reflektierten Kinogängern/-innen zu lesen, die sich, im Bewusstsein, sich zu zerstreuen, einem Unterhaltungsfilm hingeben. Vielmehr sieht Kracauer nun die Notwendigkeit des Kinos, die Zuschauer/-innen intellektuell über ihre Zeit aufzuklären, was durch die konventionellen, eskapistischen und oft der Vergangenheit verpflichteten Durchschnittsproduktionen aber in keiner Weise geschehe:

Es lässt sich nun gewiss nichts dagegen einwenden, dass Filme geschaffen werden, die den notleidenden Menschen die ersehnte Zerstreuung bringen, die Frage bleibt nur, ob das bedrückte Gemüt allein der Zerstreuung begehrt. Hier scheint mir der Grundfehler der neuen Produktion [der Ufa] zu liegen. Sie macht aus der Not des Publikums die Tugend der Zerstreuung und vergisst darüber ganz das Bedürfnis des Publikums nach Aufklärung. Dass es vorhanden ist, hat unter anderem die Nachfrage nach sogenannten Zeitstücken hinreichend deutlich gezeigt. [...] Zerstreuung ist angenehm und vielleicht auch nützlich; wird sie aber zum Leitmotiv und drängt die echte Belehrung völlig beiseite, so verfälscht sich ihr guter Sinn. Indem sie das bedrückte Gemüt erheitert, nebelt sie es nur immer dichter ein, und die Entspannung, die sie dem Publikum beschafft, führt zugleich zu seiner Verblendung.17

War in «Kult der Zerstreuung» die Zerstreuung für Kracauer noch etwas Positives, das in radikaler Anwendung zu einer Enthüllung und Offenbarung der eigenen Wirklichkeit führe, so hat sie sich in diesem Text in ihr Gegenteil verkehrt.18 Auch die Aufgeklärtheit der Zuschauenden hat sich verändert: Sprach er in «Kult der Zerstreuung» dem Publikum eine mündige Haltung gegenüber der Zerstreuung zu, so sieht er es nun als mehrheitlich passiv und unaufgeklärt. In Zeiten der Weltwirtschaftskrise und weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und Armut nimmt der Charakter des Kinos als Illusionsmaschine zur Realitätsflucht für Kracauer klar überhand.

Im Text «Über die Aufgabe des Filmkritikers», der 1932 im Film-Kurier erscheint, hat sich Kracauer vollständig von den positiven Aspekten des Illusionskinos und der mündigen Zerstreuung verabschiedet.19 Er sieht nun sogar, die sich wandelnden sozialen und politischen Verhältnisse der deutschen Gesellschaft aufgreifend, die Notwendigkeit, die Zuschauer durch Filmkritiken über versteckte Ideologien und den manipulativen Charakter des Kinos aufzuklären:

In der Tat: je ärmer die meisten Operettenfilme, Militärfilme, Lustspielfilme usw. an Gehalten sind, die einer strengen ästhetischen Beurteilung standzuhalten vermögen, desto mehr fällt ihre soziale Bedeutung ins Gewicht, die gar nicht überschätzt werden kann. Das kleinste Nest hat heute sein Kino, und jeder halbwegs gängige Film wird durch tausend Kanäle an die Massen in Stadt und Land herangebracht. Was vermittelt er den Publikumsmassen, und in welchem Sinne beeinflusst er sie?20

Der Filmkritiker soll nach Kracauer die latenten sozialen Absichten von Filmen sichtbar machen, die evozierten Gesellschaftsbilder mit der realen Welt abgleichen und dadurch die gesellschaftlichen Illusionen des Kinos entzaubern. Die Gefahr der Vermittlung eines falschen Realitätsbewusstseins durch das Kino soll durch den Filmkritiker als Gesellschaftskritiker gebändigt werden.

Kracauer hat sich nun fast ganz von der Filmanalyse anhand von Oberflächenphänomenen verabschiedet. Zwar sieht er es immer noch als die Aufgabe von Filmkritikern, Filme als Spiegel der Gesellschaft kritisch auf ihre Ornamente und Formen hin zu untersuchen, da er gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen und Sinnzuschreibungen anhand von Oberflächenäusserungen deutlicher auszumachen findet als anhand von klaren Botschaften und Urteilen von Filmen über sich selber.21 Doch sieht er nun viel mehr als vorher die Dringlichkeit, die in den Produktionen verborgenen Ideologien zu benennen und zu entzaubern.

Am deutlichsten tritt Kracauers Abneigung gegenüber dem eskapistischen Illusionskino im Text «Der heutige Film und sein Publikum» von 1928 zu Tage: Er sieht die deutsche Filmproduktion als nicht innovativ und statisch.22 Diese Tendenz sieht er als Ursache einer unkritischen Öffentlichkeit und einer Industrie, die die gesellschaftliche Realität beschönigt und verfälscht:

Die Filmproduktion hat sich so stabilisiert wie das Publikum. Ihre Erzeugnisse weisen typische, immer wiederkehrende Motive und Tendenzen auf, selbst die vom Durchschnitt abweichenden Filme bieten kaum noch Überraschung. [...] Es ist an der Zeit, mit dieser Produktion abzurechnen. Sie ist dumm, verlogen und nicht selten gemein. Sie dürfte so nicht fortgesetzt werden. [...] Nicht die Typisierung des Films ist verwerflich. [...] Verwerflich ist die Gesinnung der Filme. In allen Typen, die sich herauskristallisiert haben, wird unsere gesellschaftliche Wirklichkeit auf bald harmlose, bald verruchte Weise verflüchtigt, beschönigt, entstellt. Genau das, was auf die Leinwand projiziert werden sollte, ist von ihr weggewischt, und Bilder, die uns um das Bild des Daseins betrügen, füllen die Fläche.23

Kracauer entwirft die These, dass das Publikum bewusst Tagträume präsentiert bekommen will und den sozialen Realismus meidet. Als besonders problematisch am Illusionskino sieht Kracauer die Abstumpfung der Leute gegenüber der Realität. Seine pessimistische, wenig ironische Kritik an den ‹Durchschnittsproduktionen› gipfelt im Vorwurf der Gehaltlosigkeit und dem Fehlen an detaillierter, aufrichtiger Beobachtung der Realität, was dem aktuellen Charakter des deutschen Films entspreche.

Lob des sozialen Realismus

Wohlwollen bringt Kracauer Ende der 1920er-Jahre jenen Filmen entgegen, die sich um sozialen Realismus bemühen oder zumindest aktuelle gesellschaftliche Themen ansprechen. So lobt er am amerikanischen Film Lonesome (Paul Fejos, US 1928) dessen aus dem Alltag gegriffene Figuren aus dem Arbeitermilieu und seine nicht konstruiert wirkende Handlung:

Lonesome [...] ist einer der besten Filme, die seit langem hergestellt worden sind. Seine Fabel? Er hat keine Fabel. So alltäglich ist die Geschichte, die er erzählt, dass die heutigen Grosskampfregisseure sich geschämt hätten, dergleichen zu verfilmen. Eine Telefonistin und ein Fabrikarbeiter sind die Helden. Kleine Leute, wie man sie in den üblichen deutschen Filmen überhaupt nicht sieht. [...] Mit Anstand, Mut und guter Kennerschaft wird die Kamera auf den Alltag der Erwerbstätigen gerichtet, und nirgends ist seine Leere beschönigt. Er beginnt in hässlich möblierten Zimmern und führt wieder in sie zurück.24

Kracauer wird die unbeschönigte, möglichst wahrheitsgetreue filmische Darstellung der Wirklichkeit in seinem 1960 erschienenen filmtheoretischen Werk «Theory of Film. The Redemption of Physical Reality» als ‹realistische Tendenz› bezeichnen.25 Sie zeichnet sich durch eine möglichst objektive, unvoreingenommene, durch keine ideologischen oder formalen Gebilde verzerrte Abbildung der Realität aus und tendiert daher zum Dokumentarischen.

Im Dezember 1931 stellt Kracauer anhand der neu anlaufenden deutschen Filme eine klare Abkehr vom Klamauk- resp. Amüsierfilm fest. Er begrüsst als Anhänger von aktuellen, den realen Themen zugewandten Produktionen diese Entwicklung. Er sieht sie als Resultat einer Zuspitzung der wirtschaftlichen Not der Leute in der Weltwirtschaftskrise an, die sich nicht mehr länger einem reinen Illusionskino hingeben wollen:

Die neusten Erzeugnisse der Filmproduktion lassen sich in thematischer Hinsicht schwer auf einen Generalnenner bringen. [...] Nicht so, als ob die Wunschträume ausgeträumt seien, aber sie werden von den Zielen im Stich gelassen, denen sie gelten. Überhaupt wird die Not viel zu tief und allgemein empfunden, als dass das Publikum noch an eines der Paradiese zu glauben vermöchte, die ihm die Filme bis vor kurzem vorzugaukeln beliebten. [...] vorbei [ist] die ganze, von der Filmindustrie systematisch aufgezogene Zerstreuungskultur, die immerhin nur so lange möglich war, als die Massen betäubt werden konnten.26

An die Stelle der zuvor marktbeherrschenden Klamaukfilme tritt aber nicht etwa eine neue Serie von sozialkritischen Gegenwartsfilmen, wie Kracauer sich dies gewünscht hätte, sondern ein heterogenes Gemisch von Filmen verschiedenster Gattungen, u. a. Militärfilme, aber auch Adoleszenzdramen wie Mädchen in Uniform (Leontine Sagan, D 1931), den Kracauer besonders hervorhebt.27

Filmkritik im französischen und amerikanischen Exil

Mit der Machtergreifung der NSDAP 1933 spitzt sich für den aus einer bürgerlichen jüdischen Familie stammenden Kracauer und seine Frau Elisabeth Ehrenreich die Lage zu. Kurz nach dem Reichtagsbrand verlässt Kracauer die Berliner Redaktion der Frankfurter Zeitung, um als Auslandkorrespondent nach Paris zu gehen. Noch im selben Jahr kommt es zur Kündigung seiner Stelle als Feuilleton-Redaktor. Kracauer schreibt nun unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und die Basler National-Zeitung.28 Die Kritiken besprechen von jetzt an fast ausschliesslich französische und amerikanische Produktionen. Die Verknüpfung von Filmkritik und Gesellschaftskritik, die Kracauers Kritiken für die Frankfurter Zeitung ausgezeichnet hatte, ist jetzt nicht mehr zu finden. Kracauer konzentriert sich dafür auf eine künstlerische Beurteilung der Filme, befasst sich auch mit formal-ästhetischen Fragen wie dem aufkommenden Farbfilm, ist aber nach wie vor Produktionen zugetan, die Geschichten aus dem Alltag aufnehmen. Letzteres macht sein Lob für die französischen Sozialdramen L’Hôtel du nord (Marcel Carné, FR 1938) und La bête humaine (Jean Renoir, FR 1938) unter dem Titel «Französische Spitzenfilme» deutlich.29

1941 migriert Kracauer für eine Stelle als Forschungsassistent der Filmabteilung des MOMA nach New York. Die Filmkritik nimmt nun einen immer geringeren Stellenwert in Kracauers Schaffen ein. Dafür widmet er sich immer mehr seinen filmtheoretischen Überlegungen. Seine Vorliebe für Filme mit dokumentarischen Qualitäten, die die Illusionserzeugung und Ideologie zugunsten von realistischen Figuren und Handlungen negieren, bleibt jedoch bestehen und findet sich in seinen Filmkritiken der Nachkriegszeit wieder. An den amerikanischen Nachkriegsfilmen kritisiert er deren Diskrepanz zwischen der Vermittlung von progressiven Werten auf der ideologischen Bedeutungsebene, die aber nicht durch die Handlung und die Bilder bestätigt würden. Dadurch entstehe der Eindruck einer Konstruiertheit von Plot und Figuren zugunsten beabsichtigter Botschaften, die die Filme zwar vermitteln möchten, dazu aber nicht glaubhaft imstande seien:

The best year of our lives, […] Boomerang, Crossfire und Gentleman’s Agreement […]. Diese Filme sind Produkte der ersten Nachkriegsjahre und drehen sich in der Regel um ehemalige Soldaten. [...] Sie entlarven Korruption in der Innenpolitik, Selbstgefälligkeit in der Mittelschicht, Rassenvorurteile und faschistische Mentalität mit einer auf der Leinwand ungewohnten Direktheit. [...] Alle diese »progressiven« Filme weisen jedoch einen eigenartigen inneren Widerspruch auf. [...] Zweifellos treten sie auf der Ebene des Plots und des Dialogs für sozialen Fortschritt ein, in den weniger offensichtlichen Dimensionen des Films bringen sie es jedoch zuwege, anzudeuten, dass liberales Denken eher ab- als zunimmt. [...] Alles in allem stellen unsere Nachkriegsfilme den Durchschnittsmenschen als jemanden dar, der die Stimme der Vernunft nicht vernehmen will [...].30

Den stereotypen Charakteren der amerikanischen Nachkriegsfilme und den als Slogans vermittelten Überzeugungen stellt Kracauer Paisà von Roberto Rossellini (IT 1946) gegenüber. Der Film verkörpert für ihn den Inbegriff einer gelungenen, unmaskierten Darstellung der menschlichen Wirklichkeit, die durch die Absenz von Ideologie und Symbolik vermittelt werde:

Dieses italienische Leinwandepos, einer der grossartigsten Filme, die je gedreht wurden, besteht aus sechs voneinander unabhängigen, lebensechten Episoden, die sich während des Feldzuges der Alliierten in Italien zutragen [...]. Paisà hätte kaum besser erfunden werden können, um zu zeigen, was unsere amerikanischen Filme nicht sind. [...] Paisà gibt die zerbrechlichen Manifestationen menschlicher Würde mit einer Einfachheit und Direktheit wieder, die sie als ebenso wirklich wie die harten Tatsachen des Krieges erscheinen lassen. Menschliche Würde ist hier keine Angelegenheit einer vagen Sehnsucht, sondern eine artikulierte Erfahrung, die häufig bestätigt wird – von einer römischen Prostituierten, von einem amerikanischen Schwarzen, von einem neapolitanischen Strassenjungen. Aber dieses beharren auf Humanität ist verknüpft mit einem tiefen Misstrauen gegenüber den »Botschaften«, die in unseren eigenen Kriegs- und Nachkriegsfilmen verbreitet werden.31

Für Kracauer ist Paisà der Inbegriff dessen, was er in der «Theorie des Films: Die Errettung der äusseren Wirklichkeit» als ‹filmischen Film› bezeichnet: Der Film stellt die aus der Realität gegriffenen Einzelschicksale von alltäglichen Leuten in den Mittelpunkt der Handlung und arbeitet mit einem stark dokumentarischen Stil.32 Auf der narrativen Ebene herrscht eine Abwesenheit von Ideologie und Symbolik vor. Der Film nimmt nicht explizit Partei für eine Seite, eine Weltanschauung, sondern stellt die Schicksale seiner Figuren in den Vordergrund, ohne diese zu kommentieren.

Mit der Filmkritik zu Paisà ist Kracauer bei seinem filmtheoretischen Denken angekommen, das er in der «Theorie des Films» in aller Detailfülle ausbreiten wird.33 Ist in Kracauers frühen Filmkritiken der 1920er-Jahre noch eine Verteidigung des jungen Films gegenüber dem bürgerlichen Theater auszumachen, die auch Unterhaltungsfilme durchaus positiv bewerten, so tritt in den Filmkritiken der späten 1920er- und 1930er-Jahre die linke, antikapitalistische Politisierung von Kracauer klar in den Vordergrund. Nun verurteilt er auf Zerstreuung abzielende Klamaukfilme aufs Schärfste und empfindet ihre Gesinnung als gefährlich. In den 1940er-Jahren lobt er in Kritiken wie jener zu Paisà den sozialen Realismus als Maxime des Films. Gegen Ende von Kracauers filmkritischem Schaffen in den 1950er- und 1960er-Jahren – nun von filmtheoretischen Publikationen dominiert – schwindet die linke Politisierung seiner Schriften im Kontext des Kalten Krieges zusehends zugunsten psychoanalytischer Ansätze.34

Siegfried Kracauer, «Kult der Zerstreuung: Über die Berliner Lichtspielhäuser», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.1. Kleine Schriften zum Film (1921–1927), Frankfurt a. M. 2004, S. 208–213.

Siegfried Kracauer, «Über die Aufgabe des Filmkritikers», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.3. Kleine Schriften zum Film (1932–1961), Frankfurt a. M. 2004, S. 61–63 (zuerst erschienen im Film-Kurier vom 21.5.1932).

Kracauer (wie Anm. 1).

Siegfried Kracauer, «Das Ornament der Masse», in: Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse: Essays, Frankfurt a. M. 1977, S. 50–63.

Kracauer (wie Anm. 1).

Kracauer (wie Anm. 1).

Kracauer (wie Anm. 1).

Kracauer (wie Anm. 1).

Kracauer (wie Anm. 1).

Kracauer (wie Anm. 1), S. 210–211.

Gertrud Koch, Kracauer zur Einführung, München 1996.

Kracauer (wie Anm. 1).

Siegfried Kracauer, «Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino», in ders.: Das Ornament der Masse: Essays, Frankfurt a. M. 1977, S. 279–294.

Kracauer (wie Anm. 13).

Kracauer (wie Anm. 13), S. 280–281.

Siegfried Kracauer, «Not und Zerstreuung: Zur Ufa-Produktion 1931/32», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.2. Kleine Schriften zum Film. (1928–1931), Frankfurt a. M. 2004, S. 519–523.

Kracauer (wie Anm. 16), S. 521.

Kracauer (wie Anm. 1).

Kracauer (wie Anm. 2).

Kracauer (wie Anm. 2), S. 62.

Kracauer (wie Anm. 4).

Siegfried Kracauer, «Der heutige Film und sein Publikum», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.2. Kleine Schriften zum Film. (1928–1931), Frankfurt a. M. 2004, S. 151–166.

Kracauer (wie Anm. 22), S. 151–152.

Siegfried Kracauer, «Lonesome. Ein guter Film», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.2. Kleine Schriften zum Film. (1928–1931), Frankfurt a. M. 2004, S. 236–239 (zuerst erschienen in der Frankfurter Zeitung vom 9.4.1929).

Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 3. Theorie des Films: Die Errettung der äusseren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2005.

Siegfried Kracauer, «Der Film im Dezember», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.2. Kleine Schriften zum Film. (1928–1931), Frankfurt a. M. 2004, S. 568–571, hier S. 558.

Kracauer (wie Anm. 26).

Tanja Prokic, «Siegfried Kracauer (1889–1966)», in: Christian Steuerwald (Hg.), Klassiker der Soziologie der Künste: Prominente und bedeutende Ansätze, Wiesbaden 2016, S. 197–214.

Siegfried Kracauer, «Französische Spitzenfilme», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 6.3. Kleine Schriften zum Film. (1932–1961), Frankfurt a. M. 2004, S. 253–257.

Siegfried Kracauer, «Filme mit Botschaft», in: Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (wie Anm. 29), S. 405–417.

Kracauer (wie Anm. 30), S. 414.

Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke (Hg.), Siegfried Kracauer, Werke. Band 3. Theorie des Films: Die Errettung der äusseren Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2005.

Kracauer (wie Anm. 32).

Jörg Schweinitz, «Zu Grundlagen des filmtheoretischen Denkens Siegfried Kracauers», in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 29 (1988) 34, S.111–126.

Simon Meier
*1986 in Zürich. Studium der Ethnologie, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Arbeitet als Redaktor am Newsdesk des Tages-Anzeigers. Von 2011 bis 2021 war er Mitglied der CINEMA Redaktion. simonangelomeier.ch
(Stand: 2024)
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