In Super-8-Film-Qualität flimmern die ersten Bilder aus Ivo Zens Kamera über die Leinwand. Sie zeigen dessen Freund Martin, der einige Jahre, nachdem diese Aufnahmen entstanden sind, im Alter von 34 verstarb. Schuld waren wahrscheinlich die Drogen oder ein haltloses Leben. Der Film schafft in dieser Sache bewusst keine Klarheit; stattdessen durchleuchtet er in eindringlicher Filmsprache, wie die Verbliebenen mit Trauer und Schuldgefühlen umgehen.
Erinnerungen an Martin sind in Zaunkönig – Tagebuch einer Freundschaft mehrfach präsent: Martins Tagebuch ist Zeuge seiner Schwermut. Die Kamera, mit der Ivo Zen damals seinen ersten Spielfilm mit Martin in der Hauptrolle drehen wollte, erzählt dagegen in entfesselten Bildern eine andere Geschichte. Off-Kommentare verbinden Bilder und Gedankenfetzen, Freunde und Familie erzählen im Jetzt von den Geschehnissen von einst: Im «hintersten Tal der Schweiz» in Graubünden gross geworden, wurde aus dem Gelegenheitskiffer Martin ein Alkohol-, Heroin- und Kokainsüchtiger. Zwischen Zusammenbrüchen und Entzugskliniken fällt es dem jungen Mann zunehmend schwer, eine bedeutsame Beziehung zu seinen Mitmenschen zu erhalten. Seine Freunde stösst er vor den Kopf, bald verbringt er seine Tage mit Junkies im Churer Stadtpark. Dazwischen schieben sich Episoden einer Ambition zum Schreiben, die an sich selbst scheitern, da Martin stets mehr zu erreichen versucht, als ihm möglich ist.
Martins Tagebuch funktioniert als Klebstoff des Films. Es verbindet Sequenzen und Aussagen, spielt es doch im Leben vieler Hinterlassener eine grosse Rolle im Umgang mit Martins Tod. Bewegend sind jene Einträge, die schon vorwegzunehmen scheinen, dass der Verfasser bald nicht mehr leben wird. «Plötzlich wurde ich von grenzenlosem Weltschmerz ergriffen», schreibt er etwa, und davon, dass er sein ganzes Leben bereue. Martin, stets einer Misanthropie, einer gefährlichen Distanz zum Leben zugeneigt, hat in seinen Schriften sein Dasein bis ins Detail analysiert – die Momente seiner vorübergehenden Nüchternheit haben Raum für erschütternde Klarheit geschaffen.
Zens Film wirft die Frage auf, wie ein wortgewandter, kreativer junger Mann aus Graubünden ein solches Schicksal ereilen konnte. Eine befriedigende Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Nachdrücklich ist der Schmerz, der sein Tod bei den Angehörigen hinterlässt. «Alle Tragödien sollen auch zum Lachen reizen», ist in einem Eintrag in Martins Tagebuch zu lesen. Im Fall von Zaunkönig muss von diesem Credo allerdings abgewichen werden; in Zens Nachzeichnung erscheint Martins Leben durch und durch melancholisch.