ANNA-KATHARINA STRAUMANN

DAS MÄDCHEN VOM ÄNZILOCH (ALICE SCHMID)

SELECTION CINEMA

Da ist es wieder: das Mädchen, das bereits im Kinoerfolg Die Kinder vom Napf (CH 2011) gerne Fragen stellte. Älter und bereits im frühen Teenage-Alter ist Laura nun. Die Neugierde hat sie beibehalten. Und eine neue Leidenschaft entdeckt: das Schreiben. Auf ihrem Macbook hält sie fest, was für Träume sie nachts hatte, dass sie gerne ihre ‹Dickheit› wegzaubern würde und dass sie sich auf Thom, den Buben aus der Stadt, freut, der bald bei ihrer Familie auf dem abgelegenen Hof seinen Landdienst antritt. Vor allem aber sinniert sie darüber, was es wohl mit der Jungfrau vom Änziloch auf sich hat: Kämmt sie sich tatsächlich nachts die Haare, und werden die Leute, die runtersteigen in den Bergkessel, selbst zu Gespenstern? Ein bisschen langweilig ist ihr schon, im Sommer, ganz ohne Schulalltag. Obwohl sie als Bauernkind tatkräftig anpackt und beim Köhlern oder auch mal beim Metzgen eines Kaninchens zur Stelle ist.

Während Alice Schmid in ihrem ersten Kinodokumentarfilm die Kinder im Napfgebiet selbst mit der Kamera ein Jahr beobachtend begleitet hatte, hat sie dieses Mal einen professionellen Kameramann engagiert. Aurelio Buchwalder sind die vielen imposanten Landschaftsaufnahmen aus der Totalen oder aus der Vogelperspektive, die punktuell subjektive Kamera, aber auch die bewusst eingesetzten Close-ups von Laura selbst und ihrer unmittelbaren Umgebung zuzuschreiben. Auch das Zusammenspiel von Bild- und Tonspur – und deren Aufeinanderprallen – ist durchdacht; zum Beispiel, wenn eine entfernte Mädchenfigur ins Bild gerückt wird, wir aber mittels der hörbaren Atemgeräusche nah an Laura dranbleiben. Auch dank der inszenatorisch und dramaturgisch zugespitzten Sequenzen und der Sage als roten Faden gewinnt Schmids Film. Zudem fokussiert die Regisseurin diesmal auf ein einzelnes Mädchen statt auf eine Gruppe. Zwar kommen vereinzelt auch die Dorfbewohner in reportageartigen Frontalaufnahmen zu Wort. Die trockenen Statements der Erwachsenen mit ihren Versionen der sagenumwitterten Jungfrau bilden aber primär einen erheiternden Kontrastpunkt zu Lauras lebendiger Fantasie. Und während sich die Erwachsenen niemals in den Bergkessel wagen würden, scheint Laura geradezu davon besessen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Sie plant gemeinsam mit Thom, endlich selbst hinabzusteigen. Nur ist Thoms Zeit in den Bergen bald vorbei und Laura muss alleine den Mut fassen und sich runtertrauen.

In Das Mädchen vom Änziloch erzählt Alice Schmid statt von einer (gern idealisierten) Kindheit in der Bergwelt viel universeller von Verlockungen und Ängsten, von Freundschaft und Verlust und von der Eigenständigkeit eines Mädchens, das auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu sich selbst findet. Und diesbezüglich unterscheiden sich Landkinder kaum von den Stadtkindern.

Anna-Katharina Straumann
*1977, Studium an der Winchester School of Art & Design (WSA), University of Southampton, und der Anglistik, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Seit Herbst 2016 bei Pathé Films, davor sieben Jahre bei Xenix Filmdistribution und zwei bei Praesens Film als Presse- und Promotionsverantwortliche tätig. Von 2012 bis 2016 Teil der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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