LAURA WALDE

L’OPÉRA DE PARIS (JEAN-STÉPHANE BRON)

SELECTION CINEMA

Zu Beginn wird die französische Flagge über der Oper von Paris gehisst – zum Schluss sehen wir die Reinigungsequipe, wie sie das Gebäude nach einer Vorführung wieder blitzblank schrubbt. Zwischen dieser Klammer lotet der Lausanner Jean-Stéphane Bron in seinem Dokumentarfilm L’Opéra de Paris die Gefälle der französischen Gesellschaft aus – am Beispiel des Alltagsgeschehens der titelgebenden Institution. Es ist ein Film, der hinter den Kulissen spielt und dem Publikum das voyeuristische Vergnügen zugesteht, an etwas teilhaben zu dürfen, das nicht für die Augen und Ohren der allgemeinen Öffentlichkeit bestimmt ist. Das wird zum einen ganz zu Beginn des Films betont, wenn der Stab um Operndirektor Stéphane Lissner bei der Vorbereitung einer bevorstehenden Pressekonferenz mehrmals zu bedenken gibt, dass eine eben gefallene Bemerkung nicht öffentlich geäussert werden darf. Zum anderen interessiert sich Bron nicht für die Aufführungen dieses traditions- und prestigeträchtigen Hauses an sich, sondern für die Abläufe, die hinter diesen Inszenierungen stehen. Vom Fundraising über Diskussionen zur elitären Preispolitik, von Proben und Unstimmigkeiten bei der Inszenierung, von den Tontechnikern bis eben hin zum Putzpersonal – L’Opéra de Paris ist Zeuge von Prozessen, die normalerweise nicht für die Augen des Opernpublikums bestimmt sind.

Institutionskritik als Systemkritik, wie sie Bron in diesem oder auch in früheren Filmen wie Mais im Bundeshuus (2003) oder Cleveland versus Wall Street (2010) inszeniert, hat eine lange Tradition. Solche «Institutionsfilme» haben gerade in den letzten Jahren wieder an Popularität gewonnen – man denke beispielsweise an Frederick Wisemans National Gallery (2014) oder Johannes Holzhausens Das grosse Museum (2014), die inhaltlich (der Blick hinter die Kulissen) und formell (die beobachtende Kamera) sehr ähnlich aufgebaut sind wie Brons Film. Wiseman selbst, der Grandseigneur des Behörden- und Einrichtungsdokumentarfilms, hat die Pariser Oper in La Danse (2009) porträtiert. Das Thema ist also nicht unbedingt neu, doch das Abbild der französischen Gesellschaft, das dieser Mikrokosmos aufzeigt, wandelt sich stetig.

In die 130 Tage, die Bron hinter den Kulissen gefilmt hat, sind unter anderem auch die Anschläge im Bataclan, mehrere Streiks und Streikdrohungen der Gewerkschaften oder auch die Neuverhandlungen über die Eintrittspreise gefallen. So werden am Beispiel dieser Institution Fragen abgehandelt, die weit über die Grenzen des Opernhauses, von Paris oder Frankreich hinaus Resonanz finden. Wie viel ist uns die Kunst wert und welchen Stellenwert messen wir ihr bei? Was darf sie kosten und wer soll Zugang zu ihr erhalten? Eine mosaikartige Bestandsaufnahme, wie sie L’Opéra de Paris bereithält, ist daher immer wieder sehenswert.

Laura Walde
*1988, hat Filmwissenschaft und Anglistik an der Universität Zürich studiert. Seit 2013 ist sie als Programmer für die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur tätig. Ihre Masterarbeit verfasste sie zum Thema Curating and/or Programming: An Attempt at Conceptualization in the Context of the Short Film Festival. Nach dreijähriger Tätigkeit als Co-Leiterin der Schwei­zer Jugendfilmtage doktoriert sie ab Oktober 2017 innerhalb des Forschungsprojekts ‹Exhibiting Film: Challenges of Format› an der Universität Zürich. Sie ist seit 2017 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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