LUCIE BADER

FILMEN IN SCHANGHAI — ZWISCHEN DRACHENTANZ UND SPEED-DATING

FILMBRIEF

Mai 2017: Ich bin wieder im ‹Paris des Ostens›, wie die chinesische Millionenstadt Schanghai liebevoll genannt wird. Kurz nachdem unsere fünf Kurzfilme des ‹Shanghai Film Lab 2016›1 ihre Premiere am Festival Visions du Réel in Nyon gefeiert haben, schlug uns eine chinesische Produktionsfirma die Entwicklung weiterer Dokumentarserien vor. Also sind mein Kollege Yunlong Song, Filmemacher und interkultureller Übersetzer, und ich erwartungsvoll für neue Recherchen zurück nach Shanghai gereist. Der Sog und das Tempo des chinesischen Umwandlungsprozesses bestimmen auch die hiesige Filmproduktion.

Die Dynamik Schanghais

Schanghai ist eine sehr moderne und pulsierende Stadt mit atemberaubender Dynamik. Die Metropole strömt durch ihre Spannung zwischen Tradition und Moderne eine unglaubliche Faszination aus. Die 4000-jährige Geschichte Chinas ist ebenso präsent wie die Spuren der westlichen Kolonialmächte, die im 19. Jahrhundert die Stadt durch den Handel von Seide, Tee und Opium zu einem Handelszentrum aufblühen liessen. Architektonisch wetteifern die Wolkenkratzer im Stadtteil Pudong, die in den letzten 25 Jahre wie Pilze aus dem Boden schossen, mit historischen Quartieren wie der French Concession oder dem Bund am Fluss Huangpo um Aufmerksamkeit und Attraktivität. Kein Wunder, erleben wir als neugierige Filmschaffende hier einen unerschöpflichen Kosmos von aktuellen zeitgeschichtlichen Brennpunkten. Ob das, was so beeindruckend wirkt, das europäische Flair oder die östliche Exotik ist, oder ganz allgemein die gesellschaftliche Dynamik der Stadt, ist dabei nicht eindeutig auszumachen. Zu all diesen Gegensätzen und Spannungsfeldern kommen noch die Unterschiede in der Bevölkerungsstruktur der 26-Millionen-Stadt dazu. Die Grossstadt besteht mehrheitlich aus Zugewanderten, die aus allen Landesteilen Chinas kommen und versuchen, in Schanghai Fuss zu fassen. Es sind nicht nur die in unseren Medien beschriebenen Wanderarbeiter, sondern unter anderen sehr viele junge Studierende, die sich hier ihre Zukunft aufbauen wollen. Mit ihren Hoffnungen und Vorstellungen, mit ihrem Spagat zwischen Tradition und Moderne, haben wir uns beim Shanghai Film Lab 2016 befasst, das aus der Zusammenarbeit professioneller Schweizer Filmschaffender mit Studierenden der Shanghai Theatre Academy (STA) entstanden ist.

‹Triangle›-Workshop als Ausgangspunkt

Angefangen hat alles mit einem Kooperationsprogramm von drei Filmschulen aus Schanghai, Stockholm und Zürich, das ich mit zwei anderen Filmprofessorinnen 2008 gegründet hatte. Wir hatten uns an einem Kongress des Weltverbands der Filmhochschulen CILECT kennen gelernt und uns über die Möglichkeiten einer interkulturellen Zusammenarbeit unterhalten. Während mehrerer Jahre organisierten wir in der Folge unter dem Label ‹Triangle› Workshops, in denen die filmische Zusammenarbeit von Studierenden aus den drei Ländern erprobt wurde. Die schwedischen und chinesischen Studierenden trafen sich mit den schweizerischen zunächst an der Zürcher Hochschule der Künste, wo kollaborative filmische Etüden erarbeitet wurden. Der nächste Workshop fand in Schanghai statt, der übernächste in Stockholm. Die Studierenden nahmen die Herausforderung durch diese ihnen unbekannte Welt mit viel Neugierde an. Die gemachten Erfahrungen weckten Lust auf mehr.

Interkulturelle Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit zeigte aber auch grosse – manchmal unüberwindbare – Differenzen in der Denk- wie auch in der Herangehensweise auf. Während beispielsweise die europäischen Studierenden ihre Kreativität eher aus der Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Realität schöpften und einen freien künstlerischen Umgang pflegten, versuchten die chinesischen Studierenden, die bestehende künstlerische Praxis weiterzuentwickeln und zu perfektionieren. Sie konnten auf ein grosses Wissen über die Bedeutung und die Symbolkraft von Dingen zurückgreifen, das bei uns kaum (mehr) vorhanden ist. Auffallend war auch immer wieder das vorsichtige Herantasten in der gemeinsamen Planung. Eine zielgerichtete Projektplanung mit Meilensteinen, Terminen und Zieldefinitionen entspricht dem methodischen Vorgehen im Westen, stösst aber in China häufig auf wenig Begeisterung. Der China-Experte und bekannte Kunstsammler Uli Sigg, der seit den späten Siebzigerjahren eng mit chinesischen Unternehmen und Kunstschaffenden zusammenarbeitet, bezeichnet dieses analytische und deduktive Denken als eine europäische Besonderheit, die auf griechische Ursprünge zurückgeht.2 «Das chinesische Denken ist diesem Prinzip praktisch entgegengesetzt», erklärte er mir in einem Gespräch im Jahr 2004. «Alles Denken ist ausgeprägt handlungsorientiert.» Der chinesische Prozessablauf entwickelt sich deshalb viel offener und pragmatischer und kennt nur wenige Festlegungen. Das irritiert und verunsichert uns manchmal und zwingt uns, unser durchstrukturiertes Handeln zu hinterfragen. Mit Staunen stellte ich dann aber fest, dass auch dieser für uns ungewohnte Prozess zu einem guten Ende mit positivem Resultat führen kann.

Bildung und familiäre Zwänge

Auch nehme ich immer wieder wahr, dass die chinesischen Studierenden einen hohen Bildungsstand haben. Die Erziehung und die Ausbildung der Kinder sind eines der obersten Ziele, denn – und das weiss die Regierung – wirtschaftlicher Erfolg ist nur mit guter Bildung erreichbar. Eine Bildungsexpertin der Fudan University erzählt mir stolz, dass die chinesische Regierung den Bildungsetat gerade verdoppelt hat. Damit würden riesige Investitionen im Bildungssektor getätigt, Hochschulen ausgebaut und Forschungsvorhaben vorangetrieben. Gleichzeitig nährt diese Entwicklung die Hoffnung zahlreicher Familien, dass ihrem Kind eine erfolgreiche Zukunft offensteht. Da 1979 in China aus Versorgungsgründen die Ein-Kind-Regel eingeführt hatte, sind alle nach 1980 Geborenen einem hohen Erwartungsdruck von Eltern und Grosseltern ausgesetzt. Auf ihnen lastet die ganze Hoffnung einer Familie. Sie sind aber auch angehalten, als Erwachsene für das Wohl der Familie einschliesslich der älteren Generationen zu sorgen.

Wir treffen viele junge Leute, die mit diesem familiären Druck hadern. Dieses Thema zeigt sich in unseren Filmporträts immer wieder. Insbesondere die hohe Erwartung der Eltern und Grosseltern, möglichst bald zu heiraten und eine Familie zu gründen, lastet schwer auf den jungen Erwachsenen, die ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Dass diese Form der Familienpolitik nicht mitbedachte Nebenwirkungen hat und zu ernsthaften gesellschaftlichen Problemen führt, hat nun vor kurzem auch die chinesische Regierung erkannt. Sie hat die Ein-Kind-Politik aufgegeben und die jungen Familien dürfen heute wieder zwei Kinder haben.

Digitalisierung und Kommunikation

Der Wandel ist in China allgegenwärtig. Er geht einher mit einem raschen gesellschaftlichen Umbruch, der der Globalisierung geschuldet ist. China hat sich enorm verändert, und die starke wirtschaftliche Entwicklung und Öffnung gegenüber dem Westen hat dem Land ein entsprechendes Selbstbewusstsein verliehen. Nicht zuletzt ist es die Digitalisierung, die diesen Aufschwung beflügelt. Der Umgang mit elektronischen Kommunikationsgeräten durchdringt den Alltag in sehr viel stärkerem Masse als bei uns.

In China nutzen alle WeChat, die App, die neben SMS alle möglichen Kommunikationsarten integriert, wie Audio- und Bildnachrichten, Chats, aber auch als mobiles Zahlungssystem, für die Reservation von Taxis oder Restaurants oder das Verwalten von Arztterminen funktioniert und an das chinesische Facebook angeschlossen ist. Es ist längst kein Messengersystem mehr, sondern ein Konglomerat von Services, ein eigentliches Ökosystem mit über 650 Mio. Nutzer/-innen (Stand Ende 2016). Im Westen kennt man die App kaum. Während wir vor Jahren in China jeweils bei der Begrüssung freundlich Visitenkarten ausgetauscht haben, die wir dann schon am Abend nicht mehr auseinanderhalten konnten, scannt man jetzt kurz den QR-Code auf WeChat und kann dann neben der Kontaktadresse auch gleich die Person mit all ihren Vorlieben und ihren Beschäftigungen kennenlernen.

Die ‹Selbstdarstellung› auf WeChat nimmt eine wichtige Rolle ein. Dabei wissen die Leute genau, wie sie sich vor der Kamera aufstellen sollen, wie stark ihr Lächeln sein darf, wo sie ihre Hände halten müssen und wie ihre Fussstellung sein soll. Ihre Haltung wird zum Ausdruck. Sie werden unmittelbar zur Performerin oder zum Performer. Auf meine Frage, wie es dazu komme, dass diese Auftrittskompetenz so ausgeprägt sei, meinte ein Chinese, dass diese Kompetenz in der Schule durch das Rezitieren von Gedichten, von eigenen Vorträgen oder auch musischen Darbietungen wie Tanz und Musik von klein an stark gefördert werde. Mir fällt bei Seminaren mit chinesischen Studierenden auch immer wieder deren hohe Eloquenz auf. Sie nehmen eine selbstbewusste Haltung ein und zeigen geschulte Rhetorik und Konzentration.

Machen diese ausgeprägte Auftrittskompetenz und die Sprachfertigkeit das filmische Porträtieren einfacher? Oder verbirgt sich dahinter vielleicht sogar das Gegenteil, nämlich die Schwierigkeit, sich einer Person anzunähern und von ihr eine persönliche und offene Antwort zu erhalten? Mit diesen Fragen setzen wir uns im Shanghai Film Lab ständig auseinander.

Shanghai Film Lab 2016

Wie immer ist unsere Ansprechpartnerin die chinesische Professorin Fang Fang von der Shanghai Theatre Academy. Sie ist eine sehr anerkannte Dokumentarfilmerin mit vielen Auszeichnungen und einem hohen Bekanntheitsgrad. Vor dem Hintergrund einer langjährigen und bewährten Zusammenarbeit haben wir uns dieses Mal für eine aufwendigere Projektarbeit mit mehreren Kurzfilmen entschieden. Die westlichen Filmschaffenden sollen eine filmische Arbeit zum Thema ‹After Class› realisieren. Mit ‹After Class› sind die Aktivitäten ausserhalb des geregelten Studienplans an Universitäten gemeint. Das können musische, sportliche, künstlerische oder auch technische Aktivitäten sein, die chinesische Studierende frei wählen können. Mein Kollege Yunlong Song kennt die kulturellen Unterschiede, weiss um deren Risiken und Chancen und bringt sich souverän als künstlerischer Mentor und Vermittler ein.

Unsere Ausschreibung für interessierte Filmschaffende in der Schweiz, die in China Erfahrungen im dokumentarischen Arbeiten sammeln wollen, findet Anklang. Wir wählen zusammen mit den Verantwortlichen der STA die geeignetsten Kandidatinnen und Kandidaten aus und unterbreiten ihnen mögliche Sujets. Aus einer Liste mit rund 20 Vorschlägen wählen sie Sujets wie Drachentanz, Autorennen mit selbst entwickelten Fahrzeugen, Chorsingen, Fotografie und einige weitere aus. Es dürfte spannend werden, sind diese Freizeitpraktiken doch weitgehend Neuland für uns.

Filmrecherchen in Schanghai

Im Mai 2016 reisen wir mit neun experimentierfreudigen und hochmotivierten Filmschaffenden aus der Schweiz gemeinsam nach Schanghai, um Recherchen zu machen. Chinesische Filmstudierende haben bereits umfangreiche Vorarbeiten geleistet und führen uns an die Maritime University, wo unsere Filmschaffenden Drachentänzer/-innen kennen lernen und dem Training der Ruderer in den Drachenbooten beiwohnen. An der Tongji University treffen wir eine Gruppe von angehenden Autoingenieuren, die in einer Werkstatt selber Rennautos zusammenbauen. Die Ingenieur-Studierenden – es hat auch Studentinnen darunter – verbringen jede freie Minute in der Autowerkstatt und arbeiten gemeinsam an der Entwicklung der Fahrzeuge, die im Herbst bei Autorennen starten sollen, an denen verschiedene Hochschulen teilnehmen. Interessanterweise sprechen diese Studierenden mit uns Deutsch und freuen sich, ihre in Sprachkursen angeeigneten vortrefflichen Kenntnisse auszuprobieren. Die Studierenden träumen davon, sich später einmal bei einem grossen Autohersteller in Deutschland weiterzubilden. Einigen wird das auch gelingen, eröffnet ihnen doch diese renommierte Universität durch die Zusammenarbeit mit deutschen Automobilfirmen und technischen Hochschulen gute Chancen dafür. Deutschkenntnisse sind für die jungen Automobilfachleute eine Voraussetzung für die Qualifizierung in diesem Kontext, und dafür tun sie alles.

Wir bilden Filmcrews, erhalten technisches Filmequipment und stürzen uns in das unbekannte Campusleben der verschiedenen chinesischen Universitäten, deren Dimensionen sämtliche Vorstellungen übertreffen. Mehr als 20‘000 Studierende bevölkern jeden Campus, von denen jeder eine eigentliche Stadt bildet.

Sich kennen lernen, beobachten und Fragen stellen, das sind die ersten Schritte der Filmer/-innen. Und schliesslich gilt es, eine ‹Story› zu finden. Das Augenmerk der Regisseur/-innen liegt hauptsächlich auf den Protagonisten/ -innen und weniger auf den Aktivitäten. Die jungen Menschen interessieren ihre Lebensweise, ihre Wünsche und Hoffnungen, aber auch ihre Ängste. Für Chinese/-innen scheint es eher ungewöhnlich zu sein, dass Porträts von unbedeutenden Personen gemacht werden sollen. In ihrem Medienverständnis werden berühmte Persönlichkeiten oder erfolgreiche Menschen ins Scheinwerferlicht gerückt, nicht aber der ‹Mann von der Strasse› oder eine beliebige Studentin. Das sehen unsere Filmer/-innen anders: Sie filtern interessante Aspekte eines Studierendenlebens heraus und wollen daraus eine filmische Geschichte konzipieren.

Herausforderungen bei Interviews

Dieser dokumentarische Ansatz, der in der Schweiz Wurzeln und Tradition hat, stösst an der Shanghai Theatre Academy auf grosses Interesse. Er ist einer der Gründe für die Zusammenarbeit. Gleichzeitig ergeben sich unter den gegebenen Bedingungen Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Einerseits ist die Zeit zu kurz für eingehende Recherchen und für den Aufbau des nötigen Vertrauensverhältnisses, andererseits wollen oder können die Protagonisten/-innen nicht wirklich ihre persönliche Meinung preisgeben. Bei den Regisseuren/-innen macht sich Verunsicherung breit. «Wie komme ich an die Leute ran?», ist eine der grossen Frage im kreativen Prozess. Was ist der Grund dafür, dass Protagonisten/-innen nicht direkt auf eine Frage antworten? Verweigern sie sich oder verstehen sie die Frage nicht? Oder dürfen oder wollen sie nicht darauf eingehen?

Gemeinsam erörtern wir die Ursachen für diese schwierige und teilweise frustrierende Situation und versuchen, die Knacknuss analytisch anzugehen. Da ich bei den Recherchen der fünf Filmcrews nur punktuell dabei bin, jedoch als Projektverantwortliche alle Projekte überblicke, versuche ich, mit meinem Aussenblick die Drehsituation und dokumentarische Interviewtechnik mit ihnen zu reflektieren. Die Schwierigkeiten können einerseits den hohen Erwartungen eines Regisseurs geschuldet sein, anderseits auch mit der Interviewsituation zusammenhängen, die verhindert, dass das erwartete Resultat eintritt. Wir diskutieren verschiedene Interviewtechniken, die angewendet werden könnten, um der Situation gerechter zu werden. Wie können die vielleicht etwas zu offensiven und ungewohnten Fragestellungen den chinesischen Umgangsformen angepasst werden?

Da helfen die Ratschläge des künstlerischen Mentors Yunlong Song, der Hintergründe und Erläuterungen zu kulturellen Codes liefert. Und da sind hervorragende chinesische Produktionsleiterinnen, Kameramänner und Übersetzerinnen, die jeder Filmcrew praktisch Tag und Nacht zur Seite stehen. Auch sie sind jung und erleichtern den Zugang zu den Protagonisten/-innen, indem sie beispielsweise die Rolle der Interviewer/-innen übernehmen. Es zeigt sich einmal mehr, dass es eben keine Rezepte beim Filmemachen gibt, jedoch verschiedene Methoden und Ansätze, die ausprobiert werden können. Es freut mich, dass die ambitionierten Schweizer Filmer/-innen bereit sind, zu experimentieren und ihre eigene filmische Herangehensweise zu suchen.

Die Regisseur/-innen stellen sich auf die knifflige Situation ein und versuchen auf verschiedenen Wegen, zu persönlichen Aussagen zu kommen. Bei mehrfachen Treffen werden die Protagonisten/-innen lockerer. Wo sie weiterhin auf Granit beissen und sich die offene Haltung, die sie erwarten, nicht einstellt, suchen die Regisseure/-innen neue Gesichter. All das ist für Filmschaffende nichts Neues, aber unter Zeitnot kann das zur Belastung werden. Schliesslich dauern die Rechercheabreiten in Schanghai nur wenige Tage, und wir müssen nach zehn Tagen erste Arbeitsproben präsentieren.

Alle fünf Filmcrews schaffen es nach intensivem und pausenlosem Arbeiten, interessante Teasers, kurze Filme, zu realisieren. Die Überraschung ist perfekt! Alle sind erstaunt über die hohe Qualität der Recherchearbeiten und ihrer filmischen Präsentation. Für die chinesischen Partnerinnen und Partner ist klar, dass möglichst bald die eigentlichen Filmarbeiten stattfinden sollen. Wir kehren zurück in die Schweiz und überlegen uns die weiteren Drehvorbereitungen für den Herbst.

Die eigentlichen Dreharbeiten

Obwohl sich das Schanghai-Fieber etwas gelegt hat, sind die Filmschaffenden im Oktober wieder mit grossem Elan und Freude an Bord, um für fünf arbeitsintensive Wochen nach Schanghai zu gehen.

Zwischenzeitlich hat sich Schanghai schon wieder sichtbar verändert. Die Skyline ist um einen alle Bauwerke überragenden Wolkenkratzer von 632 m Höhe reicher geworden. Der Shanghai Tower ragt als zweithöchstes Gebäude der Welt in den Himmel. Nur der Burj Khalifa in Dubai ist noch höher.

Aber auch das Leben einzelner Protagonist/-innen hat sich in dieser kurzen Zeit verändert. So kann eine Hauptprotagonistin wegen Prüfungen nicht am Filmdreh teilnehmen. Ein anderer Dreh kann nicht realisiert werden, weil das Autorennen, auf das sich die Protagonist/-innen lange Zeit vorbereitet hatten, schon stattgefunden hat. Solche unerwarteten Neuigkeiten stellen die Filmschaffenden erneut vor ernsthafte Probleme. Zum Glück gibt es auch haufenweise positive Überraschungen, eigentliche ‹Geschenke› für die Filmer/-innen. So etwa die Protagonistin, die kurzfristig für den Film Between Classes There Are Dreams gefunden wird. Sie spielt in einer Theatergruppe mit und übt dort die Rolle einer buddhistischen Nonne, die dem puristischen Leben im Kloster entrinnen und einen Mann finden will. Die Protagonistin ist inspiriert von dieser Rolle, will vor ihrem 20. Geburtstag einen Freund kennen lernen und sucht ihn an einem echten Speed-Dating. Die filmische Geschichte vom Regisseur Simon Weber erzählt davon in eindrücklicher Weise.

Auch Franziska Schlienger wagt sich, einen Protagonisten zu porträtieren, den sie vorher noch nie getroffen hat. Er ist 25-jährig und hat bereits einen Namen als Stylist-Designer. Leicht könnte sich die Regisseurin vom glamourösen Lebensstil, seinem grosszügigen Atelier und dem neuen Porsche blenden lassen. Doch sie interessiert sich mehr noch für sein privates Leben und seine Herkunft, was kein leichtes Unterfangen ist. Die Zusammenarbeit mit einem jungen chinesischen Kameramann erweist sich bei diesem Dreh als Glücksfall, da dieser Chen Chen dazu bringt, seine unglaubliche Kindheitsgeschichte vor der Kamera zu erzählen und uns einen spannenden Einblick gewährt in seine Privatsphäre und in seine bäuerliche Familie auf dem Land. Seine Selbstdarstellungskompetenz beweist Chen Chen von der ersten Einstellung bis zur letzten, sei es im Scheinwerferlicht einer Show oder im Treppenhaus seines sehr bescheidenen Wohnhauses.

Dass sich das Leben der urbanen jungen Leute in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne befindet, zeigt sich auch im Projekt der Regisseurin Antonia Meile. Sie erörtert die Bedeutung des Drachens und findet interessante Aussagen bei Studierenden. Die Bilder vom Drachentanz von Stephan Huwyler bezaubern diesen Traum des ‹Rising Dragon›, den wir aufgrund unserer interkulturellen Auseinandersetzung in Schanghai als fast schon real empfinden. Ob das unsere Zuschauer/-innen im Westen auch tun werden, wird sich weisen.

Unsere Perspektive auf das Leben der jungen urbanen Studierenden ändert sich mit der zunehmenden filmischen Auseinandersetzung. Wohl spürt man den allgegenwärtigen Leistungswettbewerb, aber wir schärfen unseren Blick vermehrt auch für unkonventionelle Lebensweisen junger Chinesen und Chinesinnen. Da sind beispielsweise die Künstlerin in Traces on My Skin, die Stefanie Klemm mit ihrem Kameramann Tom Gibbons bei ihrem Fotoprojekt begleitet, oder das Blogger-Girl und der Philosophiestudent, die aus der Reihe tanzen und von Luzius Wespe und Lukas Gut in Sing a Rainbow porträtiert werden. Sie spüren in ihrer Filmarbeit dem Wunsch nach Selbstbestimmung nach. Und hier müssen wir feststellen, dass die jungen Leute – ob im Westen oder im Osten – diesen Wunsch als Herzensangelegenheit sehen.

Die filmischen Studien, die wir im ‹Shanghai Film Lab 2016› realisieren konnten, evozieren bei mir viele neue Fragen in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung Chinas. Welche Filmthemen wir als Nächstes in einem Kooperationsprojekt mit chinesischen Partnern untersuchen werden, wollen wir in diesen Tagen diskutieren. Zwar haben wir nicht dieselben Planungsmethoden, und vielleicht reiben wir uns an unterschiedlichen Finanzierungsmöglichkeiten, aber eines ist klar: Wir möchten den Austausch und die professionelle Zusammenarbeit trotz der Distanz und der kulturellen Unterschiede fortsetzen und dadurch sowohl unsere Erfahrungen in interkultureller filmischer Zusammenarbeit ausweiten als auch unsere künstlerische Experimentierlust ausleben.

Lucie Bader
Studium in Publizistikwissenschaft, Film und Medienmanagement in Zürich, Washington D.C. und Linz. 1992–2006 Dozentin und ab 2006–2012 Professorin und Co-Leiterin des Master-Studiengangs Film der Zürcher Hochschule der Künste. Während mehreren Jahren Mitglied der Eidg. Filmkommission, Präsidentin von Cinésuisse Vision 2002, Projektleitung Netzwerk Cinema CH der Fachhochschulen sowie Jurypräsidentin an Filmfestivals im In- und Ausland. Seit 2008 Mitglied der Schweizer Filmakademie und seit 2012 Vorstandsmitglied des Filmfesti­vals Fribourg. Seit 2013 In­haberin von ‹outreach gmbh› und Lehrbeauftragte an der Universität Fribourg. Seit 2014 Verlagsleiterin des Cinébulletin und seit 2016 Projektleiterin und Produzentin Shanghai Film Lab.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]