Die Frage nach der Zukunft zielt mitten in das Wesen des Archivs und dessen Aufgaben und Tätigkeiten. Aleida Assmann beschreibt das passive Ansammeln im Archiv als eine Funktion des Speichergedächtnisses. Als Teil des kulturellen Gedächtnisses, das immer Mechanismen des Vergessens und des Erinnerns beinhaltet, umfasst das Funktionsgedächtnis die einer jeweiligen Gegenwart präsente Erinnerung und Geschichte. Im Gegensatz dazu nimmt das Speichergedächtnis seit der Entstehung der Schriftkultur diejenigen Dokumente auf, die ihren Gebrauchswert und ihre Relevanz vorerst verloren haben. Sie bewahrt sie für eine spätere Aktualisierung und stellt so langfristig eine mögliche andere Geschichte zur Verfügung. Das Archiv wird damit zum Ort, der einen zukünftigen Zugang zu einer anderen Vergangenheit ermöglicht als der einer jeweiligen Gegenwart.1
Nur was also das Archiv als Speichergedächtnis bereitstellt, kann durch eine zukünftige Nutzung erinnert und als Teil eines kollektiven Gedächtnisses aktualisiert werden. Die Auseinandersetzung mit Fragen des Archivs, Mechanismen der Erinnerung und des Gedächtnisses sowie des Zugangs zu Wissensbeständen hat dabei in den letzten Jahrzehnten im Kontext eines kulturwissenschaftlich geprägten Diskurses quer über verschiedene Fachbereiche eine Konjunktur erfahren.2 Auch in der Film- und Medienwissenschaft werden das Erinnerungspotenzial von Fotografie und Film und deren Bedeutung für die Geschichtsschreibung und für ein kollektives Bildergedächtnis intensiv diskutiert.3 Selten jedoch wurde dieser Diskurs auf institutionelle Praktiken des Archivs bezogen. Denn was Aleida Assmann auf einer abstrakten Ebene beschreibt – die Aus- und Abwahl von Dokumenten, das aktive Vernichten, aber auch das eher zufällige Vergessen oder Vernachlässigen –, gehört zum Alltag jeder archivischen Praxis. Um der Aufgabe des Bewahrens nachzukommen, sind spezifische Techniken erforderlich. Eine Auseinandersetzung mit Methoden der Übernahme, Bewertung, Erschliessung und Nutzung von Beständen hat in der Archivwissenschaft eine lange Tradition. Diese Disziplin stellt der entsprechenden Tätigkeit Methoden und Terminologien bereit, die sie primär anhand der Funktionsweisen der staatlichen Behörden und der diesen zugeordneten Archive ausbildete.
Wir interessieren uns im Folgenden für die konkrete Praxis im Archiv und die Schnittstelle zur Archivwissenschaft und diskutieren dies anhand eines in der Cinémathèque suisse zu beobachtenden Paradigmenwechsels. Die Archivwissenschaft, die sich ab dem 19. Jahrhundert aus der Praxis der Verwaltungsarchive entwickelte, hat sich bisher nur marginal mit spezifischen Fragestellungen und Herausforderungen von Institutionen ausserhalb der staatlichen Überlieferung beschäftigt. Diese Spezialarchive wiederum nahmen nur teilweise Bezug auf den archivischen Fachdiskurs.4 Im Departement Non-Film der Cinémathèque suisse werden im Bereich der Papierarchive und der Dokumentation zunehmend archivwissenschaftliche Methoden angewendet, allen voran das für die Disziplin so zentrale Provenienzprinzip. Dieser Paradigmenwechsel steht im Zentrum unserer Ausführungen, denn er ermöglicht nicht nur einen selbstreflexiven Blick auf historische und gegenwärtige Sammlungs- und Bearbeitungspraktiken, sondern lässt auch wesentliche Merkmale der archivischen Fachdisziplin und deren Anschlussfähigkeit und Erweiterung in Spezialarchiven sichtbar werden. Über die konkrete Darstellung der Praxis hinaus verorten wir so Filmarchive in ihren historischen und diskursiven Zusammenhängen und beleuchten bisher zu wenig fruchtbar gemachte Schnittstellen.
Zwischen Verwaltungspraxis und Kultur
Während ein metaphorisches Sprechen über das Archiv einen vielfältigen, sich kaum auf eine bestimmte Definition festzulegenden Archivbegriff hervorgebracht hat, haben sich innerhalb der Archivwissenschaft zentrale und stabile Terminologien für unterschiedliche Bestandstypen ausgebildet.5 Dabei wurde vor allem ein Verständnis einflussreich, das den Terminus an die Produktionsweise der Dokumente rückbindet. Anders als die von der Bibliothek gesammelten publizierten Dokumente geht Archivgut als Nebenprodukt der Geschäftstätigkeit einer Organisation oder Person hervor. In der staatlichen Verwaltungspraxis sind Archive den jeweiligen Behörden zugeordnet, um deren Aktenproduktion – bis in die jüngste Zeit meist Papierakten – aus der Registratur ins Archiv zu übernehmen und für die Nachwelt zu sichern. Die Gesamtheit der organisch gewachsenen Unterlagen, die bei einem Produzenten im Rahmen der Ausführung einer Tätigkeit entstehen, werden als Bestand ins Archiv überführt und nach dem für die moderne Archivwissenschaft zentralen Provenienzpinzip geordnet und erschlossen.6 Im Unterschied zum Pertinenzprinzip – einer sachsystematischen Ordnung, bei der Dokumente thematisch sortiert werden – geht dieses davon aus, dass sich die Aussagekraft der einzelnen Dokumente als Quellen nur in der Einheit dieser organischen Struktur entfaltet. Wie in zahlreichen Fachdiskussionen deutlich wird, geht die Bedeutung der Provenienz dabei über die reine Angabe der Herkunft hinaus: Sie richtet sämtliche Prozesse der Überlieferungsbildung, Bewertung, Erschliessung und Konservierung am Entstehungszusammenhang aus.7 Die Bestandsbildung und -abgrenzung, Bewertung und Erschliessung orientieren sich am Aktenbildner und zielen auf die Bewahrung des Inhaltes und der Struktur, in der Annahme, dass vor allem auch der Erhalt der Letzteren die Aussagekraft der Quellen mitbestimmt. Bestände werden nicht neu geordnet, sondern integral übernommen, das Bestehende wird möglichst getreu abgebildet, denn die Aussage der Quellen wird nur im Entstehungskontext deutlich. Staatsarchive verwalten dabei teilweise auch Privatarchive; überliefert wird aber mehrheitlich, was in die behördlichen Verwaltungsakten eingeht, und die Bearbeitungsprozesse werden möglichst standardisiert. Diese meist national oder regional organisierten Gedächtnisinstitutionen erfüllen einen demokratischen Auftrag. Wie es in der Schweiz etwa das Bundesgesetz über die Archivierung für das Bundesarchiv festlegt, dienen sie der Nachvollziehbarkeit des politischen Handelns, der Rechtssicherheit und der Ermöglichung der historischen Forschung.8
Anders als die Bibliothek oder das Museum sind Archive also nicht Teil des allgemeinen Kulturerbes, sondern sie verweisen auf die jeweilige Behörde. Es gibt keine Sammlungspolitik, denn Archive sammeln nicht, sondern sie sind zuständig für die Unterlagen der Behörden, die übernommen werden. Wie Wolfgang Ernst festhält, unterscheidet sich das Archiv von der Bibliothek durch «die Herkunft aus der Geschäfts- und Verwaltungssphäre (und nicht des kulturellen Diskurses)».9 Herbert Kopp-Oberstebrink beobachtet in der Diskussion um Literaturarchive in Deutschland im späten 19. Jahrhundert die Entstehung eines Typus des kulturellen Archivs und dessen kulturwissenschaftliche Theoretisierung.10 Im Gegensatz zu Beständen staatlicher Provenienz, die gemäss der Struktur der jeweiligen Verwaltung ins Archiv überführt werden, sammeln Filmarchive Materialien, die Einzelpersonen oder juristische Personen als Depot hinterlegen oder als Schenkung übergeben. Im Bereich solcher privater Akquisitionen gestaltet sich jede Standardisierung schwierig. In der Schweiz besteht zwar eine Archivierungspflicht für vom Bundesamt für Kultur geförderte Filme, aber es fehlt eine umfassende Hinterlegungspflicht für sämtliche nationale Produktionen in Form eines Dépôt légal, wie es in gewissen Ländern üblich ist.11 Übernahmen erfolgen auf freiwilliger Basis. Stärker also als im Staatsarchiv ist das, was ins Archiv kommt, auch einer gewissen Zufälligkeit und Willkür geschuldet. In einem archivwissenschaftlichen Kontext definiert sich der Begriff der Sammlung immer in Abgrenzung zum oben beschriebenen Archivbestand. Die Kohärenz einer Sammlung geht nicht aus einer sich in der Organisation der Akten abbildenden internen Funktionslogik der abgebenden Behörden hervor, sie entsteht nicht prozessbezogen und vorstrukturiert durch die Arbeit eines Produzenten. Ihr Material wird aktiv gemäss gemeinsamen thematischen oder formalen Kriterien zusammengestellt. In der heutigen Archivlandschaft ist eine Vielzahl derartiger Gedächtnisinstitutionen zu finden, deren Gründungen oft auf private Initiativen zurückgehen. Markus Friedrich verortet in der Entstehung von Sammlungen und deren Diskussion eigentliche Kernfragen des Archivierens und dessen gesellschaftlicher Bedeutung. Nach ihm könnte man die Cinémathèque suisse als sammelndes Archiv bezeichnen, das «suchend und findend» agiert, es entstehen nicht organische, aber «organisierte Bestandsbildungen», die Sammlung ist «gemacht» und «aktiv geschaffen».12 Ihre zunehmende Verbreitung verweist auf die Erkenntnis, dass sich wesentliche Aspekte der Geschichte ausserhalb der staatlich organisierten Behörden abspielen. Filmarchive und die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit, die sie im Kontext einer immer stärker visuell geprägten Kultur und Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren haben, stehen paradigmatisch für eine solche Entwicklung.
Sammlungsparadigmen
Wie Anna Bohn festhält, ist die Geschichte der Filmarchivierung noch nicht geschrieben.13 Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte und Erscheinungsweise von Filmarchiven zeigt eine heterogene Landschaft, in der man diverse Verständnisse des Objekts Film und Herangehensweisen an dessen Archivierung und Überlieferung vorfindet. Es lassen sich dabei zwei grundsätzliche Tendenzen ausmachen, die mit unterschiedlichen Verständnissen des Mediums Film korrespondieren und sich jeweils eher im Bereich des Films respektive des Archivs verorten. Die Gründung von bis heute bedeutenden Filmarchiven in den 1930er-Jahren in Europa und den USA – etwa der Cinémathèque française (1936) oder der Film Library des Museum of Modern Art (1935) – markierte den Beginn eines Sammlungsparadigmas, das sich in der Folge stark auf den Film als Kunst fokussierte. Diese Gründungen situierten sich im Kontext eines zeitgenössischen Diskurses über den Film als neue Kunstform und trugen zu dessen Ausformung und Etablierung bei. Mit ihrer Sammlungs- und Vermittlungstätigkeit partizipierten die Archive an der Erstellung eines bis heute einflussreichen Kanons, der Film als nationalkinematografisch ausgerichtetes Autorenkino entwirft. Ihr hegemonial gewordenes Verständnis verdrängte lange andere filmische Formen, weshalb ihre Tätigkeiten heute auch in Bezug auf Mechanismen der Kanonisierung, des Ein- und Ausschlusses und der Zugänglichkeit diskutiert wird.14
Neben solchen einflussreichen Kinematheken und Filmmuseen gab es früh auch Archivgründungen, die nicht in einem ästhetisch und kunstgeschichtlich orientierten Rahmen entstanden. Alexander Horwath verweist etwa auf die ethnologisch ausgerichtete Sammlung des Industriellen Albert Kahns, heute als Les Archives de la Planète in Paris aufbewahrt.15 Hier zeigt sich ein Sammlungsparadigma, das sich weniger für den ästhetischen als für den informativen und historischen Gehalt des Mediums interessiert und in Archivgründungen und Sammlungen seinen Niederschlag fand, die jedoch lange wenig sichtbar wurden. Die Rede von Film als Quelle oder Kulturerbe hat einem solchen Sammlungsinteresse neue Legitimität verschafft. Anna Bohn zeichnet in einer umfassenden, international ausgerichteten Studie nach, dass Film erst spät Anerkennung als schützenswertes Kulturerbe gefunden hat.16 Die Errichtung unterschiedlichster Einrichtungen zur Bewahrung von Film bedeutete nicht automatisch, dass das neue Medium damit als Kulturerbe anerkannt wurde. Diese Entwicklung erfolgte im Bereich des Films erst spät und ist bis heute nicht abgeschlossen. Sich unter Druck der Digitalisierung nochmals verschärfende Defizite im Bereich der Überlieferung, Konservierung und Zugänglichkeit dominieren die seit den 1950er-Jahren intensiver geführte Diskussion um den Schutz des Films als Kulturgut. Unter Einfluss von gesellschaftlichen und medialen Veränderungen erfuhr diese erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Aufschwung, was sich, wie es etwa in internationalen Vereinbarungen der UNESCO deutlich wird, auch politisch auswirkte.17 In der Schweiz ist die 1995 erfolgte Gründung von Memoriav, dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz, Ausdruck eines politischen Willens zur Filmarchivierung. Diese Gründung erfolgte nicht zuletzt als Reaktion auf Forderungen seitens der Geschichtswissenschaft und Archive. 2006 folgte mit dem Bericht «Memopolitik» des Bundesamts für Kultur der Versuch einer sämtlichen Gedächtnisinstitutionen übergeordneten nationalen Gedächtnispolitik, die explizit formulierte, dass es sich dabei nicht um ein objekthaftes Verständnis von Kunst handelte, sondern «um Kultur im Sinne des weiten Begriffs der Kulturgeschichte. Es geht um das Gedächtnis und Erbe der Gesellschaft schlechthin.»18 In dieser Konsequenz erfolgte in der Schweiz etwa kürzlich die Online-Stellung der Schweizer Filmwochenschauen auf der Memobase, dem von Memoriav betriebenen Archivportal.19
Damit rücken also auch Filmformen in den Blick, die lange nicht zuvorderst im Fokus der kunsthistorisch orientierten Kinematheken standen. International einflussreich wurde etwa Rick Prelinger, der seit den 1980er-Jahren ephemere Filme sammelt und diese in der aktuell in San Francisco beheimateten Prelinger Library und online zur Verfügung stellt. Solche Industrie-, Tourismus- oder Amateurfilme rückten auch in die Aufmerksamkeit der filmwissenschaftlichen Forschung, die spätestens seit der ‹New Film History› eine ausschliessliche Geschichtsschreibung des Films als Kunst hinlänglich infrage gestellt und neue Forschungsgebiete etabliert hat. Diese nehmen etwa technische Aspekte, die Rezeption und Produktion oder den Gebrauch von Medien in den Blick und berücksichtigen und bewerten dabei auch neue und nicht filmische Quellen.20
Archivwissenschaftliche Techniken des Bewahrens
In allen grösseren Archiven liegen solche meist als Non-Film oder filmbegleitende Sammlungen bezeichnete Materialien vor: Bilder, Plakate, technische Apparate, Bücher und Zeitschriften, Drehbücher und Papierarchive. Auch wenn diese in den Statuten der Internationalen Vereinigung der Filmarchive (FIAF) als gleichsam natürlicher Bestandteil des Aufgabenbereichs mitgenannt werden, so rückten sie bisher nur selten in den Blick – etwa als Erwähnung von Kontextmaterialien bei Restaurierungsprojekten – und definieren sich stets in Abhängigkeit zum Film als zentrales Objekt.21
Da sich diese Sammlungen Dokumenttypen mit staatlichen Archiven teilen, liegt hier vielleicht das grösste Potenzial einer engeren Anbindung an bewährte archivwissenschaftliche Methoden. In der Cinémathèque suisse kommt das Provenienzprinzip zurzeit – wie im Archivkatalog Caspar in der Bestandsbeschreibung von zurzeit sich in Digitalisierung befindlichen Dokumentationsdossiers festgehalten wird – unter anderem im Bereich der Dokumentation zur Anwendung.22 Die dort formulierten Beobachtungen können teilweise auf die in der Abteilung Dokumentationsstelle Zürich vorliegende Dokumentation übertragen werden. Diese entstand im Kontext der kirchlichen Filmarbeit.23 Seit den 1940er-Jahren waren das Filmbüro der katholischen Zeitschrift Der Filmberater und ihr Redaktor, der Jesuit Charles Reinert, in Zürich angesiedelt. Die Dokumentationsdossiers wurden von Reinert und seinen Nachfolgern angelegt und dienten primär der eigenen journalistischen Tätigkeit. Das Wissen über Film zu systematisieren und zugänglich zu machen war ein zentrales Anliegen der kirchlichen Filmarbeit, was sich etwa in der Veröffentlichung des ersten Filmlexikons im deutschsprachigen Raum zeigte und später in Datenbankprojekten für eine helvetische Filmografie eine Fortsetzung fand.24 Dennoch wurde die Dokumentation nicht im heutigen Selbstverständnis einer Gedächtnisinstitution, die einem gesellschaftlichen Auftrag des Archivierens nachkommt, angelegt, sondern sie bildete sich aus dem Bedarf der im Zentrum stehenden eigenen journalistischen Tätigkeit heraus. Erst nach und nach wurde sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine öffentlich sichtbare institutionelle Form erhielt sie 1992, als auch aufgrund von ökonomischem Druck die Dokumentation der katholischen und evangelisch-reformierten Kirchen zur gemeinsamen ZOOM Dokumentation für Film in Zürich zusammengeführt wurde. Die Gleichzeitigkeit der internen und externen Nutzung zeigt sich in Jahresberichten und Arbeitspapieren; während in Letzteren vor der Fusion die interne Nutzung allerdings noch meist zuerst genannt wird, heisst es im Jahresbericht 1992 eingangs: «Die ZOOM-Dokumentation ist eine öffentlich zugängliche Einrichtung des Katholischen und Evangelischen Mediendienstes.»25 Das bedeutet kaum, dass die Bestände von der Öffentlichkeit weniger genutzt wurden als heute, aber dass bei der Verwaltung der Sammlung eine andere Perspektive dominierte.
Aufgrund der sich mit der Digitalisierung verändernden Medienlandschaft wird heute nur noch punktuell physisch gesammelt und die Filmdossiers werden seit 2016 nicht mehr ergänzt. Diese Praxis des Sammelns ist selber historisch geworden.26 In Penthaz wurde die vergleichbare Sammlung abgeschlossen und wird seit 2010 nicht mehr weitergeführt, sondern, wie es in der Bestandsbeschreibung heisst, nun als Archivbestand bearbeitet: «Surtout, il opère un changement de paradigme: il met en œuvre une approche archivistique, et non plus documentaliste ou journalistique. Cette approche met en évidence la structure organique des fonds.»27 Diese Herangehensweise ermöglicht Fragen nach der Struktur der Dokumentation, ihrer Geschichte sowie auch nach dem Verständnis des Sammlungsgegenstands, das sich in ihr abbildet. So verweisen vielleicht die unterschiedlichen Ordnungen der Dossiers auf ein anderes Verständnis von Film: In Penthaz sind die Dossiers nach Regie geordnet, in Zürich hingegen nach Film. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Idee des Autorenfilms in Penthaz von Anfang an präsent war, während die kirchliche Filmarbeit sich weniger für ästhetische Fragen interessierte. Für die Filmbewertungen des Filmberaters waren lange moralische Kriterien zentraler, das Interesse galt weniger dem Film als Kunstform denn dessen gesellschaftlicher Bedeutung und Einfluss.
Auch die Materialität und die Form der Sammlung geraten in den Blick. Hierbei fällt auf, dass der Umgang mit den Dokumenten ein ganz anderer war. Weil diese mehrfach gesammelt wurden, liegen heute zahlreiche Dubletten, ja teilweise redundante Sammlungen vor. Die Dokumente darin wurden nicht verzeichnet, jedoch verliehen, getauscht, verschickt, geklebt und gefaltet. Nach Anke te Heesen, die Zeitungsartikelsammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts untersuchte, ging es nicht nur um Qualität, sondern auch um die Quantität:
Das Sammeln und den Besitz des Reproduzierten diagnostizierte er [Walter Benjamin, Anm. d. A.] als die eine spezifische Aneignungsform, die schon das ausgehende 19. Jahrhundert bestimmte. Damals sei ein neuer Typ von Sammler entstanden, der ‹Typus des ramasseur› […] Dieser Typ des Sammlers und die Eigenschaften der Reproduktionstechnik vermählten sich in der Zeitungsausschnittsammlung. Auch diese war eher an Quantität denn an Qualität orientiert, auch für diese war entscheidend, dass man der einzelnen Artikel habhaft wurde und aus ihnen eine neue Wirklichkeit oder eine Papier-Persona herstellte.28
Im Vergleich zu früher hat sich also auch das Sammeln selbst verändert. Heute geht es weniger darum, der Dinge habhaft zu werden, sondern es dominiert eine logistisch und bewahrend geprägte Perspektive, die auf die rasche Bereitstellung einer grossen Menge von Dokumenten zielt. Bei der Bearbeitung muss dabei ein Kompromiss gefunden werden: Dubletten werden heute meist kassiert – wie das Wegwerfen in der archivischen Terminologie heisst –, dies wird aber dokumentiert, um Bearbeitungsprozesse für die zukünftige Nutzung nachvollziehbar zu machen.
Das Provenienzprinzip wird in der Cinémathèque suisse auch im Bereich der Papierarchive angewendet. 2014 wurde mit der Abteilung für Papierbestände eine Abteilung geschaffen, welche die Natur dieser Sammlung klar von anderen abgrenzt. Die eindeutige Klassifizierung erleichtert es, in diesem Bereich konsequent archivwissenschaftliche Methoden umzusetzen. Die Bestände werden im Katalog Caspar nach einheitlichen Verfahrensweisen entweder von der betreffenden Abteilung in Penthaz oder – für die in der Deutschschweiz konservierten Dokumente – von der Dokumentationsstelle Zürich bearbeitet und sind gemäss den internationalen Normen ISAD(G) und ISAAR erschlossen.29
Karianne Fiorini aus dem Archivio Nazionale del Film di Famiglia (ANFF) in Bologna legt dar, dass ein solches Vorgehen auch im Bereich des ephemeren Films zentral ist. Die dortigen Amateurfilmbestände werden nach einem Metadatenschema verzeichnet, dem bibliothekarische sowie auch die oben genannten archivwissenschaftlichen Normen zugrunde liegen. Diese Bearbeitung, die eine hohe Kontextualisierung und Informationsdichte impliziert, ist darauf ausgerichtet, die Dokumente in öffentliches Kulturgut zu verwandeln, «das allen zur Verfügung steht» und damit «die Nutzung dieser Filme vollkommen zu verändern»30. Die gesellschaftliche Bedeutung des Archivs liegt also darin, nicht selbst Vergangenheit anzubieten, sondern den Zugang zu ihr herzustellen.31 Die Bedeutung des Archivguts darf nicht, wie es Philipp Messner in einer kürzlich publizierten Kritik am Archivbegriff verschiedener künstlerischer Forschungsprojekte auf den Punkt brachte, kuratorisch festgeschrieben werden, sondern sie wird in ihrer Vielfalt offen gehalten, um damit «auf die nachhaltige Ermöglichung einer möglichst vielfältigen Nutzung von Archivgut durch eine möglichst breite Öffentlichkeit» zu zielen.32 Denn – um auf unser Ausgangsthema zurückzukommen – erst in dieser Bearbeitung entsteht eine potenziell andere zukünftige Vergangenheit.
Im oben erwähnten Bereich der Bewertung und Kassation zeigt sich aber, dass die Anwendung von in Staatsarchiven praktizierten Methoden in Spezialarchiven nur punktuell erfolgt. Aufgrund des heterogenen und kaum seriell strukturierten Charakters von privaten Nachlässen wird kaum bewertet und kassiert. Auch andere Arbeitsbereiche eines sammelnden Archivs unterscheiden sich stark von Verwaltungsarchiven. Markus Friedrich plädiert daher dafür, eine jüngere, methodisch veränderte Auffassung zu stärken, die weniger die Struktur der Bestände als die soziale und kulturelle Praxis des Archivierens als ein entscheidendes und gemeinsames Merkmal sieht.33 Damit rückte ein hybrides Gebilde wie die Cinémathèque suisse, das gleichzeitig Sammlung, Archiv, Museum, Bibliothek und Dokumentation ist, mit anderen bisher peripheren Archiven ins Zentrum und neue Parallelen und Gemeinsamkeiten würden sichtbar.
Das Archiv als Akteur
Der Anschluss an die Archivwissenschaft kann also hilfreich sein, da sie ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, das auf den gesellschaftlichen Auftrag des Archivs zielt, Bestände einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und ihre Bedeutung möglichst offenzuhalten. Gleichzeitig stösst die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung ein Denken auf einer theoretischen Ebene an, das darauf aufmerksam gemacht hat, dass Archive Ordnungen der Vergangenheit herstellen und sich daran beteiligen, was auf welche Weise erinnert werden kann:
Als Figur einer Vermittlung zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen ist das Archiv zum Schlüsselbegriff einer Geschichts- und Kulturtheorie avanciert, die nicht mehr von der Vorstellung einer Abbildung des Vergangenen, sondern von der Idee einer Codierung des Geschichtlichen ausgeht. Archiv meint folglich eine Instanz, die eine Ordnung der Vergangenheit produziert, anstatt diese – wie die Geschichtswissenschaft – zu repräsentieren. Aufgrund dieser Logik eines Zuvorkommens kann von einem Apriori des Archivs gesprochen werden: Archive gehen der Geschichtsschreibung voraus, die deren Effekt ist.34
Die Praktiken des Archivs offenzulegen und das Archiv als Akteur zu verstehen schliesst an einen solchen poststrukturalistisch beeinflussten Archivbegriff an. Wie auch am Beispiel der grossen Filmarchivgründungen der 1930er-Jahre deutlich wird, partizipieren Archive an den Prozessen, die den Sammlungsgegenstand hervorbringen und sichtbar machen. Als ‹Orte filmischen Wissens› beteiligen sie sich am Verständnis des Objekts Film – in diesem Fall eines Verständnisses des Films als Kunst innerhalb des dominierenden Dispositivs des Kinosaals. Sammlungsparadigmen sind dabei an wirkungsmächtige zeitgenössische Diskurse gekoppelt, sie sind beeinflusst von aktuellen Forschungsfragen und -richtungen und stehen in einem engen Wechselverhältnis zu fachlichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Das Objekt im Archiv unterliegt unterschiedlichen Verständnissen und Konzepten von Film und anderen damit zusammenhängenden Sammlungsgegenständen.
Im Zeitalter der Digitalisierung ist dabei ein Bewusstsein für diese Prozesse besonders wichtig, denn die Erscheinungsweise und die Zeitlichkeit des Objekts im Archiv sind noch fragiler geworden. Die Digitalisierung verändert sowohl für die analogen als auch digitalen Bestände die bisherigen Zyklen des Vergessens, Erinnerns und Speicherns. Aufgrund rasch wechselnder Technologien und der Gefahr der Obsoleszenz drohen analoge Dokumente verloren zu gehen und digitale erfordern nach ihrer Entstehung eine rasche Übernahme und Einspeisung in ein Langzeitarchiv, das sie kontinuierlich kontrolliert und periodisch migriert. Die Digitalisierung verändert zudem nicht nur den Gegenstand Film, sondern hat auch herkömmliche Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen aufgelöst und diversifiziert. Die Frage nach der Zukunft der Filmwissenschaft, wenn sie keine Kinowissenschaft mehr ist, betrifft auch die Archive. Giovanna Fossatis Aufruf folgend, sollte im Dialog von Theorie und Praxis bestimmt werden, wie die Zukunft des Filmarchivs aussieht, wenn es kein solches mehr ist. 35