BETTINA SPOERRI

UN JUIF POUR L’EXEMPLE (JACOB BERGER)

SELECTION CINEMA

Viele Verbrechen möchten manche lieber schnell vergessen – so auch den rassistisch motivierten Mord an einem Juden im Waadtland 1942 durch eine Gruppe von Schweizer Hitlerverehrern. Diese erschreckende, ja bittere Erfahrung musste der Westschweizer Autor Jacques Chessex machen, als er 2009 seinen Roman Un juif pour l’exemple veröffentlichte. Statt einer Reflexion auf die Tat und ihr Biotop, löste die Erinnerung an den Mord und das Gedenken des Opfers in Form des literarischen Textes Aggression gegen den künstlerischen Botenträger aus. Berger greift in seinem Spielfilm mit dem gleichnamigen Titel klugerweise nicht nur die historischen Vorgänge auf, sondern verbindet sie mit der Entstehung und Rezeption des Romans. So schafft er eine Rah­menhandlung aus unserer Gegenwart, eine Art Palimpsest, in dem die Zeitebenen ineinander verwoben werden und sich auch in (absichtlichen) Anachronismen kristallisieren: ein narratives Verfahren, das die andauernde Aktualität des Stoffes herausstellt.

Der Film beginnt mit einem Chessex (André Wilms, Kaurismäkis Melancholiker), der sich verständnislose Kritikerworte zum Roman anhören muss: «Der erste Teil ist guter Chessex, aber …», «morbide und schmierig», «schade, dass es so endet»; keine der zitierten Stimmen geht auf sein Anliegen ein, von einem Mord zu erzählen, der sich in seinem Geburtsort Payerne ereignet hat, als er selbst acht Jahre alt war – und seinen Tabubruch: tötende Schweizer Nazis. In Tableau-artigen Szenen skizziert der Film die Umstände – die Armut der Bauern, die Flüchtlinge, die man verjagt, konspirative Nazianhänger-Treffen –, führt die Hauptfiguren ein: den Garagisten Ischi (Aurélian Patouillard), aspirierender Gau­leiter der Waadt mit Geisteskumpanen, den jüdischen Viehhändler Arthur Bloch (Bruno Ganz) und seine Frau, einige Dorfbewohner. Und das Kind, das Chessex damals war. Es kommt, wie es geschah: Bloch wird ermordet, wie ein Schlachtschwein zerlegt.

Berger hält sich an Chessex’ Erzählton: Die Bilder (Kamera: Luciano Tovoli) schildern die Vorgänge mit Zurückhaltung, in nüchterner, manchmal heftiger Direktheit, die Regie bezieht Stellung. Die Stärken des Films sind die Intelligenz seiner doppelten (Meta-)Struktur, die uns hinter die Kulissen und auf heute schauen lässt, das überzeugende Ensemble der Schauspieler, die durchdachte visuelle Komposition. Die Wirkung des Gezeigten wäre aber dringlicher, hätte man sich darauf besonnen, dass das Böse oft scheinbar harmlos daherkommt; vor allem die Monstrosität der Zeichnung Ischis als Grössenwahnsinniger, der seine Geliebte misshandelt (das Buch modelliert seine perverse Fixierung auf unheimlichere Art), macht es jenen, die Vergangenheit Vergan­genheit sein lassen wollen, doch etwas einfach.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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