Babette Bürgi, 1988 in Zürich geboren, hat 2014 an der Universität Zürich den Master in Kulturanalyse und Populäre Kulturen mit ihrem Regieerstling Weder Noch mit Bart abgeschlossen. Der ethnografische Film feierte an den Solothurner Filmtagen und an diversen Transgender- und ethnografischen Filmfestivals grosse Erfolge. Bürgi besitzt holländische Wurzeln und lebt seit 2015 in den Niederlanden, wo sie zurzeit als Co-Regisseurin den neuen Film Between War and Waiting lanciert.
Ich habe Babette Bürgi zu einem Gespräch über ihren Film Weder Noch mit Bart getroffen. In ihrer Masterarbeit verfolgte sie das Ziel, Theoretisches anhand von persönlichen Geschichten in einen Film zu transformieren. ‹Transgender› ist laut Bürgi visuell gut darstellbar und bot sich daher für dieses Projekt an. Bereits während ihres Studiums setzte sie sich zudem intensiv mit Gendertheorien auseinander. Sie war bei Rosarot (Zeitschrift für feministische Anliegen und Geschlechterfragen der Universität Zürich) aktiv und bekam so Kontakt zur queer1-feministischen Szene. In ihrem Film Weder Noch mit Bart geht Babette Bürgi der Frage nach, wie ambige und divergente Geschlechterdarstellungen gelebt und performativ ausgelebt werden. Die Kamera begleitet zwei Protagonist_innen*2 in die Queer-Kultur. Bürgi hat sich absichtlich zwei Protagonist_innen* ausgesucht, die nicht operativ in einen Mann oder eine Frau umgewandelt sind, sondern mit ihren äusseren Körpermerkmalen darstellen, dass sie ausserhalb der Geschlechter leben. Romeo Koyote Rosen lebt in Winterthur und fühlt sich am wohlsten mit Bart und hohen Schuhen. Mike_Mirjam – mit Bart und abgebundenen Brüsten, ein Leben zwischen Universität und Schwulenbar – studiert in Utrecht; geboren als Mirjam fühlt sie_er sich oft mehr als Mike.
ROWENA RATHS: Warum hast du als Kulturwissenschaftler_in* für dein Thema das Medium Film gewählt?
BABETTE BÜRGI: Ich wollte das Künstlerische mit dem Wissenschaftlichen vereinen. Das Realisieren eines Filmes ist ein sehr kreativer Schaffensprozess, der sich bestens mit der Methode der visuellen Anthropologie zur Analyse dieses Themas eignet. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einige ethnografische Kurzfilme realisiert.
RATHS: Hast du dich von anderen Filmen inspirieren lassen?
BÜRGI: Der Film Venus Boyz von Gabriel Baur (CH/DE/US 2002) war eine grosse Inspiration. Daher enthält Weder Noch mit Bart auch eine kleine Hommage an diesen Film. Ich habe zudem viele ethnografische Filme und thematisch vergleichbare Dokumentarfilme angeschaut. In Man for a Day (Katarina Peters, DE 2012) geht es um die berühmte Dragkünstlerin Diane Torr. Die Gender-Aktivistin veranstaltet einen Workshop, in dem sich Frauen für einen Tag in einen Mann verwandeln. Dank diesem Film wusste ich, dass einerseits die Methode eines Workshops sehr interessant sein kann. Andererseits sollte sich jedoch mein Film bewusst von der Darstellung des Vorher-Nachher abgrenzen. Mir geht es darum zu zeigen, dass viel mehr dahintersteckt. Es sollte eine grosse Vielfalt von Geschlechtern aufgezeigt werden. Weder Noch mit Bart enthält auch einen Workshop, den ich zusammen mit Romeo Koyote Rosen organisiert habe, und er enthält auch meine Transformation in Bart, mein Alter Ego mit Bart. Mein Film geht jedoch weiter, er dringt tief in die Persönlichkeit der Protagonist_innen* ein.
RATHS: Welche Schlüsse hast du aus diesen Filmen für deine eigene Arbeit gezogen?
BÜRGI: Ich bin zum Schluss gekommen, dass ich meine eigene Methode für den kulturwissenschaftlichen Film entwickeln muss.
RATHS: Wie bist du das Projekt angegangen, wie hast du Schauplätze/Drehorte und die Protagonist_innen* gefunden?
BÜRGI: Es war eine Herausforderung, die richtigen Protagonist_innen* zu finden. Als Redakteurin der Rosarot und bereits aktiv in dieser subversiven Genderszene wusste ich aber, wo ich fragen musste. Ich habe über das Sündikat, so nennt sich die offene Gruppierung von Queer-Menschen in Zürich, Romeo kennengelernt. In der Schweiz war es schwierig, mehrere Menschen wie Romeo zu finden, die offen ausserhalb der Geschlechtsbinarität leben und ihre eigene Geschlechtsidentität im täglichen Leben äussern. Und so habe ich bald die Suche auf die Niederlande ausgeweitet, die rechtlich auf einem anderen Stand sind als die Schweiz. In Utrecht gibt es ein subversives Sex- und Genderfestival, wo verschiedene Seminare und Workshops angeboten wurden. Es gab die Möglichkeit, die Kunst des Drags kennenzulernen oder Sex Toys aus Fahrradkomponenten zu basteln. Dort habe ich meine zweite Protagonist_in* Mike_Mirjam kennengelernt.
Die Nähe zu den Protagonist_innen* ist aus einem Prozess entstanden, indem ich sie immer wieder getroffen habe, mit oder ohne Kamera, und wir einander Schritt für Schritt besser kennengelernt haben. Beide hatten nie Probleme, gefilmt zu werden, was bei der Intimität der Thematik überhaupt nicht selbstverständlich ist. Sie können sich auch gut ausdrücken und sind sehr kameraaffin. Vor allem entsprechen sie genau dem, was ich zum Ausdruck bringen wollte. Das Ziel war, anhand mehrerer Protagonist_innen* den Blick zu erweitern. Doch der Film sollte keinen Vergleich zwischen den beiden Ländern darstellen, sondern ich wollte einen Einblick in das Leben zweier Protagonist_innen* geben, die auf ihre eigene Art und Weise ihre Geschlechtervielfalt ausleben, ohne medizinische Eingriffe eingesetzt zu haben. Mike_Mirjam und Romeo Koyote Rosen verweigern sich als Bi-Gender3 oder A-Gender4 bzw. Transform der Dichotomie und beanspruchen einen kulturellen ‹Dritten Raum› – wobei dieser nicht mit einem ‹Dritten Geschlecht› verwechselt werden darf, das eine erneute Kategorie darstellt und fluide Geschlechter nicht zwingend berücksichtigt.
RATHS: Romeo Koyote Rosen hat seine_ihre Geschlechtsidentität entworfen, bezeichnet sich als Transform und scheint die Geschlechtssuche abgeschlossen zu haben bzw. hat sie_er sich entschieden, dass sich ihre_seine Körperform in einem stetigen Wandel befindet und dass sie_er sich nicht nach den von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechterrollen in eine Schublade schieben lassen muss. Mike_Mirjam befindet sich dagegen während der Dreharbeiten in der Findungsphase.
BÜRGI: Es ist wichtig hervorzuheben, dass es ein stetiger Prozess ist. Geschlecht ist keine Suche, die irgendwann abgeschlossen ist. Was jedoch deutlich wird, ist die Sicherheit, die Romeo in seiner Position als Transform ausstrahlt. Bei Mike_Mirjam ist die Klarheit über eine queere Geschlechtsidentität zwar auch schon länger anwesend, aber die Ausdrucksformen werden noch in ihrer Vielfalt entdeckt. Romeo ist sehr flexibel. Er spürt, heute möchte ich einen Bart tragen oder heute lieber nicht. Mike_Mirjam musste oft noch abtasten: Wie kann ich meine Geschlechtsidentität äussern und mich dabei trotzdem auf sicherem Boden fühlen? Mittlerweile ist sich Mike_Mirjam genauso sicher wie Romeo. Für beide befindet sich die Geschlechtsidentität im Wandel, somit auch die Ausdrucksformen davon.
RATHS: Romeo Koyote Rosen und Mike_Mirjam leben ausserhalb der Geschlechter, sie sind weder Frau noch Mann. Inwiefern ist der menschliche Körper eine Problemzone?
BÜRGI: Geschlecht ist insbesondere dann eine ‹Problemzone›, wenn es nicht eindeutig ist. Es gibt wenige Bereiche in der Gesellschaft, die so normbehaftet sind wie die Darstellung unserer Geschlechter. Sobald Geschlecht nicht eindeutig wiedergegeben wird oder bewusst mit den Normen gebrochen wird, befindet Mensch sich schnell im gefährlichen ‹Problemgebiet› der kreativen Geschlechterdarstellung. Gefährlich deshalb, weil Betroffene schwer in das binäre System der Zweigeschlechtlichkeit einzuordnen sind und diese Schwierigkeit einer Kategorisierung oft als Gefahr gesehen wird.
Der Körper wird in Weder Noch mit Bart aber eben nicht als Problemzone gesehen, sondern als Ausdrucksort kreativer Geschlechterinszenierung. Geschlechtsnormen werden auf dem Körper als Oberfläche kultureller Einschreibungen verhandelt. Mit ihrer geschlechtlichen Performanz, die entgegen der normativen Kohärenz verläuft, widersetzen sich die Protagonist_innen* der konstruierten ‹natürlichen› Einheit. Sich ‹aufzuschnauzen› oder sich die Brüste abzubinden und damit eine von der Anatomie unabhängige geschlechtliche Inszenierung zu vollziehen, die gleichzeitig innere Geschlechtsidentitäten berücksichtigt und gegengeschlechtliche Merkmale imitiert, bedeutet, Geschlechtsidentität als Imitation zu entlarven. Diese Entlarvung befindet sich auf der gesellschaftlichen Ebene der Problemzone.
RATHS: Könntest du etwas mehr über diese Entlarvung sagen?
BÜRGI: Woher wissen wir, dass sich die Beine zu rasieren etwas ‹Weibliches› ist oder eine Krawatte zu tragen ‹männlich›? Wir imitieren geschlechtlich konnotierte Symbole und äussern unser Geschlecht durch die Wiederholung dieser spezifischen Körperinszenierungen. Gerade weil so viele Kleidungsstücke und Körpermerkmale mit einer geschlechtlichen Zugehörigkeit behaftet sind, können sie entgegen der Norm getragen werden. Damit wird in einem queeren Zusammenhang eben diese Kongruenz von Körper, Identität und Darstellung infrage gestellt. Viele Zuschauer_innen* stellen sich während des Films die Frage: Was macht mich denn nun eigentlich zur Frau oder zum Mann?
RATHS: Wie bist du als Regisseurin vorgegangen, um Körperbilder oder den Körper als Problemzone in deinem Film visuell, ästhetisch sicht- und spürbar zu machen?
BÜRGI: Der_die Betrachter_in* des Films merkt sehr schnell, dass Stöckelschuhe und Bart in der Kombination einen Normbruch darstellen. Und sobald keine Kohärenz vorhanden ist zwischen dem Körper und dessen Präsentation, führt es zu einer Irritation, die diese ‹Problemzone› deutlich macht. Doch ich habe den Körper als Spielweise schöpferischer Ideen und Ausdrucksformen dargestellt. Die Protagonist_innen* zeigen im Film ihre ganz persönlichen Schöpfungen und Modifizierungen des Körpers. Der Film thematisiert zudem wenig gesehene Subkulturen, die sich mit Geschlechtervielfalt auseinandersetzen, die im grösseren Sinne ebenfalls eine ‹Problemzone› darstellen. Das Thema ‹Problemzone› wird somit in meinem Film doppelt spürbar, jedoch positiv behaftet.
RATHS: Der Spiegel ist ein häufiges Motiv in deinem Film.
BÜRGI: Der Spiegel ist einerseits sehr essenziell im Prozess der Transformation der Protagonist_innen* beim ‹Aufschnauzen›. Andererseits hält der Film der Gesellschaft und den Betrachtenden einen Spiegel vor, indem der Film aufzeigt, wie viele Möglichkeiten der Geschlechtsidentität es gibt. Der Spiegel ist eine Konfrontation mit dem Bild, was andere von einem sehen, und eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten der eigenen Erscheinung. Nicht nur für die Protagonist_innen*, sondern auch für die Betrachter_innen*.
Im Spiegel ist auch die Kamera zu sehen, somit legt er das Moment des Gefilmtwerdens offen. Ich bin einmal auch selber im Spiegel mit der Kamera sichtbar. Das ist absichtlich so geschehen, ein selbstreflexives Moment und Teil meiner kulturwissenschaftlichen Methode.
RATHS: In deinem Film geht es nicht nur um den Körper als ‹Problemzone›, sondern auch um die Gesellschaft als ‹Problemzone›. Das Bedürfnis der von dir porträtierten Transmenschen ist es nicht, sich medizinisch und hormonell einem Geschlecht anzupassen. Sie fühlen sich wohl ausserhalb der Geschlechter, brechen gesellschaftliche Geschlechterrollen auf. Sie stossen aber immer wieder auf Widerstand und Ablehnung aufgrund ihres Lebensstils. Wie hast du diese Dialektik zwischen individuellem Körpergefühl und Gesellschaftskultur wahrgenommen und in dein Filmkonzept integriert?
BÜRGI: Jeder, der tief verankerte Normen herausfordert, befindet sich bald in einer ‹Problemzone›, insbesondere wenn es um naturalisierte Geschlechtsnormen geht. Daher fühlen sich viele Menschen dazu gezwungen, sich einem Geschlecht anzupassen. Der Film möchte Akzeptanz für Menschen schaffen, die sich ausserhalb dieses binären Systems bewegen. Das soziale und anatomische Geschlecht wird als Konstrukt verstanden, eine binäre Ordnung infrage gestellt. Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Geschlechtsumwandlungen überflüssig werden, wenn die Gesellschaft akzeptiert, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und man auch mit Bartwuchs eine Frau sein kann oder mit Stöckelschuhen als Mann angesehen wird.
RATHS: Das Vokabular ist sehr faszinierend. Romeo spricht von der ‹Sie-leuchtung›.
BÜRGI: Für Romeo ist es keine ‹Erleuchtung› sondern eine ‹Sieleuchtung›. Sprache ist unser Kommunikationstool, Geschlecht wird stark über die Sprache kommuniziert. Es gibt ja nur ‹er› oder ‹sie›; daher sind alle Transgender-Menschen immer kreativ mit eigenen Ausdrücken. In Schweden gibt es beispielsweise bereits das geschlechtsneutrale Personalpronomen ‹hen›.
RATHS: Spannend sind ihre kreativen Namensgebungen mit den Gender-Gaps und den Gender-Sternchen, der Erschaffung eines ihrem Geschlecht entsprechenden Namens.
BÜRGI: Darüber gibt es auch eigene Literatur. Manche Menschen schreiben in ganz neuen Wortschöpfungen ohne ‹seine›, ‹ihre› und so weiter. Jedoch haben sich diese Begriffe noch nicht grammatikalisch durchgesetzt. Beim englischsprachigen Facebook gibt es eine Auswahl von 58 Geschlechtern, wobei jeder mehrere Bezeichnungen aussuchen kann.
RATHS: Laut Mike_Mirjam ist ein typischer Gender-Moment der Gang auf die Toilette im öffentlichen Raum. Welche Toilette wähle ich, die Männer- oder die Frauen-Toilette? Diese Gender-Momente zeigen die ‹Problemzone› Gesellschaft sehr anschaulich auf. Wie hast du diese Gender-Momente wahrgenommen? Wie wichtig sind sie für deinen Film?
BÜRGI: Die Frage nach der passenden Toilettentüre ist eine Konfrontation mit der dichotomen Ordnung. Gerade in institutionalisierten Räumen wird Differenz repetitiv hergestellt. Geschlechtlich deviante Menschen haben die Wahl zwischen Männer- oder Frauen-WC, beide passen oder beide passen nicht. Die Toilette ist ein Beispiel für dutzende Begegnungen der Durchsetzung des binären Geschlechtersystems im Alltag, die eine A-Gender, Bi-Gender, Gender Fluid5 oder Trans-Person zu einer Entscheidung zwingen. Genau an solchen banalen Alltagshandlungen können grosse Defizite festgemacht werden; sie zeigen, wie unsichtbar queere Anliegen in der Öffentlichkeit sind und wie sehr sich der öffentliche Raum nach wie vor in der Heteronormativität bewegt. Der Ort, an dem sich Mike_Mirjam wohlfühlt, ist die LGBTIQ6-Bar. Dort kann er_sie einfach auf jene Toilette gehen, nach der er_sie sich gerade fühlt. An der Universität dagegen fühlt er_sie sich dazu nicht sicher genug. Das sind sehr wichtige Beispiele, um klarzumachen, inwiefern eine nicht der Norm entsprechende Geschlechterzugehörigkeit den Alltag von Transmenschen durchdringt.
RATHS: Ein Gender-Moment ist auch die Aufnahme, welche Mike_Mirjams Kleiderschrank zeigt. Darin befinden sich sowohl BHs wie auch Boxershorts. In der letzten Einstellung des Films begräbt sich Romeo unter Laubblättern. Wie ist diese Szene entstanden? Ist das ein spielerisches ‹Sich-Verstecken›, eine Schutzgeste oder ein Rückzug ins Verborgene?
BÜRGI: Das Ziel war, Romeo in seiner alltäglichen Umgebung zu porträtieren. Er_sie geht sehr oft im Wald spazieren. Diese Szene ist schliesslich ein sehr symbolisches Bild geworden. Er_sie hat sich ganz mit Laub zugedeckt, ist kaum noch zu sehen. Er_sie ist ein Teil der Gesellschaft wie jede_r andere auch.
RATHS: Der Bart hilft den Figuren in der Auseinandersetzung mit ihrem Körper und ihrem Geschlecht. Der Bart gibt ihnen Sicherheit. Mit Bart fühlt sich Mike_Mirjam sexy, schön. Romeo Koyote Rosen fühlt sich am wohlsten mit einem Bart und hohen Schuhen, der Bart wird von ihm_ihr mehr geliebt als ihre_seine Brüste. Klassiker von Drag Kings sind auch das Abbinden der Brüste und das Anbringen einer Penisattrappe. Warum hast du deinen Fokus auf den Bart gelegt?
BÜRGI: Der Bart hat für die Protagonist_innen* eine sehr grosse Bedeutung. Er ist ein Bestandteil eines Rituals, um die Geschlechtsidentität besser ausdrücken zu können, und das entscheidende Element, welches visuell den letzten Schliff verleiht. Die Haare in Romeos Gesicht waren eine lang gesuchte Lösung, um seine Identität als two-spirit zum Ausdruck zu bringen. Der Bart ist gut sichtbar – im Gegensatz etwa zu einer Penisattrappe. Er hat meines Erachtens auch einen stärkeren Einfluss und steht daher im Fokus meines Filmes; er besteht aus vielen kleinen Härchen, die eigenen meistens, die Mensch sich anklebt. Er fungiert als ‹Beweis› für männliche Geschlechterzugehörigkeit, als Sinnbild der Männlichkeit schlechthin und wird von meinen Protagonist_innen* dekonstruiert und mit einer neuen, ‹queeren› Bedeutung aufgeladen. Der Bart drückt aus, dass die Protagonist_innen* verweigern, das biologische Geschlecht als Auslöser der Geschlechtsidentität zu sehen. Auf dem Gesicht werden neue Geschlechterpräsentationen verhandelt. Der Titel des Filmes Weder Noch mit Bart hat zwei Bedeutungen. Es geht um Personen, die weder Mann noch Frau sind und einen Bart tragen. Und es geht auch darum, dass diese Personen von Bart begleitet werden: Das bin ich – mit Bart.
RATHS: Es ist beeindruckend, was das Tragen eines Bartes in den Figuren auslöst. Durch den Bart können die Protagonist_innen* auch ihre weiblichen Seiten wieder stärker hervortreten lassen. Kann man da von einem Paradoxon sprechen?
BÜRGI: Es ist kein Paradoxon. Wenn Mike_Mirjam keinen Bart trägt, hat er_sie das Gefühl, mit anderen Charaktermerkmalen zeigen zu müssen, dass sie_er nicht nur weiblich ist. Wenn sie_er aber einen Bart trägt, fällt das weg. Mit einem Bart kann er_sie sich weiblicher verhalten, weil er_sie nicht kompensieren muss, was der Bart eigentlich für ihn_sie macht. Es war sehr interessant, dass auch Teilnehmende des Workshops gesagt haben, dass ihnen nach dem ‹Aufschnauzen› des Bartes aufgefallen ist, wie weiblich sie eigentlich in ihrer Gestik und Mimik sind. Der Bart schärft die Selbstreflexion extrem.
RATHS: Kannst du etwas mehr über den Dream King Workshop erzählen, den du für Weder Noch mit Bart durchgeführt hast?
BÜRGI: Ich habe den Workshop an der Universität Zürich und beim subversiven Transgendernetzwerk ausgeschrieben. Es ging nicht nur um den Workshop, sondern auch um den Dialog, der dadurch entsteht. Er hat visuell sehr starke Bilder geliefert. Und es war eine perfekte Szene für eine teilnehmende Beobachtung. Ich war als Regisseurin und Teilnehmerin dort, daher musste ich die Kamera abgeben. Ein Stück weit die Kontrolle abzugeben, war eine enorme, aber positive Herausforderung für mich, denn so wurden meine Teilnahme am Feld und das Erscheinen von Bart sichtbar.
RATHS: Im Film nimmst du direkt als Figur Einfluss auf die Handlung, indem du am Workshop selber teilnimmst. War das geplant?
BÜRGI: Meine Teilnahme beim Workshop war geplant. Aber erst am Schnittpult hat sich entschieden, dass ich als Bart auch Teil des Films sein werde. Für mich war von Beginn an klar, dass ich erfahren wollte, wie es ist, eine andere Geschlechterpräsentation anzunehmen. Mein queer-feministisches Gedankengut hat mir geholfen, mich zu integrieren. Ich habe die Sprache gelernt und andere Formen von Geschlechterperformance ausprobiert. Das Interesse war nicht nur wissenschaftlicher Natur, sondern auch eine Frage persönlicher Neugier.
RATHS: Wie hat deine Erfahrung die Arbeit als Regisseurin und den Film als Ganzes beeinflusst?
BÜRGI: Das hatte einen grossen Einfluss auf den Film. Er hat dadurch eine zusätzliche Dimension gewonnen, eine sehr persönliche Note. Mich als Bart zu zeigen, macht mich bis zu einem gewissen Grad verletzlich. Es ist ausserdem ein Mittel der Selbstreflexivität, es legt meine Rolle als teilnehmende Beobachterin offen. Gleichzeitig verdeutlicht die Sequenz meine Positionierung: Ich unterstütze die Queerbewegung und beteilige mich aktiv am Kampf für Geschlechtervielfalt.
RATHS: Und es ist auch einzigartig für einen ethnografischen Film.
BÜRGI: Richtig, es ist eher unüblich. Aber es kommt schon ab und zu vor, dass sich Ethnograf_innen* in ihren Filmen positionieren. Ich lege meine Anwesenheit und meinen Einfluss auf die Geschehnisse offen, anstatt diese zu negieren. Ich habe während der Filmarbeit fünf Kamerablicke7 entwickelt, meine eigene Methode für den kulturwissenschaftlichen Film. Einer davon ist, selbst im Bild zu erscheinen. Ein weiterer auschlaggebender Kamerablick ist die Sicht der Protagonist_innen*, durch die eigenständige Kameraführung. Mike_Mirjam hat sich selber in seinem Zimmer gefilmt. Die Protagonist_innen* zeigen mit ihren eigenen Augen, was ihnen wichtig erscheint. Mike zeigt die Kamera auch deutlich im Spiegel: Ich filme mich jetzt selber. Er war da ganz allein im Raum. Das gibt der Szene eine ganz besondere Atmosphäre.
RATHS: Wie hat sich deine Aufmachung auf dein Geschlechts- bzw. Geschlechterempfinden ausgewirkt?
BÜRGI: Meine Aufmachung als Bart hat mir die Möglichkeit gegeben, herauszufinden, welche Geschlechteridentitäten in mir schlummern, und eine bisher ungesehene Seite von mir zum Vorschein zu bringen. Ich hatte so auch die Möglichkeit zu erfahren, wie die Aussenwelt auf mich reagiert. Es war ein besonderer Moment in meinem Leben, den ich nie vergessen werde. Und ich kann es nur weiterempfehlen, gelegentlich oder zumindest einmal Bart zu tragen.
RATHS: Was möchtest du mit deinem Film erreichen?
BÜRGI: Oft ist es so, dass gerade Filme, die geschlechtliche Gestaltungsspielräume darstellen, innerhalb des subkulturellen Milieus bleiben. Mein Ziel ist, dieses Thema aus dem subkulturellen Milieu herauszutragen. Ich möchte mit dem Film in Zukunft Schulklassen und Student_innen* unterrichten und für die Thematik sensibilisieren. Ein wichtiges Ziel ist auch, die Lust am Entdecken und Ausprobieren weiterzugeben, Vorurteile zu beseitigen, den Verstand für eine Vielfalt von Geschlechtern zu erweitern.
RATHS: In deinem neuen Projekt geht es um Flüchtlinge in Westeuropa. Es geht also wieder um eine gesellschaftliche ‹Problemzone›, aber um eine ganz andere. Hängen diese beiden Themen für dich inhaltlich zusammen?
BÜRGI: Die Themen sind komplett unterschiedlich, wie auch die Vorgehensweisen. Aber bei beiden Filmen beschäftige ich mich mit Subkulturen oder Gruppen, die zu wenig Gehör bekommen.
RATHS: Warum wieder eine ‹Problemzone›?
BÜRGI: Ich möchte Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gerückt werden und ungehört bleiben, eine Stimme geben. Über das Thema Flüchtlingskrise berichten die Medien viel, aber dabei geht es oft um Zahlen und Grafiken, selten um die individuellen Geschichten, die einzelnen Menschen. Ich bezeichne sie eigentlich auch nicht gerne als Flüchtlinge, weil sie dadurch bereits wieder einen Stempel aufgedrückt bekommen. Auch bei diesem Thema geht es mir darum, zwei persönliche Geschichten zu erzählen. Dadurch ist es kein repräsentativer Film, der für alle Flüchtlinge steht, aber es sind zwei Schicksale, die doch für viele stehen.