SENTA VAN DE WEETERING

DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN (STINA WERENFELS)

SELECTION CINEMA

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern ist ein Film über Behinderung. Über eine Mutter-Tochter-Beziehung. Über eine Mutter, die nur schwer zu sich selber findet. Und mehr als alles andere ist es ein Film über die Lust am Dasein, die Freude am Augenblick, am eigenen Körper, am Sex.

Die achtzehnjährige Dora ist geistig behindert. Bisher haben Medikamente sie ruhig gehalten, doch nun beschliesst ihre Mutter, diese abzusetzen. Die Veränderung, die daraufhin mit der jungen Frau vor sich geht, überrascht alle, auch sie selbst. Voller Begeisterung und Lebenshunger entdeckt sie die Welt, das Leben, ihren Körper. Sie tut dies auf ihre eigene Weise, die für andere oft nicht nachvollziehbar ist. Ihre erste sexuelle Erfahrung ist von aussen gesehen eine Vergewaltigung in einer öffentlichen Toilette. Eine Szene, bei der man lieber nicht hinschauen würde. Und doch hinschaut, denn die Kamera hält an Doras Gesicht fest. Darauf jedoch zeichnet sich weder Abwehr noch Schmerz, sondern so etwas wie ein grosses Erstaunen ab.

Stina Werenfels hat in ihren früheren Filmen bereits gezeigt, dass sie sich nicht scheut, Tabus anzurühren und ihr Publikum zu zwingen, gefestigte Meinungen in Frage zu stellen. So radikal wie in dieser Szene hat sie es noch nie getan. Selbst der junge Mann scheint erstaunt, als Dora wieder auf ihn zukommt, lächelnd und offensichtlich bereit für die nächste sexuelle Erfahrung mit ihm. Dabei nimmt sie nicht wahr, was für Eltern und Publikum schnell offensichtlich ist: Dass er Sex mit ihr geniesst, aber weiter nichts mit ihr zu tun haben will, insbesondere nicht, als sie schwanger wird. Damit nun stellt sie auch die Eltern, vor allem die Mutter, vor ein Problem. Denn so sehr diese darauf bestand, dass ihre Tochter nicht mehr durch Medikamente von ihren Gefühlen abgeschottet wird, so sehr ist sie nun verunsichert durch die explodierende Lebenslust – und das ganz konkrete Problem, das sich daraus ergibt.

Stina Werenfels’ letzter Film Nachbeben spielte unter durchgestylten Protagonisten in einem durchdesignten Haus am See. Hartnäckig und unerschrocken suchte Werenfels nach dem, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Bei ihrer Protagonistin Dora hingegen ist alles Emotion, Unmittelbarkeit – jedes Gefühl, jede Aktion erscheint direkt an der Oberfläche. Das funktioniert deshalb, weil die Schauspielerin Victoria Schulz den Film mit einer fast körperlich spürbaren Präsenz trägt und prägt. Es funktioniert aber auch, weil Stina Werenfels und ihr Kameramann Lukas Stebel eine formale, unaufdringliche, aber doch wahrnehmbare Lösung gefunden haben, um die verschiedenen Welten und Erlebensweisen von Dora und ihrer Familie aufeinanderprallen zu lassen: Sie drehten jede Szene ein zweites Mal mit speziellen optischen Linsen, um Doras Blick auf die Welt sichtbar werden zu lassen. Ein intensiver und konsequenter Film, der die Zuschauer herausfordert.

Senta Van de Weetering
Filmwissenschaftlerin und Germanistin. Arbeitete als Journalistin, Redaktorin, Moderatorin und Texterin. Heute arbeitet sie für die Unternehmenskommunikation der Hochschule Luzern und im Team der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur.
(Stand: 2020)
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