BETTINA SPOERRI

WILD WOMEN – GENTLE BEASTS (ANKA SCHMID)

SELECTION CINEMA

Sie wagen in ihrem Beruf täglich ihr Leben, und dies in ganz wörtlichem Sinn: die Tierbändigerinnen – Dompteusen – in den Zirkusarenen. Die Schweizer Filmautorin Anka Schmid, die in ihren Dokumentarfilmen immer wieder wilde, rebellische Frauen oder weibliche Biografien, die den Rahmen des Konventionellen sprengen, ins Zentrum gestellt hat, zeigt in ihrem neuesten Film Wild Women – Gentle Beasts einen Blick hinter die Kulissen der oft in glamourösem Stil inszenierten Löwen- oder Tigernummern. Die professionelle Tätigkeit dieser Frauen beobachten wir mit einer hohen Dosis an Nervenkitzel und Faszination, wir staunen, dass sie Bären zum Purzelbaumschlagen und Löwen oder Tiger dazu bringen können, über ihren liegenden Körper zu springen. Doch was bewegt sie, mit äusserst gefährlichen Tieren zu arbeiten? Wie gehen sie mit dem Leben im Wanderzirkus, dem Wechsel zwischen Training und Show um – und wie mit weiblichen Rollenbildern und männlichen Projektionen? Da ist die russische Bärendompteurfamilie, in der Nadezhda Takshantova mit ihrer dreissigjährigen Erfahrung als Bären-Bändigerin den Mann steht und ihre 27-jährige Tochter Aliya in dieses Wissen eingeführt hat, in Ägypten und Katar tritt die junge blonde Anousa Kouta als Löwen-Prinzessin auf, in Deutschland tourt Carmen Zander als Tiger-Queen, in Frankreich ist es die 19-jährige Namayca Bauer, die nicht nur mit Löwen und Tigern, sondern u. a. auch mit Pferden, Ziegen und Hunden übt.

Anka Schmid bleibt ganz in der Gegenwart der Frauen, lässt sie vor der Kamera in Interviews über sich selbst, ihren Werdegang, ihre Familie sprechen. Sie begleitet sie beim Training, und natürlich sehen wir sie «in Aktion», im Ring der Arena, hinter hohen, starken Gittern, die uns im Publikum vor den kräftigen Tatzen, den riesigen Krallen und Reisszähnen schützen. Wild Women – Gentle Beasts romantisiert dabei nicht den Zirkusalltag, vermeidet jegliche Beschönigung der harten Arbeit, die diese Frauen täglich leisten. Die Zähmung ist dabei auch eine der Menschen: Vier der fünf Frauen wurden von der Dynastie an ihre Bestimmung herangeführt, eine kam vom Leistungssport her zum Zirkus. Sie alle verzichten für ihre Tiere auf manche Annehmlichkeiten, die ihnen ein weniger nomadisches Leben bieten könnte, sie müssen ihre Wünsche beherrschen, um Erfolg zu haben. Bei diesem persönlichen Fokus bleibt zwar ein tieferer Blick in eine Dynastie-Geschichte, eine längere Beobachtung der Beziehung zwischen Mensch und Tier oder zu Sinnfragen im Zusammenhang mit Tieren und Showbusiness aussen vor, doch es werden in sich weitenden Kreisen Spannungsfelder ausgebreitet, Konflikte und Projektionen thematisiert. Nicht zuletzt stellt der Film einen aussergewöhnlichen Frauenberuf vor, für den es wohl immer nur wenige radikale Anwärterinnen geben wird.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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