MATTHIAS VON GUNTEN

FESTIVALWELTREISEN MIT THULETUVALU

FILMBRIEF

Der Anruf kam kurz vor Weihnachten und beendete eine lange, angespannte Wartezeit. Schon Monate davor hatten wir ThuleTuvalu bei Visions du Réel angemeldet und gehofft, dort in den Internationalen Wettbewerb zu kommen. Doch auf unsere wiederholten Nachfragen hiess es aus Nyon von den Programmverantwortlichen jeweils nur, sie seien am Film zwar sehr interessiert, aber ob er in den Internationalen Wettbewerb komme, könnten sie erst entscheiden, wenn sie alle eingereichten Schweizer Filme gesehen hätten. Schliesslich war es der Festivalleiter Luciano Barisone persönlich, der mich – sozusagen als Weihnachtsgeschenk – anrief und mir sagte, er habe so lange gewartet, um sicher nichts Besseres aus der Schweiz zu verpassen; aber jetzt könne er mir sehr gerne bestätigen, dass ThuleTuvalu für den Wettbewerb selektioniert sei! Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Über fünf Jahre lang hatte ich an dem Film gearbeitet und die Idee verfolgt, dass man darin nah und persönlich miterleben kann, wie sich das Leben der Menschen in Thule (Nordgrönland) und in Tuvalu (Pazifik-Inselstaat) durch die Erderwärmung drastisch verändert. Damit wollte ich zu einem Thema, der Erderwärmung, das schon tausendfach und für viele bis zum Überdruss in den Medien abgehandelt worden war, einen menschlichen Aspekt zeigen, der bisher völlig unbeachtet geblieben war. Die Idee hatte von Anfang an viele überzeugt. Nie war mir das Pitchen eines Filmes leichter gefallen. Aber würde die ganz an den Erfahrungen und Gefühlen der Protagonisten orientierte Erzählweise des Films auch Festivals und Zuschauer überzeugen?

Mit der Wettbewerbs-Einladung aus Nyon war ein erster Bann gebrochen: Die Ur-Befürchtung jedes Filmemachers, sein Film könnte ganz ohne Festival bleiben, konnte ich ablegen. Wenig später folgten auch die Einladungen aus Toronto zur Official Selection des Festivals HotDocs (einer weiteren Traumdestination) und aus München in den Internationalen Wettbewerb des DOK-Fests. Nun wussten wir, dass der Film mit einem renommierten A-Festival im Inland, dem wichtigsten Dokumentarfilmfestival des amerikanischen Kontinents und einem aufsteigenden europäischen Festival einen guten nationalen und internationalen Start haben würde – und das bestätigte sich in den kommenden Monaten mit einer langen Reihe von Einladungen, die zur Festivalweltreise für meinen Film wurden.

Doch Nyon wurde für den Film auch zum ersten ernsthaften Test vor Publikum. Während die Vorführung im vollen Théâtre de Marens vor fast 500 Zuschauerinnen und Zuschauern in sehr konzentrierter Atmosphäre verlief und es im Publikum immer wieder viele kleine Reaktionen gab, die auf eine gute Aufnahme hindeuteten, herrschte nach Filmende eine seltsam blockierte, fast betretene Stimmung. Waren wir durchgefallen? Hatte die bedrohte Lage der Menschen im Film die Zuschauer zu sehr bedrückt? Genau haben wir es nie erfahren. Aber wir waren besorgt. Zwar erhielten wir äusserst positive individuelle Feedbacks von Leuten, die genau so mitgegangen waren, wie ich das gewünscht hatte, aber von mehreren Romands kamen höchst lauwarme bis abschätzige Reaktionen, einige welsche Kollegen, die der Premiere beigewohnt hatten, schweigen gar bis heute hartnäckig zum Film. Eine äusserst zwiespältige erste Publikums-Erfahrung. Doch schon ab der zweiten Vorführung in Nyon wurde alles besser: Ein vorwiegend welsches Publikum (darunter auch Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss, quel honneur!) liess sich ganz auf die Sprache und menschliche Ebene des Films ein, ThuleTuvalu erhielt in Nyon auch den «Sesterce d’Argent pour le meilleur long métrage suisse» für den Besten Schweizer Beitrag, und noch während des Festivals kamen Mads Mikkelsen, der Programmverantwortliche von CPH DOX Kopenhagen (der tatsächlich genau gleich heisst wie der berühmte dänische Schauspieler), und Ulla Simonen, die Festivalleiterin von Docpoint Helsinki und Docpoint Tallinn, auf mich zu, zeigten sich vom Film sehr angetan und luden ihn an ihre Festivals ein. So langsam begann ich zu glauben, dass das, was ich mit dem Film von Anfang an angestrebt hatte, tatsächlich funktionierte: dass er dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, in einem stark ideologisierten Thema mit einem persönlichen und unideologischen Blick auf betroffene Menschen eine völlig neue und emotionale Erfahrung zu machen.

Darauf deutet auch die Festivalkarriere hin, die der Film seither erlebt hat. Nach den Einladungen nach Nyon, Toronto und München folgten seit April 2014 bis jetzt über sechzig weitere Festivalteilnahmen, darunter: Festival Internazionale del Film Locarno, Bergen International Film Festival, Reykjavik International Film Festival, Margaret Mead Film Festival New York, Guth Gafa International Documentary Film Festival (Irland), Festival Internacional de Cine de Los Cabos (Mexico), Barcelona Environmental Film Festival, Starz Denver Film Festival, St. Louis International Film Festival, Anthropological Film Festival Jerusalem, Anchorage International Film Festival, Festival Internacional de Cine San Cristóbal de las Casas (Mexico), San Francisco International Ocean Film Festival, ZagrebDox, One World Film Festival Prag, Thessaloniki Documentary Festival, Environmental Film Festival Washington D.C., Ecofalante São Paulo, Environmental Film Festival Yale, Cinema Planeta Cuernavaca (Mexico), Trento Film Festival (Italien), Docville Leuven (Belgien), Green Film Festival Seoul, Izola International Film Festival (Slowenien), Polynesian Film Festival Wellington (Neuseeland), One World Festival Bratislava etc. Nicht überall habe ich erfahren, was den Ausschlag für die Einladung gab. Aber wo es Gespräche gab, bestätigte sich, dass es genau jener ganz an den persönlichen Erfahrungen der Protagonisten orientierte Ansatz des Films war, der viele Programmkomitees letztlich überzeugt hatte.

Ein solches Interesse aus allen Teilen der Erde habe ich zuvor noch mit keinem Film erlebt, auch nicht mit Reisen ins Landesinnere. Zu siebzehn Festivals bin ich selbst hingefahren, jeweils auf persönliche Einladung, manchmal unterstützt von der Schweizer Botschaft im jeweiligen Land oder von Swissfilms. Nach meiner zehnten oder zwölften Festivalteilnahme sagte meine 91-jährige Mutter: «Jetzt reicht’s dann aber, gäll, jetzt musst du wieder mal was Richtiges machen.» Tatsächlich fragte ich mich nach mehreren Festivalreisen, ob diese Wochen und Monate von honorarfreiem Einsatz wirklich Sinn machen: die Wartezeiten auf Flughäfen, die liegen gelassene Arbeit zu Hause, anonyme Hotels, gehetzte Hospitality-Leute, Dinners unter Fremden, Bekanntschaften, die kaum über ein paar Tage und Mails hinaus halten, und das alles für vielleicht zwanzig, dreissig Minuten Diskussion mit Zuschauern, ein paar Interviews mit lokalen Medien und, wenn es hoch kommt, ein potenzielles Interesse für einen Verleih oder einen Fernseheinkauf.

Und dennoch kam ich fast bei jeder Anfrage zum selben Schluss: Nein sagen liegt nicht drin. Trotz viel unbezahlter Arbeit, trotz des nächsten Projektes, das weiterentwickelt werden sollte, trotz der schlechten Bilanz von zeitlichem Aufwand und ökonomischem Ertrag. Aber: Da sind überall Leute, die monatelang schuften, um Filmen wie unserem eine Bühne zu verschaffen, die mich einladen, mit Zuschauern zusammenbringen. Und die mir damit das Schönste verschaffen, was ich mit Filmemachen erreichen kann: dass ich persönlich die Menschen treffe, die sich für meinen Film interessieren und mir neunzig Minuten von ihrer Zeit schenken, dass ich ihre offenen Gesichter sehe, ihre Fragen höre und erlebe, wie sie sich zumindest für einen Moment von meinem Film, von seinen Figuren und deren Schicksalen berühren lassen.

Jedes Festival wurde zu einer eigenen Entdeckung und einer eigenen Geschichte. In Toronto, wo ich direkt vom Visions du Réel hinfliege, werde ich von einer Frau vom Flughafen zum Hotel gefahren, die ihren hochbezahlten Job als Investmentbankerin alljährlich für die Dauer des Festivals unterbricht, um als volunteer driver mitzuarbeiten. Warum? «I love films and filmmakers!», sagt sie lachend. Was für ein Empfang! In diesem engagierten, lockeren und äusserst freundlichen Stil geht es weiter, beinahe studentisch improvisiert mutet das Festivalzentrum auf den ersten Blick an, doch in Wirklichkeit wird hier auf allen Ebenen hoch professionelle Arbeit geleistet: mit einem exzellenten Programm, in dem man sich kaum sattsehen kann, mit technisch einwandfreien Vorführungen, mit Filmbetreuern, die meinen Film bestens kennen und die Diskussion kompetent und souverän moderieren, aber auch mit Liebe zu Details, zum Beispiel dem sympathischen Dank und Applaus für alle Volunteers vor jeder Vorführung. Was diese Leute in Toronto aufgebaut haben, ist eine Wohltat für jedes Filmerherz: Vor den Kinos bilden sich lange Schlangen, meist sitzen mehrere Hundert Zuschauer im Saal, und diese sind, entgegen meinen Befürchtungen, alles andere als verwöhnt oder gar abgebrüht (auch wenn sie den Filmsound – und dies bei Dokfilmen! – mit einem durchgehenden Popcorn-Knacken bereichern), sondern ungewöhnlich warmherzig, neugierig und anteilnehmend. Mehr als die Hälfte bleiben sitzen für das Q & A und wollen alles genau wissen über die Protagonisten in Thule und Tuvalu, wie es ihnen heute geht und wo sie hingehen werden, wenn sie in ihren abgeschiedenen Orten dereinst nicht mehr überleben können.

Eine ganz andere, wenn auch nicht weniger beeindruckende Situation treffe ich in Thessaloniki an, wo ich mit meinem Film im März 2015 zum grossen internationalen Dokumentarfilmfestival eingeladen bin, gerade als sich die griechische Krise zuzuspitzen beginnt. Kaum vom Flughafen Thessaloniki losgefahren, schildert unser griechischer Driver die nur noch schwer erträglichen Lebensbedingungen, spricht von den unzähligen Menschen, die sich aus wirtschaftlicher Not das Leben nehmen, von der Hoffnung, dass in Europa noch etwas anderes als nur Wirtschaftszahlen gelten mögen. Sein düsteres Bild setzt sich fort in den äusseren Eindrücken der Stadt, die einst mediterrane Grandezza ausgestrahlt haben muss: zerbröckelnde Fassaden, die nicht renoviert werden, traurig wartende Schuhputzer, Ramschverkäufer an jeder Ecke, zum Müssiggang verdammte Arbeitslose, ernste, angespannte, manchmal gehetzte Gesichter. In diesem überall sichtbaren Prekariat halten die Macher des Thessaloniki Documentary Festival trotz dramatisch reduzierten Budgets («Dieses Jahr wussten wir lange nicht, ob wir das Festival überhaupt durchführen können.») und miserabler Löhne ihre Filmliebe unverdrossen, nein heldenhaft aufrecht: ihr Lachen, ihre Gastfreundschaft, ihre trotz allem perfekte Organisation und Filmbetreuung. Und ein Publikum, das sie über die Jahre gewonnen haben und das ihnen weiterhin die Treue hält. Waren in den Anfängen des Festivals vor 17 Jahren manchmal nur zehn Zuschauer in einer Vorführung, ist heute praktisch jede Vorstellung mit über 200 Zuschauern schnell ausverkauft. Trotz ihrer eigenen Nöte ist den Menschen in Thessaloniki offenbar das Interesse an anderen Schicksalen nicht abhanden gekommen. Während der lebhaften Diskussion zu meinem Film steht ein Zuschauer auf und sagt bewegt, er fühle sich den Leuten in Thule und Tuvalu sehr nahe: Ihr drohender Untergang sei für ihn wie ein Spiegel seiner eigenen und ganz Griechenlands gegenwärtiger Verzweiflung.

Dass die Liebe zum Film selbst tiefste (politische) Gräben zu überwinden vermag, erlebe ich eindrücklich am Festival DocPoint Tallinn, wo mein Film parallel zu seiner Teilnahme am Festival DocPoint Helsinki eingeladen ist. Im geheimnisvoll dunklen Winternebel fahre ich von Helsinki nach Tallinn in einer gigantischen, hochmodernen Fähre, welche die Finnen vor allem zum kistenweisen Alkoholerwerb in Estland zu nutzen scheinen und wo sie sich mit Bingo und einem drittklassigen, jedoch beflissenen Schnulzensänger von ihrer angesäuselten Langeweile ablenken lassen. Zum ersten Mal komme ich in ein baltisches Land und bin besonders neugierig auf diesen jungen und erst seit wenigen Jahren unabhängigen Staat. Aber ich vergesse völlig, dass Estlands Unabhängigkeit noch immer eine fragile Errungenschaft ist, die zwischen den Esten und den verbliebenen Russen im Land zu massiven Spannungen führt und mit stichelnden Drohungen von Väterchen Putin regelmässig infrage gestellt wird. Beim Essen mit den liebenswürdigen Festivalverantwortlichen komme ich mit einer sympathischen jungen russischen Programmgestalterin ins Gespräch, löse aber mit dem Stichwort «Krim» bei ihr schon nach wenigen Minuten einen wahren Ausbruch aus, eine flammende Verteidigung der russischen Annexion, eine offene Verhöhnung des ‚sogenannten’ internationalen Rechts, an das sich doch ohnehin niemand halte, eine bedingungslose Liebeserklärung an Putin, obwohl er in Estland vielen als Feindbild gilt. Die Esten am Tisch halten sich betroffen zurück. Meine aufbegehrende Streitlust unterdrücke ich, um eine Eskalation am Tisch zu vermeiden. Doch die Risse in diesem jungen Land, die so unverhofft quer über unsere Abendtafel verlaufen, lassen mich schlagartig die Gefahren verstehen, die hier zwischen den machtgewohnten Russen und den freiheitsdurstigen Esten immer noch lauern. Doch in diesem Teil Europas gehört offenbar auch das Paradox zur Kultur: Trotz dieser abgrundtiefen, bisweilen feindlichen Gegensätze stellen Esten und Russen in Tallinn gemeinsam ein Festival auf die Beine, arbeiten offenbar gerne und gut zusammen und gewinnen gemeinsam ein Publikum – notabene von Esten und Russen! Und dieses Publikum versetzt mir bei der Vorführung einen Schreck: Während neunzig Minuten zeigt es keinerlei Reaktion, kein kleinstes Schmunzeln, kein leises Seufzen – ich rechne mit dem Schlimmsten. Doch nach der Vorführung bleiben fast alle Zuschauer sitzen und beteiligen sich lebhaft an der Diskussion. Offensichtlich hat ihnen der Film gefallen. Als ich vorsichtig nach der beklemmenden Stille im Saal während der Vorführung frage, werde ich mit einem Lächeln aufgeklärt: Während einer Filmvorführung keine Reaktion zu zeigen, sei in Estland einfach Tradition. Auch darin, so scheint es, haben Esten und Russen eine stille Einigkeit gefunden.

Die Möglichkeit, dem Publikum in den unterschiedlichsten Ländern persönlich zu begegnen, ist für mich der grösste Gewinn aus all den Festivalreisen. Und das Erlebnis dabei, dass ein Film, den ich mir vor Jahren ausgedacht und dann in unzähligen einzelnen Schritten realisiert habe, auch in den unterschiedlichsten Kulturen so verstanden wird, wie er gemeint ist, bestärkt mich im Vertrauen, dass ich in diesem Film eine menschlich einleuchtende Sprache gefunden habe. Die Festivalreisen haben meinen Blick aber nicht nur auf die Rezeption meines Films, sondern auch auf die Festivalmacher gelenkt, die zunehmend meinen Respekt und meine Bewunderung gewannen. Mit jeder Festivalteilnahme wuchs in meinem Kopf das Bild von einem weltumspannenden Netz von unzähligen Aficionados des Films, die oft unter schwierigsten Bedingungen dafür sorgen, dass Filme überall, nicht nur in grossen und kleinen Städten, sondern auch noch in den hintersten Winkeln gezeigt werden. Ich denke an das unglaublich kämpferische irische Filmer-Ehepaar David Rane und Neasa Ní Chianáin, die Jahr für Jahr fast ohne Geld in der irischen Provinz unter dem Titel «Guth Gafa» (gälisch, etwa zu übersetzen mit: «schöner Blick») das wohl eigenwilligste Festival auf die Beine stellen. Ihr Programm: Filme, egal aus welchem Land, die es ihnen persönlich angetan haben. In den vergangenen Jahren hatten sie aus der Schweiz Fernand Melgar und Peter Liechti eingeladen. 2014 sahen sie in Locarno, wo sie selbst einen wunderbaren Film gezeigt hatten, ThuleTuvalu und wollten ihn unbedingt in ihrem Programm haben. In Irland erlebte ich dann, wie sie um jeden lokalen Besucher kämpfen, wie sie mit Humor und Hartnäckigkeit dem garstigen Wetter und den technischen Problemen trotzen und wie sie mit allen Eingeladenen schliesslich eine einmalige, komplizenhafte Stimmung herbeizaubern, die man unbedingt wieder erleben will. Ich denke an die Macher vom RIFF in Island, die mit vielen jungen, engagierten Leuten ein internationales cinephiles Programm auf die Beine stellten, den witzigen Mike Leigh als Ehrengast zu gewinnen vermochten und mit ihrem herzhaften und unkomplizierten Engagement nicht nur ein erstaunlich zahlreiches Publikum anziehen, sondern in dem kleinen Land, das noch vor kurzem nur ganz knapp dem Staatsbankrott entronnen ist, mit zu jener ansteckenden Aufbruchstimmung beitragen, die Island nach seiner Fast-Katastrophe offenbar erfasst hat.

Zu diesem weltweiten Netz gehören auch die Filmverrückten von Anchorage, die mit ihrem kleinen Festival und ihrem Bekenntnis zum künstlerischen Kino nicht nur der unerbittlichen Kälte Alaskas, sondern auch dem Teaparty-Geist hartnäckig trotzen, der als bisher bedeutendste Kulturleistung eine Sarah Palin hervorgebracht hat und in jenem Bundesstaat offenbar immer noch vorherrscht. Und dazu gehört auch die unermüdliche junge Amerikanerin Meghan Mansour, die sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, mit dem Festival Ambulante das Publikum in der mexikanischen Provinz zu erreichen, wo sonst kein Mensch jemals Studio- oder Dokumentarfilme zu sehen bekäme; mit ihrem Programm und eingeladenen Regisseuren tourt sie während dreier Monate durch Provinzstädte und füllt dort, man traut seinen Augen kaum, dank unermüdlichem Einsatz und mithilfe von jungen lokalen Voluntarios tatsächlich Gemeindesäle, Aulen, Openairs und andere improvisierte Spielstätten.

Nur einmal wollte ich Nein sagen: zur Einladung eines Festivals in San Cristóbal in Mexico, das zum ersten Mal überhaupt durchgeführt werden sollte. Es war mir zu weit weg, mein Rücken war seit einigen Tagen blockiert, zudem sollte ich zum dritten Mal innert kurzer Zeit den Atlantik überqueren – und: Was hatte ich in der Hauptstadt von Chiapas verloren? Die Leute beknieten mich jedoch, sie wollten meinen Film mitsamt meiner Person unbedingt für ihre Eröffnungsveranstaltung und boten mir, wegen der Rückenprobleme, sogar ein Erstklassticket an. Ihr Engagement, ich gebe es zu, liess mich mit einigem Vergnügen meine eigene Käuflichkeit entdecken, sodass ich schliesslich zusagte. Zum Glück! Was folgte, war meine vielleicht intensivste Festivalerfahrung: Schon bei der Ankunft in San Cristóbal war ich überwältigt von allem, was ich sah, diese Häuser im Kolonialstil, die leuchtenden Farben, das Licht, diese geheimnisvollen Berge rundherum, alles erschien mir wie die späte Erfüllung meiner jugendlichen Lateinamerika-Sehnsüchte; und mittendrin die Indios mit ihren bunt gewobenen Ponchos und ihren tiefschwarzen Augen, durch die man in unerreichbar fremde Geschichten und Welten zu sehen glaubt. Als grösstmöglicher Kontrast dazu: Unterkunft in einem Fünf-Sterne-Hotel, ein engagiertes Programm, zusammengestellt von Leuten, die in Cannes, San Sebastián und Guadalajara Erfahrung gesammelt haben, und als Ehrengast Costa-Gavras, dessen Film L’aveu in frühen Jahren zu meinen filmischen Initiationserlebnissen gehörte. Über tausend Leute erscheinen zur aufwendigen Eröffnung im lokalen Theater, darunter der mexikanische Kulturminister, Provinz-Gouverneure, Politiker, Kulturschickeria, aber auch, wie ich off the record erfahre, ‚Prominenz’ der mexikanischen Unterwelt – mit anderen Worten: alles, was in Chiapas und darüber hinaus Rang und Namen hat. Doch gerade als die Gala mit feierlichen Reden Schwung aufzunehmen beginnt, legt sich mit einem Schlag Beklemmung über den ganzen Saal: Mitten im Publikum stehen ein paar junge Aktivisten und halten wortlos Transparente hoch, mit denen sie an das Schicksal der dreiundvierzig verschwundenen Studenten erinnern, die drei Monate zuvor entführt und mutmasslich ermordet worden sind. Überall wird seither in Mexico auf Hauswänden, Mauern und Plakaten in stiller Anklage mit einer gross hingeschriebenen Zahl 43 auf das Massaker hingewiesen, das zwar noch nicht restlos aufgeklärt ist, an dem aber niemand zweifelt und das ganz Mexico in Bann hält. Nun hat es, wenig erstaunlich, auch die Eröffnungsgala erreicht. Stille, Konsternation, totale Lähmung im Publikum, weil zwar die meisten Gäste die Anliegen der Aktivisten teilen, weil aber auch alle wissen, dass einige im Saal den Tätern nahestehen. Die Festivalmacher atmen kaum noch: Ein Jahr Arbeit droht zu zerschellen. Dem charismatischen Festivaldirektor gelingt es schliesslich mit einem Drahtseilakt, die Aktivisten in dieses Festival einzubeziehen, das, wie sie, mit seinen Filmen den Wahrheiten zum Durchbruch verhelfen will. Die Demonstranten lenken ein. Aber der Saal vibriert immer noch vor Anspannung, als ich auf einmal auf die Bühne beordert werde, das Mikrofon in die Hand bekomme – dies war nicht verabredet – und nun das aufgewühlte Publikum auf meinen Film einstimmen soll. Aber was ist mein Film schon gegen den mörderischen Wahnsinn, den dieses Land durchlebt? Zum Glück komme ich mit einer kurzen improvisierten Rede, in der ich das Interesse der Anwesenden behutsam auf die Menschen in Thule und Tuvalu zu lenken versuche, einigermassen über die Runden. Als der Film endlich beginnt und sich zeigt, dass das Publikum konzentriert bleibt, beginnen die Festivalmacher aufzuatmen. Nach der Vorführung kommen sie zu mir, umarmen mich, als hätte ich ihre Feier gerettet. Erst in diesem Augenblick verstehe ich, welche Angst sie vor dieser Eröffnung hatten. Und was es heisst, in einem derart von Korruption, wahnwitzigen Verbrechen und sozialen Spannungen beherrschten Land ein weltoffenes, engagiertes Festival auf die Beine zu stellen. Umso mehr bin ich geehrt, dass sie unbedingt meinen Film als Eröffnungsfilm haben wollten: Er verkörpere, erklären sie mir später, erzählerisch, filmisch und in seinem Engagement genau jenen Geist, für den sie auch mit ihrem Festival stehen wollten.

Erst im Rückblick wird mir klar, welche Erfahrung für mich mit jenem vorweihnächtlichen Anruf aus Nyon eingeleitet worden ist. Mit ihrer ungebrochen aufrechterhaltenen Überzeugung, dass Filme wichtig sind, ermöglichen all diese Festivalmacher und die unzähligen Freiwilligen das Beste, was Filmemacher für ihre Anstrengungen, Krisen und Zusammenbrüche zurückerhalten können: das Erlebnis, dass ihre Filme andere Menschen bewegen und ihr Filmemachen somit einen Sinn hat. Und offenbar hält es auch jung: Als ich am Tag nach der Eröffnung in San Cristóbal die Ehre habe, mit Costa-Gavras, diesem inzwischen achtzigjährigen, aber unglaublich noblen, wachen und zugleich bescheiden gebliebenen Maître du cinéma zu frühstücken, erzählt er von seinen zwei nächsten grossen Produktionen. Ich bewundere ihn, wie gut er immer noch in Form ist. «Mais tu sais», sagt er mit fester Überzeugung, «le cinéma, ça tient en forme!» Und auf einmal fühle ich mich, trotz meiner über sechzig Jahre, tatsächlich jung wie ein Fohlen.

Falls wider Erwarten nochmals eine Festivaleinladung eintreffen sollte, werde ich wohl – meine Mutter wird es mir verzeihen – einmal mehr zusagen.

Matthias Von Gunten
*1953 in Basel, arbeitete nach Abschluss des Gymnasiums in Münchenstein zwei Jahre lang in der Werbefilmproduktion. Von 1975 – 80 be­suchte er die HFF in München und schloss mit dem Spielfilm Quelle Günther ab. Es folgten diverse Filmjobs als Kameramann, Cutter sowie Regieassistenzen, u.a. bei Höhenfeuer von Fredi Murer (1984) und Die Reise von Markus Imhoof (1986). Seit 1988 hat Matthias von Gunten zahlreiche eigene Film für Kino und Fernsehen realisiert, darunter 1988 Reisen ins Landesinnere, 2008 Max Frisch Citoyen und 2014 ThuleTuvalu. Matthias von Gunten ist Mitglied der Schweizer und der Europäischen Filmakademie.
(Stand: 2017)
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