EVA VITIJA

SANS TOIT NI LOI (AGNÈS VARDA, FR 1985)

MOMENTAUFNAHME

Ich muss vierzehn oder fünfzehn gewesen sein. Ich bin in der Wohnung meiner Grossmutter im Tessin, der Wohnung mit den schweren, dunkelbraunen Möbeln, wo man keine Wäsche auf dem Balkon aufhängen darf, weil es die Nachbarn stört. Ein strahlender Sommertag. Ich lümmle auf dem Sofa herum, zappe durchs TV-Programm. Ich habe Hunger, mir ist schwindlig. Ich habe mir vorgenommen, eine Woche lang nichts zu essen. Plötzlich bleibe ich an einem Film hängen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Sans toit ni loi. Eigentlich langweilig. Und doch fesselt mich diese Frau. Ihre ziellose Reise.

Das abweisende, trotzige Gesicht der jungen Sandrine Bonnaire, wie sie am Strassenrand steht und trampt. Mit wehendem, ungewasche-
nem Haar vor einem Stoppelfeld. Den Anfang hatte ich verpasst. Ich wusste also nicht, dass der Film mit Monas Tod beginnt, sie ihre Reise nicht überlebt. «Ich würde lieber frei sein», sagt eine der Figuren im Film. Auch ich will so frei sein. Frei wie Mona. Während ich den Film zu Ende schaue in Grossmutters Wohnung, wo man keine Wäsche auf dem Balkon aufhängen darf.

Eva Vitija
*1973 in Basel, lebt in Zürich und arbeitet in der Schweiz und in Deutschland. Ausbildung zur Drehbuchautorin an der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin (dffb). Seither Autorin von Spielfilmen & Serien für Kino und Fernsehen (u. a. Sommervögel, Kinofilm von Paul Riniker; Madly in Love, Kinofilm von Anna Luif; Meier Marilyn, TV-Film von Stina Werenfels; Lüthi & Blanc, TV-Serie von Schweizer Radio und Fernsehen SRF). Masterstudium in Film an der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste).
(Stand: 2017)
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