FRANZISKA HELLER

WARUM FILMGESCHICHTE? — WIE DIE DIGITALISIERUNG UNSER BILD DER VERGANGENHEIT VERÄNDERT

ESSAY

2012 verkündeten die Fox Studios in einem Werbeclip: The future is Blu(-ray Disc). Allerdings hatte der Konzern schon zuvor, um die Jahrtausendwende, annonciert, dass die Zukunft die DVD sei ... Unsere Zukunft scheint sich ständig zu ändern, konstant bleibt einzig das Zauberwort «digital». Wofür der Begriff steht – für welche neuen Träger oder welche neuen Wiedergabesysteme –, das scheint in dieser Diktion nur schwer allgemein fassbar. Im Augenblick verbirgt sich wohl hinter dem Schlagwort der «neuen» Technik ein ständiger Wandel, der von sich immer aktualisierenden Hard- und Softwareentwicklungen und ökonomischen Interessen angetrieben wird. Mit diesem ständigen Wandel – und hier sei bewusst nicht von «Fortschritt» die Rede – ändert sich nicht nur die populäre Vorstellung einer medientechnologischen Zukunft ständig, sondern auch unsere Konzeption von Vergangenheit, vor allem auf der Ebene unserer Wahrnehmung von Geschichte. Im Folgenden geht es nicht darum, zu definieren, was an «digital» essenzialistisch neu ist. Vielmehr liegt der Fokus genau auf der Offenheit, Vielschichtigkeit und damit relativen Unschärfe des Schlagwortes «digital»: In welchem Verhältnis wird «digital» zur Film- und Mediengeschichte gesehen, und welche Konsequenzen hat dies für unsere Vorstellung und die Erfahrung des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit allgemein? Wie verändert die Transition der Filmtechnik in die digitale Domäne unsere Vorstellung von geschichtlicher Dynamik?

Diesen Fragen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Geschichte immer mehr ist als eine Aneinanderreihung von Fakten. Geschichte bedeutet, egal auf welcher Ebene, eine Konstruktion, in der von einer Gegenwart aus die Vergangenheit geschrieben wird – zumal dann, wenn der Blick auf Zukünftiges gerichtet ist.

Dabei zeigt sich ein eigentümliches Phänomen: Bei der Ausgestaltung der Zukunftsfantasie «Digital»/«Digitalisierung» spielt Film als illusionsbildendes und zugleich erzählendes Medium eine besondere Rolle. Viele denken wohl bei dem Stichwort «Digitalisierung» des Films an Verfahren der Visual Effects oder an computergenerierte Bilder: unglaubliche Massenkampfszenen, die mit neuer Software möglich wurden, imposante Drachenangriffe, die Feuer und Luftzirkulation simulieren – das alles in neuer 3D-Technik und einer Bildgeschwindigkeit von 48fps. Bei Letzterer fand sich etwa Peter Jackson im Auge des Orkans angesichts der Frage vom Verhältnis digitaler Bildästhetiken und Vorstellungen vom Filmischen, die historisch gewachsen sind: Nach der bekannten Kritik am ersten Teil der Hobbit-Reihe, der Film sehe in der neuen Bildgeschwindigkeit zu sehr nach Video- und Fernsehästhetik aus, versuchte Jackson jedem darauffolgenden Teil «mehr Textur zu geben»1. Der Begriff der «Textur» des Films scheint unter anderem auf analoge Aufnahmeverfahren zu verweisen und trifft damit genau eine Kernproblematik der Überführung von Bildinformationen und -ästhetiken, die auf fotochemischen Filmen gespeichert sind, in die digitale Domäne – ein Kernbereich der Digitalisierung von Archivfilmen.

Der Zwiespalt wird hier schon deutlich: Auf der Ebene der Technologieentwicklung wird meist in die Zukunft gedacht, mit dem Ziel einer Effekt- und Affekterweiterung des Unterhaltungswertes neuer Produktionen. Doch Sehgewohnheiten und Ästhetikempfinden sind über eine lange Zeit von anderen, historisch gewachsenen Medienerfahrungen – weitgehend aus der analogen Ära – geprägt. So stellen sich die folgenden Fragen: Was wird als Vergangenheit und damit als «historisch», was als gegenwärtig bzw. aktuell empfunden? Wie verändert sich unser Verhältnis zur Vergangenheit, erfahren und empfunden über Filme, unter dem Vorzeichen einer sich rasant wandelnden Medientechnologie und Medienumgebung, in der die Filme wieder aufgenommen, vertrieben und somit sichtbar gemacht werden (sollen)? Was können wir überhaupt heute noch an Filmen sehen, und wo?

Mehr als eine Frage der Technik: Digitalisierung als kulturelle Praxis

Viele Archive sind in den letzten Jahren zunehmend mit dem Problem konfrontiert worden, dass sie ihre vor-digital produzierten, also analogen Filmkopien nicht mehr in den Kinos ihrer jeweiligen Länder zeigen konnten. Oft wurden mit staatlicher Subvention die Kinosäle auf digitale Technik umgerüstet. Die Projektion von Filmstreifen ist kaum mehr in der aktuellen Kinolandschaft vorgesehen. Es klingt einfach zu sagen und zu fordern, die Filmstreifen müssten nun allesamt gescannt und damit die auf ihnen lagernden Bild- wie Toninformationen in die digitale Domäne überführt werden. In der Praxis stellen sich jedoch massive Probleme, denn «Digitalisierung» ist mehr als ein technischer Vorgang. Sie ist auch und vor allem ein institutioneller, ökonomischer, sozialer und kultureller Prozess.

Der Vorgang birgt zudem medientheoretisch nachhaltige Implikationen, die sich im konkreten Umgang mit dem Material äussern und die damit auch die Erscheinungsform der Filme wirkmächtig beeinflussen. Dies lässt sich exemplarisch am Beispiel des Scannens erläutern: Jeder Scanprozess stellt einen neuen Abbildungsprozess dar. Eine digitale Aufnahmeapparatur (Scanner) «fotografiert» oder «filmt» die fotochemisch erfassten Bild- und Toninformationen ab – überführt die (ästhetische) Imago2 in ein anderes bildgebendes System. Bekanntermassen – eine Grundregel der Filmtheorie – unterliegt jeder filmische Abbildungsprozess Entscheidungen, die die Erscheinungsweise formieren. Digitalisierte Filme erhalten somit ihren Status als Digitalisat durch die Interaktion von Faktoren auf verschiedenen Ebenen: das Vor-Handensein in einer nicht digitalen Form, eine technische Aufnahmeapparatur, mit der die Informationen in digitale Daten überführt werden (zum Beispiel ein Scanner), der Opera­teur beispielsweise der Techniker am Scanner), der Operateur am digitalen Imaging, die massgebliche institutionelle Rahmung (etwa die Kuratierung, der Zweck der Digitalisierung) sowie die Wahrnehmungsstrategien der vom Kontext geprägten Erwartungshaltung eines Rezipienten.

Der umstrittene, problematische Begriff «Remastered» liefert in der Diskussion um die Bearbeitung und Wiederverwertung von Filmen ein anschauliches Beispiel. Der Begriff beschreibt weniger einen technischen Vorgang als vielmehr ein Vermarktungs-Label für re-editierte Werke. In der Praxis kann hiermit gemeint sein, dass der Film digitalisiert wurde – hierbei gibt es keine Norm für die Qualität (die Auflösung etwa) und für die genaue Definition des Vorgangs – und dass er an heutige Sehgewohnheiten und Medienumgebungen in seiner Erscheinungsform angepasst wurde. Dieser Vorgang manifestiert sich am deutlichsten im Umgang mit der Farbgestaltung (etwa für die Auswertung im Fernsehen). Das Label «Remastered» hat keine feste Bedeutung. Einzige Konstante ist, dass es in kommerziellen Kontexten jeweils umstandslos wertsteigernd konnotiert verwendet wird.3 Vor diesem Hintergrund können leicht in der öffentlichen Wahrnehmung «Remastering» und «Restaurierung» zu synonymen Begriffen verschwimmen, auch wenn die Ansprüche und Ziele der jeweiligen Überführung und Bearbeitung unterschiedlich sind.

«Digitalisierung» als technischen Vorgang wie zugleich als kulturelle Praxis zu begreifen, bedeutet, dass es sich hier um einen Prozess mit vielen Variablen handelt, dessen Ergebnis je nach den situativ und pragmatisch getroffenen Entscheidungen ganz unterschiedlich ausfallen kann. Diese hängen davon ab, welche Wertematrix, welche Wertmassstäbe man dem Prozess zugrunde legt. Sicherlich steht insbesondere der schwammige Begriff «Remastered» im Zusammenhang mit einer Bewertung, in der der Film am Potenzial seines Unterhaltungswerts, vor allem im Kontext von Affekt- und Effektmaximierung, gesehen und verstanden wird. Mit anderen Worten, ästhetische Eigenschaften eines Films werden an Sehgewohnheiten angepasst, die von der aktuellen Medienumgebung und -erfahrung geprägt sind.

Bei Digitalisierungsprozessen von «älteren» Filmen kommt noch ein entscheidender Aspekt hinzu, der immer präsent ist, wenn die Filme gleichwohl als «historisch» wahrgenommen werden: Historische Filme, die digitalisiert werden, umgibt ein «Vor-Leben» in der Vergangenheit. Ihre spezifische Qualität besteht darin, dass sie bereits in bestehenden Diskursen prä-existent sind und aus einem historischen Kontext stammen – in ihrem inhaltlichen wie ästhetischen Gehalt. Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, DE 1920) und seine anhängigen Vorstellungen expressionistischer Ästhetik und Weltdeutung stellen ein beredtes Beispiel dar.

Der Wert von Filmgeschichte für die Transition – Referenzprobleme

Das analoge Vor-Leben eines digitalisierten Filmes, seine historische Position und Funktion in der Geschichte, ist geprägt von Variablen, die nachhaltigen Einfluss auf unsere gegenwärtige Vorstellung von dem jeweiligen Werk haben.

Der Begriff ‹Original› ist in der Filmrestaurierung mit philologischem und ethischem Anspruch ein höchst komplexer und wandelbarer Begriff und lässt sich aus der Denkmalpflege und deren Restaurierungsethik medienspezifisch nicht einfach übertragen.4 Filme wurden und werden industriell gefertigt, sie sind technisch reproduzierbar und werden marktförmig vertrieben. Dies bedeutet, es gibt von einem Film eine Vielzahl von Elementen, Fabrikationsstufen (Kameranegativ, Duplikat-Elemente, Vorführkopien), die gerade bei international vertriebenen Vorführkopien auch inhaltliche und ästhetische Abweichungen aufweisen können. Insofern gilt, dass jeder Restaurierungsprozess durch die Wahl seiner Referenz und Quellen «sein» Original (etwa Premierenversion oder spätere Vorführkopie) konstituiert und definiert.

Eine weitere Bedingung für die Bestimmung, welche Version wir als das historische Ausgangswerk betrachten, stellen zudem die Überlieferungspraxen dar: Welche Version, welche Fassung, in welcher Form (etwa als spätere Kopie auf Safety-Material) sind überhaupt bis in die Gegenwart tradiert und prägen somit unser heutiges Bild von dem historischen Werk? Es ist die aktuelle Quellenlage, die das Material bestimmt und zugleich unfreiwillig den Fundus beschränkt, aus dem die historische Referenz gewählt werden kann.

Entscheidend ist weiterhin, wie die Quellen gelesen und wie die Informationen zur Formierung des Digitalisierungsprozesses gewichtet und genutzt werden. Die Berlinale 2015 präsentierte im Rahmen ihrer Retrospektive ein Panel unter dem Titel Challenges and Opportunities in Restoring Technicolor.5 Die Farbverfahren von Technicolor bieten nicht nur für die oben beschriebene Problematik in der Wahl der Quellen ein gutes exemplarisches Beispiel. Zum einen gab es in der historischen Entwicklung mehrere Technicolor-Verfahren (I–V); zum anderen entstanden verschiedene Filmelemente im Verlauf des Herstellungsprozesses der Farben (beispielsweise mehrere Negative, Color Separations). Insofern liefert das Technicolor-Verfahren insgesamt (bei einer an sich guten Überlieferungslage) eine Vielzahl unterschiedlicher Materialien, die, wenn denn als Referenz gewählt, als Quellen für unterschiedliche Informationen in den Digitalisierungsprozess infrage kommen. Dies zu erkennen und für Digitalisierungsprozesse nutzbar zu machen, setzt allerding ein fundiertes Wissen um die historischen Produktions- und Kopierprozesse voraus. In der mit internationalen Experten hochkarätig besetzten Panel-Diskussion auf der Berlinale wurden die methodischen Aspekte besonders deutlich – gerade weil es um die Themen ‹Farbe› und ‹Farbwirkung› ging. Paolo Cherchi Usai (George Eastman House) hob hervor, dass Farbgestaltung und -wahrnehmung immer zeit- und gesellschaftsabhängig seien – gerade weil auch von den jeweiligen historisch variablen Medienerfahrungen geprägt.

Heute stellt sich nun die Frage, wie man diese Farben (digital) reproduziert und was man als historische Referenz für die Reproduktion oder Rekonstruktion wählt.6 Dahinter steht die Frage, wie man verlässliches historisches Wissen – vor allem über ästhetische Eigenschaften – definieren und erlangen kann. Wie lassen sich Verfahrens- wie Vorgehensweisen in der Filmrestaurierung und -digitalisierung in dem Masse standardisieren, dass sie wiederholbar und damit im Ergebnis vergleichbar werden. Es wird sicherlich keine einfachen Antworten geben. Umso wichtiger ist es aber, Bedingungen dafür zu schaffen, dass der einschlägige Diskurs und das historische Wissen weiter gepflegt werden und ein öffentliches Bewusstsein geschaffen wird.

Unterhaltung, Erinnerung und die affektive Bedeutung des Rituals

Der Wert eines (historischen) Films bemisst sich oft zunächst oberflächlich an seinem zeitlosen Unterhaltungspotenzial. Das Fernsehen mit seiner Programmierungspolitik als Alltagsmedium spielt hier eine wichtige Rolle (oder hat sie lange gespielt). Interessant ist vor diesem Hintergrund eine konfliktbeladene Debatte um die Reedition eines Films, der sich durch das alljährliche Ausstrahlungsritual in Deutschland und Europa in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat: Bei dem Märchen Drei Haselnüsse für Aschenbrödel von Václav Vorlícek (CS 1973) handelt es sich um einen festen Bestandteil des Weihnachtsfestes. Die rituelle Ausstrahlungspraxis, der spezielle Zeitpunkt, der fantastische Filminhalt und die dadurch etablierte nostalgische Erinnerung und affektive Bindung an den Film könnten die Emotionen des Konflikts befeuert haben: 2010 erschien der seit Jahrzehnten im Fernsehen ausgestrahlte Film in Deutschland erneut auf DVD. Die Filmzeitschrift epd film berichtete im Januar 2012 über einen Disput, den die Reaktion eines ungehaltenen Kunden ausgelöst hatte. epd film betitelte ihren Artikel mit: «Klappe halten, Kunde! Die Firma Icestorm verstümmelt Filme und droht unzufriedenen Kunden»:

«Der Vertrieb hat den Film (Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, FH) vom Format 4:3 auf 16:9 umgewandelt, dem heute gängigen TV-Format, um zu verhindern, dass links und rechts schwarze Streifen entstehen. Dadurch verschwinden Bildinformationen, es ist nicht mehr der Film, den Vorlícek gedreht hat. Ein epd-film-Leser, der die DVD kaufte, hat sich daraufhin bei Icestorm beschwert [...]. Der Leser monierte die Verstümmelung durch die Formatänderung, die einen Betrug am Kunden und andererseits ein Verbrechen am Film bedeute. Allerdings bekam er keine Antwort von Icestorm, sondern von deren Anwalt [...]. Die Kanzlei fand strafrechtliche Tatbestände wie Beleidigung erfüllt, verzichtete aber, großzügigerweise, auf Strafverfolgung»7.

Es ist schon bemerkenswert, dass der Streit um die Authentizität eines filmischen Kunstwerks auf DVD Gegenstand einer juristischen Auseinandersetzung zu werden drohte (solche Formatänderungen fanden und finden im Fernsehen häufig statt) – nicht nur wegen der pikanten Reaktion des DVD-Herstellers, sondern auch, weil der unzufriedene Kunde von einem «Verbrechen» sprach: Er wollte das sehen, was der Regisseur zeigen wollte – also alle Bildinformationen. Der verärgerte DVD-Käufer beruft sich hier auf seine durch das Fernsehen geprägte Erinnerung.

Aber: Die Frage, was denn eigentlich das «Original» bzw. das «authentische» Format des Films sei, wird umso brisanter, wenn man neuere Erkenntnisse des National Film Archive in Prag berücksichtigt. Bei der Studie der historischen Produktionsdokumente fand man die Information, dass der Film ursprünglich wohl doch in dem breiteren Format 1,66:1 geplant war und mutmasslich auch in diesem Format in die Kinos gekommen ist. Es steht zu vermuten, dass die Version im 4:3-Format erst in der späteren Auswertung für das Fernsehen entstand; diese Version wurde dann wiederum über die ritualisierte Ausstrahlungspraxis zur «Referenz» der Erinnerung.

Der Streit um die DVD-Edition ist so eindrücklich, weil die Vermutung naheliegt, dass die persönliche Identifikation des Zuschauers mit dem Film über seine Erinnerung zusätzlich emotional aufgeladen wurde. Man könnte hier von einer affektiven Erinnerungsbildung sprechen, die die Bindung an den Film – in der entsprechenden Version der Ausstrahlung (!) – noch verstärkt und sich im kultischen Status des Films objektiviert sieht. Dies gerät nun mit der Wiederaufnahme in Form der Reedition auf DVD in einen Konflikt, der nicht einfach zu lösen ist.

Das kulturelle Gedächtnis ist in ständigem Wandel – in freier Anlehnung an Aleida Assmann könnte man sagen8: In diesem Fall wird die Vorstellung vom bewahrenden, speichernden Gedächtnis eines filmischen Erbes abgelöst durch ein funktionales; die historischen Filme werden in einen zweckorientierten, pragmatischen Zusammenhang gebracht. Ihre Form und in diesem Fall auch ihr Inhalt werden den augenblicklichen Medienbedingungen unterworfen (auf der mittlerweile erschienenen Blu-ray sind übrigens beide Bildformate vorhanden)9. Der Vorfall zeigt auch, dass die Rolle vor allem auch fiktionaler Filme für eine affektive Erinnerungsbildung nicht zu unterschätzen ist. Gerade vor dem Hintergrund von Digitalisierungs- und Vermarktungspraxen sollte diese Dynamik weiter (auch selbstkritisch) im Auge behalten werden.

Filmgeschichte heute? Zwischen Unüberschaubarkeit und Popularisierung

Neben den marktbedingten Anpassungen und medialen Transformationen historischer Filme gilt es aber auch, die DVD- und Blu-ray-Editionen, die sich eher der Idealvorstellung eines editionsphilologischen Paradigmas verschrieben haben10, zu würdigen (eine Vorreiterrolle haben hierbei etwa The Criterion Collection oder die deutsche Studienfassung Metropolis (2003) eingenommen). Aber wer überschaut überhaupt noch die zahlreichen auf den Markt gebrachten Editionen? Und vor allem: Was macht eine «gute» Edition aus? Oft sind Bild- und Tonqualität das erste Bewertungskriterium11, aber inwieweit existiert eine Transparenz zwischen den fotochemischen Ausgangsmaterialien und ihrer Transition in die digitale Domäne?

Ein interessantes Beispiel stellen die verschiedenen Editionen der Filme von Georges Méliès dar – einem der Väter des fantastischen Films. Jede von ihnen schreibt unter anderen Vorzeichen Filmgeschichte und definiert damit die Anfänge des Mediums. So ist 2012/2013 in Deutschland bei Arthaus eine DVD erschienen, in Frankreich gibt es schon länger eine entsprechende Box (Lobster Films, 2008), inzwischen sogar schon wieder in einem Upgrade mit einer sechsten DVD.12

Was die deutsche Méliès-Box bzw. die eigens editierte Einzel-DVD/Blu-ray-Disc13 so speziell macht, ist das «Ereignis» der Restaurierung von Le voyage dans la lune (Die Reise zum Mond, 1902). Der Film war Méliès’ Welterfolg am Anfang des 20. Jahrhunderts. In «Kleinstarbeit» (so die eigens gedrehte begleitende Dokumentation) hat man vor mehr als zehn Jahren die einzelnen Frames digital abfotografiert. Erst als später die Digitaltechnik so weit war, konnte man die Informationen wieder zusammensetzen, Bildteile kombinieren und rekonstruieren. Aus heutiger Sicht gilt diese neue Fassung des Films deshalb als so «wertvoll», weil sie besser – so die Annahme – zu unserem aktuellen ästhetischen Attraktionsempfinden passe: Die neue Fassung simuliert die Erscheinungsweise von Handkolorierungen und damit historische Farbverfahren. Einen weiteren Mehrwert der Edition offeriert auf der DVD die Dokumentation über die Restaurierung, die vor allem die Leistungsstärke der digitalen Technologien vorführt. Eine aktualisierende Zusatzattraktion bietet darüber hinaus die eigens neu komponierte Musik der französischen Band Air. Um die historische «Originalität» des restaurierten Films entbrannte dann allerdings eine emotionale Debatte unter Experten, ob man hier nicht eine zeitgenössische Raubkopie restauriert hätte.14

Es gibt keine definitiv gültige Restaurierung, es kann immer nur Annäherungen an das Konstrukt eines Originals unter den Bedingungen der Gegenwart geben. Mit anderen Worten: Es muss das Gebot der Transparenz gelten angesichts der gewählten Perspektive, der Bedingungen und vor allem der Interessen der Gegenwart. Dazu gehört vor allem, dass man die Filmrestaurierungen beziehungsweise ihre Ergebnisse und Editionen eben auch als ein Zeugnis der Gegenwart begreift, wie sie Vergangenheit versteht.

Man darf nicht unterschätzen, wie sehr gerade Fiktionsfilme als kollektive Erinnerungsräume – über den Filminhalt wie über die Materialästhetik – unser Bild der Vergangenheit prägen. Barbara Klinger (2006) hat für den amerikanischen Markt nachgewiesen, wie das kommerzielle Recycling von Hollywood-Klassikern dazu führte, dass diese als unmittelbare Dokumente der amerikanischen Kultur betrachtet wurden.

Eines der schlagendsten Beispiele ist wohl die Erkenntnis, die Sony 2011 bei der Restaurierung von Taxi Driver (1976, Martin Scorsese) hatte15: Ausgerechnet in der Szene mit einem der bekanntesten Sätze der Filmgeschichte, der längst in der Populärkultur ein eigenständiges Leben entwickelt hat («You talkin’ to me?»), war bei einer der vorangehenden DVD-Editionen der Bildausschnitt so verändert worden, dass sich die Blickstrukturen von Robert De Niro vor dem Spiegel gänzlich anders als in der Kinofilmfassung gestalteten. Auch war in die symbolhafte Farbdramaturgie nachhaltig eingegriffen worden, indem etwa der auffällige Rot-Ton der Jacke von De Niro (Ausdruck für dessen latente Emotionen) abgeschwächt wurde. Filmrestaurierung und -edition betreffen also nicht nur ethische, sondern auch ganz konkret bedeutungsgenerierende wie in der Folge filmanalytische Fragen und damit – letzten Endes – die kulturellen Gedächtnisbilder (vgl. die Fassung aus dem Jahr 2011 von Taxi Driver).

Darum Filmgeschichte!

Sicherlich, eine Migration und Transformation von Bildern hat auch schon vor der Digitalisierung ständig stattgefunden, doch nie waren die Erscheinungsformen von «Film» so vielfältig, nie die Zugänglichkeit von Filmen so variabel. Audiovisuelle Medien durchdringen mittlerweile alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Und längst ist das Kino nicht mehr einziger Ort, um Filme zu sehen und Filmgeschichte zu erfahren. Gerade deshalb muss man umso mehr die impliziten Formierungsprozesse und Verbreitungsstrategien und -orte explizit machen.

Prozesse der Digitalisierung als einen gegenwärtig höchst aktuellen Bestandteil der medialen Sozialisierung fassen zu wollen, erweist sich als äusserst schwer. Digitalisierung wirkt auf einer Vielzahl von Ebenen: auf der diskursiven, auf der technologischen, der institutionellen, auf der ästhetischen, auf der editorischen und distributiven. Dies stellt die besondere (methodologische) Herausforderung dar, wenn man über die Bedeutung von Digitalisierung für unsere Wahrnehmung von Zeit und Geschichte nachdenkt: Oberflächlich betrachtet scheinen historische Bewegt-Bilder leichter und ortsungebunden zugänglicher, Wissen um Filme und Bewegt-Bilder wird popularisiert.

Aber gerade Lektionen der Filmgeschichte im Kontext sich wandelnder Medienumgebungen lehren, Verhältnismässigkeit zu beachten. Damit wird es möglich, die omnipräsente Idee von Fortschritt in eine digitale Zukunft zu relativieren. Es gilt nicht nur, die Filme selbst zu erinnern, sondern sich auch die Formenvielfalt, in der Filme zugänglich waren und sind, zu vergegenwärtigen. Filme sind nicht nur ihr Inhalt als Unterhaltung, sie sind eine kulturelle Praxis, die sich mit jeder Medienumgebung neu definiert und konkretisiert. Im Zeichen des schnellen Wandels digitaler Technologie wird es umso dringlicher, sich die jeweiligen Bedingungen, den konkreten Ort und Zeitpunkt der eigenen medialen Erfahrung von Gegenwart und Vergangenheit vor Augen zu führen.

Peter Jackson auf: http://screenrant.com/hobbig-bat... (16.02.2015).

Brandi zit. n. Katrin Janis, Restaurierungsethik im Kontext von Wissenschaft und Praxis, München 2005, S. 26f.

Barbara Klinger, Beyond the Multiplex, Berkeley/Los Angeles 2006, S 122f.

Vgl. ausführlich Anna Bohn, Denkmal Film. Band I: Der Film als Kulturerbe. Band II: Kulturlexikon Filmerbe. Wien/Köln et al. 2013.

Vgl. hierzu auch die begleitende Publikation zur Retrospektive Glorious Technicolor, insbesondere der Beitrag von Ruedel/Webb 2015, S. 127–145.

Vgl. Barbara Flückiger, «Color Analysis for the Digital Restoration of Das Cabinet des Dr. Caligari», in: Moving Image, 15/1 (2015), S. 22–43; sowie dies., «Material Properties of Historical Film in the Digital Age», in: NECSUS. Tangibility, Autumn (2012), S. 1–17. http://www.necsus-ejms.org/mater... (30.01.2012).

Rudolf Worschech, «Klappe halten, Kunde! Die Firma Icestorm verstümmelt Filme und droht unzufriedenen Kunden», in: epd film, 1 (2012), S. 5.

Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (1973, Václav Vorlícek/2010/2011, Icestorm, Blu-ray-Disc und DVD).

Matthias Christen, «Das bewegliche Archiv: DVD-Editionen als Schnittstellen von Filmwissenschaft, Philologie und Marketingstrategien», in: Gudrun Sommer/Vinzenz Hediger/Oliver Fahle (Hg.), Orte filmischen Wissens, Marburg 2011, S. 93–108.

Vgl. hierzu auch Klinger (2006).

Georges Méliès. Le Premier Magicien du Cinéma (1896–1913) (2008, Lobster Films); Georges Méliès. Die Magie des Kinos (2012, Arthaus, Doppel-DVD).

Le voyage dans la lune. Le voyage extraordinaire (1902, Méliès/2011, Lobster Films Blu-ray-Disc u. DVD); Die Reise zum Mond. Die außergewöhnliche Reise (1902, Méliès/2012, Arthaus).

Vgl. hierzu ausführlich Journal of Film Preservation, no 87, 10/2012, bes. S. 7–22.

Vgl. Taxi Driver (1976, Scorsese/2011, Blu-ray Sony Pictures Home Entertainment).

Eine erste Version dieses Textes ist auf Memento Movie (www.mwmwnto-movie.de) 2013 erschienen; Wiederabdruck in: Rein, Günter (2013): Aussicht. Rückblick. Eindruck. Ludwigsburg: avCommunication. S. 172–182; 2015 ist der Aufsatz deutlich überarbeitet und ins Tschechische übersetzt worden in: Illuminace 2/2015, Archive and Digitization. Der vorliegende Text ist eine erneut aktualisierte und stark gekürzte Fassung.

Franziska Heller
*1979, Dr. phil., 2015 Lehrstuhlvertretung von Prof. Dr. Barbara Flückiger am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. 2008-2015 Mitarbeiterin und Habilitandin in verschiedenen, durch die KTI wie den SNF geförderten Projekten zur Theorie und Praxis der Digitalisierung und Medienhistoriographie. Monographien: Filmästhetik des Fluiden. Strömungen des Erzählens von Vigo bis Tarkowskij, von Huston bis Cameron (Wilhelm Fink 2010) und Alfred Hitchcock. Einführung in seine Filme und Filmästhetik (Wilhelm Fink 2015).
(Stand: 2017)
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