NATALIE BÖHLER

DIE KINDER VOM NAPF (ALICE SCHMID)

SELECTION CINEMA

Das Napfgebiet ist eine abgelegene, hügelige Landschaft im Herzen der Schweiz. Der Napf, der Berg im Zentrum dieser Gegend, ist nur zu Fuss erreichbar. Es ist ein unwegsames, wildes Gebiet, das Leben auf den Höfen ist ländlich geprägt, kleinräumig und isoliert. Ein Jahr lang hat Alice Schmid eine Gruppe hier wohnender Kinder begleitet. Dieser Zyklus wird im Film sichtbar: Landschaftsaufnahmen fangen den Wechsel der Jahreszeiten ein.

Das Leben richtet sich nach dem Lauf der Natur und nach dem Flecken Erde, auf dem es stattfindet. Diese Erdverbundenheit verleiht Geborgenheit; die Kinder fühlen sich in ihrer Heimat stark verwurzelt. Dabei verklärt der Film weder eine ländliche Idylle noch zeigt er eine heile Welt: Der Wolf reisst Schafe, der Habicht holt ein Huhn, und Unwetter sind hier noch richtig gefährlich.

Die Kinder vom Napf schildert die Welt dieser Kinder in Episoden: kurz, knapp, ohne Erklärungen, was dem Film eine Frische und Leichtigkeit verleiht. Es entsteht ein Bilderbogen des Alltags. Hier werden Mausefallen aufgestellt, Löwenzahnblüten abgeknipts, es wird Kohle hergestellt, Handorgel gespielt und gemetzget. Die Kinder helfen auf dem elterlichen Hof mit, ihr Spiel ähnelt oft der Arbeitswelt der Erwachsenen; eine Szene zeigt ein paar Kinder, die frisch gemähtes Gras auf einen Spielzeugtraktor laden – Nachahmung und Mitarbeit zugleich. Die Landwirtschaft und das Leben mit der Natur bilden ein verbindendes Glied zwischen den Generationen; es fällt den Kindern leicht, sich in die Welt ihrer Eltern einzureihen, weil Kindheit hier, fernab von urbanen Erlebniswelten, weniger als Sonderstatus betrachtet wird.

Dass Schmid viel Zeit mit ihren Darstellern verbracht und eine gute Beziehung zu ihnen aufgebaut hat, zeigt sich: Die Auftritte der Kinder sind von grosser Natürlichkeit. Der Film thematisiert auch, wie sie mit der Präsenz der Kamera umgehen: «Jetzt hab ichs falsch gesagt; soll ich noch mal?», fragt ein Junge die Kamerafrau. Konsequent bleibt die Kamera auf Kinderaugenhöhe, teilweise nimmt sie gar die Untersicht ein. Die Welt der Kleinen wird dadurch gross und rührt an universelle Themen.

Die Kinder vom Napf ist Alice Schmids erster Kinofilm und war der erfolgreichste Schweizer Film 2012. Er stiess an Festivals im In- und Ausland auf grosses Publikumsinteresse. An der Berlinale und in Locarno lief er in vollen Sälen und kam auch im europäischen Ausland ins Kino.

Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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