Ein Junge, der auf Walliser Skipisten auf Diebestour geht, steht im Mittelpunkt von L’enfant d’en haut von Ursula Meier. Ihre sozialrealistische Parabel besticht durch eine ungewöhnliche Sicht auf die Schweizer Bergwelt, eine eigenwillige Formsprache (Kamera: Agnès Godard) und zwei starke junge Protagonisten. Diese werden gespielt von Kacey Mottet Klein, der bereits für seinen Auftritt in Meiers Home den Schweizer Filmpreis 2009 für die grösste Nachwuchshoffnung erhielt, und der Französin Léa Seydoux.
Der zwölfjährige Simon nimmt im Winter täglich die Hochseilbahn, um auf den Skipisten klauen zu gehen. Skier, Mützen, Brillen, ja selbst der Proviant der reichen Touristen sind nicht vor ihm sicher. Die Skiausrüstungen verkauft er unten im Tal an die Kinder des Wohnblocks, in dem er mit seiner grossen Schwester Louise lebt. Damit bringt er mehr Geld heim als Louise, die eben ihre Stelle verloren hat und am liebsten mit zwielichtigen Typen herumhängt. Das schwierige Verhältnis der beiden wird durch Louises materielle Abhängigkeit verstärkt. Denn der scheinbar so selbstständige Simon, der sich immer allein durchzuboxen vermag, sucht im Grunde nichts mehr als Geborgenheit und Liebe. In einer herzzerreissenden Szene ist Simon bereit, gutes Geld zu bezahlen, um im Bett von Louise übernachten zu können.
Mit ihrem preisgekrönten Oscar-Anwärter Home hat sich die Genferin Ursula Meier einen Namen als Autorenfilmerin gemacht. Es sind in sich geschlossene Welten, in denen sich Meiers Protagonisten bewegen, solche, die fremd anmuten, aber im Grunde ganz klar in unse- rer (Schweizer) Realität verankert sind. Während sie ihre parabelhafte Familienerzählung Home im Niemandsland eines stillgelegten Autobahnstücks ansiedelte, hausen ihre beiden Protagonisten in L’enfant d’en haut in einem heruntergekommenen Hochhaus einer gesichtslosen Gegend des Walliser Rhonetals. Bei seinen Reisen in die Höhe hat Simon keinen Blick für die atemberaubende Schönheit der Alpenwelt, sondern hält sich in zubetonierten Ausflugswüsten und unwirtlichen Hinterräumen auf. Die auf den ersten Blick etwas simple Metaphorik von oben und unten wird dank subtilen Zwischentönen, einer packenden Erzählung, die mit unvorhersehbaren Wendun- gen überrascht, und glaubwürdiger Charakterzeichnung zur faszinierenden Parabel, in der ein kleiner Junge seinen Traum vom Aufstieg träumt und sich nach Geborgenheit sehnt.
An den Berliner Filmfestspielen 2012 wurde L’enfant d’en haut als Favorit gehandelt und erhielt eher überraschend bloss einen Sonderpreis der Jury.