JONAS ULRICH

URSULA – LEBEN IM ANDERSWO (ROLF LYSSY)

SELECTION CINEMA

In den späten 60ern sorgte der Dokumentarfilm Ursula oder das unwerte Leben (CH 1966) schweizweit für Aufsehen, da er Missstände in der Behindertenbetreuung aufzeigte und die herrschende Definition von «entwicklungsunfähigen» Kindern infrage stellte. Eine Protagonistin des Filmes war Ursula Bodmer, ein taubblindes und geistig behindertes Mädchen, das von den offiziellen Stellen als völlig bildungsunfähig eingestuft worden war. In ihren frühen Jahren war sie von Heim zu Heim und von Anstalt zu Anstalt geschoben worden, bis sich endlich die Heilpädagogin Anita Utziger des damals achtjährigen Mädchens annahm. Gut fünfzig Jahre später wurde Rolf Lyssy (Die Schweizermacher, CH 1978), der bei Ursula oder das unwerte Leben an der Kamera gestanden hatte, von Anita Utziger wegen einer DVD des Filmes angefragt. Als Lyssy erfuhr, dass Ursula noch immer am Leben und wohlauf sei, inspirierte ihn dies, einen zweiten Dokumentarfilm über sie zu drehen.

Ursula – Leben im Anderswo ist in erster Linie ein feinfühliger, intimer Film. Zwar rekapituliert Lyssy Ursulas bisherige Lebensgeschichte anhand von Filmausschnitten, Fotografien und Interviews, der Hauptteil dreht sich jedoch um Ursulas Lebensalltag im Hier und Jetzt. Neben den Betreuern und Pädagogen fungiert vor allem Anita Utziger als Erzählerin: Sie schafft es, mit klarer Sprache und anschaulichen Schilderungen einen Einblick in die für uns schwer zugängliche Welt der Ursula zu geben. Es ist berührend, zu sehen, wie viel Zu­neigung und Herzlichkeit die alte Frau ihrer Adoptivtochter entgegenbringt, welche – zumindest äusserlich – mittlerweile ebenfalls zur alten Frau geworden ist. Da Ursula stets im Vordergrund steht, erkennt man als Zuschauer erst nach und nach, welche Opfer Utziger selbst erbrachte, als sie das Mädchen adoptierte und deren Pflege zu ihrer Lebensaufgabe machte. So entfaltet der Film das Porträt einer einzigartigen, mittlerweile schon ein halbes Jahrhundert andauernden Mutter-Tochter-Beziehung.

Was das Werk zudem auszeichnet, ist Lyssys bedächtige, unvoreingenommene Herangehensweise und sein Auge für Details. Jemand bemerkt im Film, dass das Typische an Ursula ihr persönlicher, von aussen nicht bestimmbarer Rhythmus sei. Der Film passt sich diesem Rhythmus an und schafft es, dem Zuschauer ein Gefühl dafür zu vermitteln – ein Gefühl für ein Leben, das mehr durch Zustände denn durch Fortschritte gekennzeichnet ist. Lyssy verschweigt nicht, dass die meisten Versuche, Ursula einfache Alltagshandlungen oder gar Sprache beizubringen, auf keinen fruchtbaren Boden gefallen sind. Doch wenn Ursula – Leben im Anderswo etwas nicht ist, dann ein politischer Film, der aus dem Einzelfall irgendwelche allgemeine Aussagen ableiten will. Und das ist auch gut so.

Jonas Ulrich
*1990, seit 2009 Studium der Geschichte, Filmwissenschaft und Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Daneben freischaffender Filmkritiker und tätig in der Produktion von Musikvideos und Kurzfilmen. www.atopic.ch
(Stand: 2016)
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