JONAS ULRICH

WEITERLEBEN (HANS HALDIMANN)

SELECTION CINEMA

In seinem Dokumentarfilm Weiterleben erzählt Hans Haldimann (Bergauf, bergab) die Geschichte von vier Menschen, die aus den verschiedensten Ländern der Welt stammen, jedoch etwas gemeinsam haben: Sie alle kämpften in ihrem Land für Freiheit und Menschenrechte und mussten dafür Schreckliches ertragen – Gefängnis, Folter, Vertreibung. Heute leben sie in der Schweiz. So sieht man Ali Biçer, der in Bern ein Restaurant betreibt, keineswegs an, dass er als Kurde und Revolutionär in der Türkei 15 Jahre hinter Gittern verbrachte. Dabei wurde er gar zum Tod verurteilt und rechnete ein Jahr lang jeden Morgen damit, plötzlich aus der Zelle gezerrt und zum Galgen gebracht zu werden. Auch die Tibeterin Phuntsog Nyidron verbrachte mehr als ein Jahrzehnt in einem chinesischen Gefängnis. Währenddessen wurden sowohl Jorge Molina als auch Rose Catherine Karrer-Nzayamo in ihren Herkunftsländern von Regierungstruppen gefoltert und misshandelt, Ersterer in Chile im Rahmen des Militärputsches von 1973, Letztere in Kongo unter dem Diktator Mobutu.

Haldimann unternimmt keinen Versuch, die Erzählungen der Protagonisten in Bildern umzusetzen. Gezeigt werden uns stattdessen ausschliesslich Aufnahmen aus dem Hier und Jetzt, überwiegend aus dem Alltag der ehemaligen Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat. Durch die Gegenüberstellung der beschaulichen, fried­­vollen Eindrücke aus dem Leben in der Schweiz mit dem schrecklichen Inhalt der erzählten Erinnerungen entsteht eine starke Kontrastwirkung. Formal gesehen betritt Weiterleben dabei sicherlich kein Neuland, beweist jedoch einmal mehr die Stärke der Schweiz im Bereich Dokumentarfilm. Bemerkenswert ist, dass Haldimann die Protagonisten frei erzählen lässt, statt sie mit Fragen zu löchern. Dadurch fallen ihre Schilderungen erstaunlich ungezwungen und offen aus, was bei einem derart schwierigen Thema alles andere als selbstverständlich ist: Zwar ist viel Zeit seit den Gräueltaten vergangen, verarbeitet sind jedoch längst nicht alle.

Der Schnitt des Filmes ist insofern ungewöhnlich, als zuerst die beiden Männer und erst dann die beiden Frauen vorgestellt werden, anstatt zwischen den vier Interviews zu rotieren. So kann der Zuschauer länger bei einem einzelnen Protagonisten verweilen und sich in seine Lage hineinversetzen. Andererseits führt dies auch dazu, dass man zu Ali und Jorge die stärkere emotionale Bindung herstellen kann. Dies mag dadurch verstärkt werden, dass ihre Schicksale beide im Kontext der 68er-Unruhen stehen und uns somit kulturell näher sind als die korrupte Regierung in Kongo und die Unterdrückung in Tibet. Erschütternd und ergreifend sind jedoch zweifellos alle vier Geschichten.

Jonas Ulrich
*1990, seit 2009 Studium der Geschichte, Filmwissenschaft und Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Daneben freischaffender Filmkritiker und tätig in der Produktion von Musikvideos und Kurzfilmen. www.atopic.ch
(Stand: 2016)
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