SERAINA WINZELER

VOM ZEUGEN ZUM BILD — ZEUGENSCHAFT ALS ÜBERTRAGUNG

ESSAY

Film und Geschichte gehen auf verschiedenen Ebenen ein komplexes Verhältnis ein, wobei der Film – wie auch die Fotografie – einen wesentlichen Beitrag zu einer (medialen) Geschichtsschreibung und einem kollektiven Gedächtnis leistet. Im vorliegenden Text werden mit den Filmen Totschweigen (Margareta Heinrich, Eduard Erne, A 1994) und Passagen (Lisl Ponger, A 1996) dokumentarische beziehungsweise dokumentarisch-experimentelle Strategien untersucht, die sich mit historischer Erinnerung beschäftigen. Mediale Geschichtsschreibung wird dabei anhand der Shoah (Totschweigen) und allgemeiner an Verfolgung, Vertreibung und Exil (Passagen) diskutiert. Diese Themen bieten sich besonders an, da hier die Frage nach Inhalt und Form von filmischer Repräsentation dezidiert gestellt und in Bezug auf moralisch-ethische Aspekte und politisch-gesellschaftliche Verantwortungen diskutiert wurde und wird.

Geschichtsschreibung, Zeugenschaft, Manipulation

Film und Geschichte befinden sich in einem Wechselverhältnis, und die Spannweite der unter dem Stichwort Manipulation zu untersuchenden Themen ist gross. Filmische Gestaltungs- und Wirkungsweisen sind etwa in manipulativen Propagandafilmen massenwirksam eingesetzt worden, um gezielt bestimmte ideologische Aussagen zu propagieren und andere zu unterschlagen und so Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse zu nehmen. Nicht nur in diesem Extremfall jedoch werden die ästhetischen Mittel von audiovisuellen Medien hinsichtlich ihrer Wirkungsweise bewusst inszeniert und erreichen eine grosse Öffentlichkeit. Gerade am Beispiel der Shoah wird deutlich, wie stark Filme historische und gesellschaftliche Diskurse prägen, etwa mit Schindler’s List (Steven Spielberg, USA 1993), der Fernsehserie Holocaust (Marvin J. Chomsky, USA/D 1978) oder Shoah (Claude Lanzmann, F 1985). Sie sind weit mehr als nur ein Spiegel der Wirklichkeit; in ihnen lagern sich historische Momente ab, und ihre Bedeutung erschliesst sich, wie Sylvie Lindeperg exemplarisch an Nuit et brouillard (Alain Resnais, F 1955) aufgezeigt hat, erst im Kontext ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.1 Wenn solche Filme wirkungsmächtig ein histo­risches Wissen um eine nicht mehr greifbare Vergangenheit konstituieren, so muss nach diesem Kontext sowie nach der medialen Konstruktion gefragt werden. Wie Hayden White herausarbeitete, erfolgt jede Geschichtsschreibung von einem bestimmten diskursiven Standpunkt aus und bedient sich bewährter ästhetischer Darstellungsstrategien.2 Ästhetisierungen der Shoah, zum Beispiel in Schindler’s List, wurden im Hinblick auf die Frage nach einer legitimen Darstellung des «Undarstellbaren» kritisch diskutiert. Als bekanntester Gegenpol zum genannten Spielfilm steht wohl Lanzmanns Werk Shoah, das nur auf Oral-History-Zeugenaussagen beruht. Die Autorin Ruth Klüger bemerkt jedoch richtig: «Für unsere Zwecke sind die Details seiner Kritik [Claude Lanzmanns, Anm. S.W.] an Spielbergs Film unwesentlich, bedeutsam ist vielmehr das Grundsätzliche daran, nämlich, dass über ein Thema wie den Holocaust nicht gedichtet und noch weniger damit ‹gespielt› werden soll. Lanzmann übersieht dabei, dass sein eigener Film Shoah ja auch mit dem Holocaust ‹spielt›, nämlich in dem Sinne, dass er sich der verschiedensten ästhetischen Mittel bedient, zum Beispiel der Wiederholung von fahrenden Zügen, die dem Zuschauer ein Gefühl der Endlosigkeit des Dargestellten vermitteln. In Lanzmanns Film – und wie könnte es anders sein? – ist alles gestellt, gezielt, beabsichtigt, nur dass es sich eben im Rahmen von Zeugenaussagen abspielt.»3 Anknüpfend an die Aussage Ruth Klügers möchte ich den vieldeutigen Begriff der Manipulation nicht wertend verstehen. Vielmehr soll er das Bewusstsein dafür schärfen, dass jede auch noch so authentisch wirkende Zeugenschaft konstruiert ist, gezielt eingesetzt wird und durch historische Denkweisen und Praktiken vorgeformt ist. Verstanden als gezielte Handhabung und Steuerung wird damit das Prozesshafte, Konstruierte, die Übertragung in eine ästhetische und diskursive Form in den Vordergrund gerückt.

Der vorliegende Text beschränkt sich auf den Dokumentarfilm. Fragen nach Formen und Funktionsweisen filmischer Repräsentation und ihrer Referentialität und Authentizität werden als zentrale Punkte der Dokumentarfilmforschung seit den Siebzigerjahren diskutiert.4 Fotografisch-filmische Quellen werden nicht mehr als indexikalische fotografische Spur betrachtet, die Wirklichkeit authentisch wiedergibt. Die scheinbar direkte, subjektlose technisch-apparative Aufzeichnung ist eine Übertragung in eine mediale Form, bei der anhand konventioneller Darstellungsmethoden filmische Welten geschaffen werden. Mit denselben Stilmitteln wie der fiktionale Film – Mise en Scène, Kamera, Licht, Ton, Montage, Bearbeitungen in der Postproduktion – gestalten Dokumentarfilme filmische Welten.

Die Inszenierung von Zeugen ist neben dem Einsatz von Archivbildern eine der häufigsten dokumentarischen Darstellungsstrategien, um ein nicht anders verfügbares Wissen zu formulieren und zu beglaubigen. Gerade bei der Darstellung von historischen Themen wird Zeugenschaft als Form der Wissensvermittlung und -bewahrung zu einem konstitutiven Element. Im vorliegenden Text wird ein breiter gefasstes Verständnis des Zeugen als «Schlüsselfigur unserer Kultur- und Wissenspraxis» auf das Bezeugen einer traumatischen Erfahrung eingeschränkt und im Film untersucht.5 Der Begriff der Zeugenschaft hat jedoch in diversen institutionellen Kontexten unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Ihnen gemeinsam ist, dass Zeugenschaft nie kontextlos, sondern immer in einem sozialen Rahmen stattfindet. Es handelt sich «um einen performativen Akt, der eingebunden ist in spezifische Rahmenbedingungen, die im Vorhinein bestimmte ‹scripts› festlegen für die Rollen dieser Interaktion sowie die Auswahl dessen, was zur Sprache gebracht wird, und die Art und Weise, wie dies zu geschehen hat und zu deuten ist».6 Juristische, religiöse, politische oder mediale Wissensformationen und Strukturen bestimmen die Interaktion zwischen Zeuge und Adressaten, formen den Inhalt und die Funktion der Zeugenaussage mit und prägen ihre Überlieferung. Die Zeugenaussage bleibt ein «Wissen aus zweiter Hand», das Ereignis, das der Zeuge durch seine Rede und Präsenz evoziert, ist selbst stets abwesend.7 Auch ist die Aussage bestimmt von Mechanismen des Wahrnehmens und Erinnerns beziehungsweise Verdrängens. Die Annahme und Bewertung der Zeugenaussage ist abhängig von den Bedingungen und Strukturen, welche die dem Zeugen zugeschriebene Authentizität bestimmen. Zeugenschaft wurde aufgrund dieser Absenz und der ambivalenten Rahmenbedingungen als defizitäres und prekäres Konzept beschrieben.8 In einer filmischen Darstellung unterliegt die Deutung folglich stark der jeweiligen Inszenierung.

Das nahende Ende der Zeitzeugenschaft der Shoah und eine zur moralischen Pflicht gewordene, auf Aufarbeitung gerichtete Vergangenheitspolitik hat in den letzten Jahrzehnten das Interesse an der gesellschaftlichen Rolle und Funktion des Zeugen verstärkt. Infolge der ethisch-politischen Diskussionen über den Umgang mit der Shoah haben sich Fragen nach den Möglichkeiten der Zeugenschaft sowie des historischen Aufarbeitens und Darstellens neu gestellt. Die zum Paradigma des traumatischen Ereignisses gewordene Vernichtung der Juden und anderer Bevölkerungsgruppen brachte eine fakten- und ereignishistorisch orientierte Geschichtsschreibung an ihre Grenzen. Die Ereignisse des 20. Jahrhunderts verlangen nach neuen Diskursformen: nach einer Geschichte von unten, einer Geschichte mit Leerstellen, einer Gegengeschichtsschreibung.9 Neue Typen von Zeugen, wie der moralische, sekundäre oder intellektuelle Zeuge, verweisen auf veränderte historische Entwicklungen im Umgang mit Zeugenschaft und Erinnerung.10 Beim moralischen Bezeugen rücken juristische Aspekte zugunsten von emotionalen und moralischen Dimensionen in den Hintergrund. Nicht mehr die Objektivität und Vollständigkeit der Aussage wird geprüft, sondern die Leerstellen und Lücken der Erinnerung werden zugelassen, als zentrale Punkte geraten nun insbesondere das Schweigen, das Nicht-sprechen-Können und die Einschreibung des Zeugnisses in den Körper in den Fokus.11 Die Annahme der Erinnerung durch Dritte – sekundäre Zeugen – stellt eine moralische Gesellschaft her, die auf Empathie und Solidarität mit dem Opfer beruht. Fehlen Zeugen ganz, braucht es solche sekundäre oder intellektuelle Zeugen, die die Erinnerung weitergeben und die sich, auch wenn sie die Verfolgung nicht selbst erlebt haben, der Shoah als ihrer eigenen Angelegenheit annehmen.

Film scheint für die Konservierung und Wiederholung solcher Zeugnisse prädestiniert und vermag diese neuen Aspekte eines moralischen Bezeugens – das Schweigen, die Gesten, die Körperlichkeit – detailliert aufzuzeichnen. Beinahe obsessiv, etwa in der Shoah Foundation, die über 50 000 Interviews von Zeitzeugen des Holocaust archiviert, werden in Anbetracht eines kompletten Verlusts der direkten Zeitzeugenschaft die Erfahrungen der letzten Zeugen in audiovisuelle Archive des Wissens übertragen.12 Wie Ruth Klüger in einem eindrücklichen Beispiel schildert, können jedoch auch solche formal reduzierten Aufzeichnungen gezielt zur Unterlegung vorgefasster Thesen eingesetzt werden, und man «wird nicht zum Zeugen, sondern zum Rohmaterial».13 Damit wird nochmals deutlich, wie ambivalent Konzepte der Zeugenschaft sind. Ihr Einsatz ist immer intendiert, und ihre Einschätzung als in einem negativen Sinne manipulativ oder positiv der Erinnerung und Wahrheitsfindung dienend, ist kontextabhängig. Das Zeugnis, so authentisch es auch inszeniert wird, ist eine Repräsentation.14 Ausgehend von der Frage nach der Darstellung und Aufarbeitung von traumatischen Erfahrungen blicken die diskutierten Filme aus unterschiedlichen Perspektiven auf Probleme der Zeugenschaft und deren mediale Bearbeitung.

Die Gegenwärtigkeit des Ereignisses ohne Zeugen

Totschweigen dokumentiert die Suche nach einem Massengrab aus dem Zweiten Weltkrieg an der österreichisch-ungarischen Grenze in Rechnitz und präsentiert dabei unterschiedliche Konzeptionen von Zeugenschaft, die sich historisch in dem oben aufgezeigten veränderten Verständnis des Bezeugens nach 1945 verorten lassen. Die Ermordung von ungefähr 180 jüdisch-ungarischen Zwangsarbeitern kurz vor Kriegsende steht paradigmatisch für ein Ereignis ohne Zeugen:15 Die mehrjährige Suche nach dem bis heute nicht gefundenen Massengrab scheitert aufgrund fehlender Zeugen und Beweise. Die jüdischen Verantwortlichen, welche die Grabungen leiten, und die Filmemacher stossen im Dorf – wie es ein Protagonist selbst ausdrückt – auf eine «Mauer des Schweigens». Von den beiden im Film genannten Überlebenden starb ein Zeuge nach dem Krieg unter ungeklärten Umständen auf dem Weg zur Zeugeneinvernahme. Der zweite Überlebende kehrt Jahrzehnte später für den Film nach Rechnitz zurück, kann jedoch keine konkreten Angaben zum Ort des Massengrabs machen. Juristische Prozesse zur Aufklärung des Verbrechens unmittelbar nach dem Krieg blieben grösstenteils wirkungslos, die Täter wurden rehabilitiert oder flohen und schweigen. Die Dorfbewohner, die im Film eine zentrale Stellung einnehmen, haben nichts gesehen und können nichts bezeugen. Eine faktenorientierte Aufklärung des Verbrechens muss folglich aufgrund verdrängter, verweigerter oder nicht bestehender Erinnerung scheitern.

Die Aussagen der Dorfbewohner bilden ein Geflecht von verschiedenen Stimmen. Sie werden zwar auch, wie die im Film inszenierten moralischen Zeugen, in ihrer vertrauten Umgebung gefilmt, Namen werden jedoch keine genannt, die Funktion während des Krieges oder die Stellung im Dorf werden nur bei den wichtigsten Personen erwähnt. Ihre Aussagen werden einander gegenübergestellt und sind meist in nur kurzen geschnittenen Sequenzen inszeniert. Damit wurde aus dem wohl viel umfangreicheren Material der Grundkonflikt der hier vorliegenden Zeugenschaft herausgearbeitet. Die Zeugen erinnern sich an die Kriegszeit, sie erinnern sich an die eigenen Entbehrungen und auch an die Nacht, in der der Mord geschah. Wenn es jedoch darum gehen soll, konkrete Aussagen zum Verbrechen zu machen – Angaben zum Ort des Grabs, zur Zeit, zu den Tätern, was man im Dorf gesehen oder gehört hat –, so brechen ihre Erinnerungen ab, die Aussagen bleiben unklar und vage, sie widersprechen sich. Die Bereitschaft, zu erzählen, endet dort, wo es darum gehen würde, konkreter zu sprechen oder das Ereignis als eine gemeinsame Verantwortung aufzunehmen. Die Filmemacher stossen nicht nur auf besagte Schweigemauer, sondern auch auf eine Verweigerung der Annahme einer gemeinsamen Geschichte – nur wenige Zeugen zeigen überhaupt Betroffenheit. Das Verbrechen an den Zwangsarbeitern wird von den Dorfbewohnern nicht als moralische Verantwortung angenommen. Obwohl sie als Zeugen sprechen, verdeutlichen ihre Aussagen letztlich etwas anderes: Sie stehen stellvertretend für die fehlende Annahme der Zeugenschaft und die Unmöglichkeit, das Ereignis aufzuarbeiten.

Ihnen stehen die Überlebenszeugen gegenüber, die die Legitimität der Erinnerungsverweigerung der Dorfbewohner infrage stellen und das Ereignis durch ihre Präsenz und Aussagen beglaubigen. Neben dem aus Israel angereisten Überlebenden treten ehemalige jüdische Gefangene auf, die jedoch nicht in Rechnitz inhaftiert waren. Ihre Geschichten sind personalisiert, teilweise mit Nennung des Namens und einer Verortung innerhalb ihrer individuellen Biografien. Diese Überlebenszeugen werden in das Voice-over eingebettet und erhalten so, ähnlich wie die dort wiedergegebenen historischen Angaben, eine Autorisierung als Zeugen, die für Wahrheit und Aufklärung sprechen und deren Beweiskraft nicht hinterfragt wird. Eingebunden in den faktenorientierten historisch-chronologischen Diskurs des Films tragen die Aussagen der Zeugen jedoch nicht konkret zur Aufklärung des Verbrechens bei. Vielmehr wird diesen Zeugen das Recht zugesprochen, «nicht zur Sache zu sprechen».16 Die Inszenierung der Überlebenszeugen erfolgt nicht mit dem Ziel der Wahrheitsfindung, sondern wegen des emotionalen Affekts auf den Zuschauer und der Wirkung einer moralischen Zeugenschaft. Auch diese Zeugen legen nicht einen im juristischen Sinne exakten Bericht ab, aber mit ihrer Präsenz verkörpern sie die traumatische Erfahrung und damit ein Mehr der Zeugenschaft, wenn diese nicht mehr in der Indizienlogik von Recht, Geschichte und politischem Diskurs aufgeht. Die Auswahl der Sequenzen und die Montage verleihen den Aussagen der verschiedenen Zeugen so Bedeutungen, die es für den Zuschauer möglich macht, sie in den genannten Konzepten zu verorten.

Der Herausforderung der vorhandenen Leerstellen und Lücken – denn wie einen Film drehen über ein nicht zu rekonstruierendes Ereignis und fehlendes Geschehen in der Gegenwart? – begegnen die Filmemacher mit der Annahme der Verantwortung. Trotz der Unmöglichkeit der Repräsentation stellt sich Totschweigen gegen die Verdrängung und setzt den historischen Leerstellen das Gedenken und Erinnern entgegen. Dabei gelingt es auf poetische Weise, die vorhandenen Lücken und den heutigen Umgang mit dem Ereignis in den Mittelpunkt zu rücken. Die Unmöglichkeit einer juristischen Aufklärung verschiebt den Raum des Bezeugens in eine moralische Gemeinschaft, wo sich eine dritte Konzeption der Zeugenschaft zeigt. In einem mäandrierenden und letztlich erfolglosen Versuch der Aufarbeitung eröffnen die Filmemacher diese moralische Gemeinschaft und werden zu intellektuellen Zeugen, die sich der traumatischen Erfahrung annehmen und sie tradieren.17 Das Dokumentarische, verstanden als kritischer Kommentar und als gesellschaftlich-politisches Eingreifen, wird nicht aufgegeben. Der Film wird selbst zum Zeugnis eines bestimmten, von Verdrängung und Schweigen geprägten historischen Zeitpunkts der österreichischen Vergangenheitspolitik. Auch wenn sich solche Zeugnisse immer mehr von einer direkten subjektiven Erfahrung lösen, so wird mit der Weitergabe doch das grundsätzliche Ziel einer zukunftsgerichteten Dimension des Bezeugens eingelöst. Zeugenschaft kann als eine (historische) das Zeugnis in vielfältiger Form tradierende Bewegung und als Modell der Überschreibungen gelesen werden, das zu einer Dezentrierung führt: «Zeugen ist und bleibt eine Handlung, die auf Vervielfältigung und Wiederholung angelegt ist.»19 Der Film hat zur Überlieferung eines Ereignisses, dessen Aufarbeitung, wie das kürzlich publizierte und inszenierte Theaterstück Rechnitz (der Würgeengel) von Elfriede Jelinek gezeigt hat, noch immer kontrovers diskutiert wird, sicher beigetragen.

Imaginäre Zeugen

Lisl Ponger bearbeitet in Passagen vorgefundene Bilder privater Herkunft. Die zu Fragmenten zerlegten touristischen Filme aus den Fünfzigerjahren, die assoziativ neu montiert wurden, zeigen vorwiegend Reisebilder: Ankünfte, Abfahrten, Fortbewegungsmittel, Städte, Menschen. Die nicht zusammengehörenden Bilder verschiedener Räume und Zeiten wurden motivisch neu verknüpft. Zeitgleich mit dem Erscheinen dieser stummen Super-8-Bilder setzen auf der Tonspur Reiseerzählungen verschiedener ortloser Stimmen ein, die ebenfalls nur fragmentarisch präsentiert werden. Die «Ruinen» der Reisefilme und die bruchstückhaften Berichte auf der Tonspur scheinen sich auf den ersten Blick zu ergänzen. Erst im Laufe des Films stellt sich heraus, dass die gesprochenen Erzählungen nicht von touristischen Reisen berichten, sondern von traumatischen Flucht- und Exilerfahrungen. Die Berichte erinnern an Auszüge aus Oral-History-Aufzeichnungen, sie sind jedoch viel zu fragmentarisch und rätselhaft, um als Zeugnisse angenommen zu werden. Sie werden nicht eingesetzt, um durch ein Einzelschicksal historische Zusammenhänge aufzuzeigen oder den Zuschauer emotional zu involvieren. Die Montage von gegensätzlichen Elementen evoziert einen neuen, imaginären Raum und generiert neue Bedeutungen. Die einzelnen Elemente werden elliptisch und zyklisch zu verschiedenen Motiven und Thematiken verknüpft. Sie bilden eine fragmentarische Geschichte des 20. Jahrhunderts, eine Geschichte von Flucht, Exil und Migration, Reise und Wohlstand. Dabei wird die Zusammenfügung der sprachlichen und bildlichen Ebene zu einer vollständigen und sinnstiftenden Erzählung unterlassen. Die konkrete Nennung der traumatischen Erlebnisse bleibt aus. Die Erinnerungsmomente deuten nur Erfahrungen an, die nicht erzählt werden können. In der spezifischen Erscheinung dieser Textfragmente manifestiert sich die Schwierigkeit des Erinnerns und Erzählens von traumatischen Erfahrungen. Wie in Totschweigen steht damit das Defizitäre und Prekäre der Zeugenschaft im Vordergrund. Diese existiert hier nur noch fragmentarisch und ohne Bezug auf ein konkretes Ereignis. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, wie sich Erinnerungen und Erfahrungen in vielfältiger Weise in Bilder einschreiben und ablagern.

Die Tradition des Dokumentarischen als Bezugnahme auf ein in der Wirklichkeit verankertes Ereignis wird hier experimentell gebrochen, um jede Form der Repräsentation grundlegend infrage zu stellen. Mit der Bearbeitung von vorgefundenem Material situiert sich Ponger in der Tradition des Found-Footage-Films und damit in einer filmischen Praxis, die sich Bilder auf radikale Art und Weise aneignet und diese umschreibt. Durch die Montage wird auf einer Metaebene ein neuer Sinn der Bilder entworfen, der einerseits im Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Intention steht und andererseits doch bereits in den Bildern angelegt zu sein scheint. Ideologiekritische Found-Footage-Filme stellen sich explizit gegen eine im herkömmlichen Sinn negativ konnotierte manipulative Verwendung von Bildern, bei der vielschichtige und oft widersprüchliche Bedeutungen zugunsten einer bestimmten Aussage verneint und Entstehungskontexte oder Implikationen der Bilder verschleiert werden. So beruhen etwa zu Propagandazwecken eingesetzte Kompilationsfilme auch auf der Aneignung von (Archiv-)Bildern, verwenden jedoch andere Bild/Ton- und Bildmontagen, um eine vorgefasste Argumentationslinie des Filmes zu beglaubigen. Ideologiekritische Found-Footage-Filme hingegen streben kein manipulatives Verbergen und Vertuschen an. Stattdessen werden die Bilder einer Gegenlektüre unterzogen und neue, oft unangenehme Zusammenhänge hergestellt. In Passagen sind es Implikationen des scheinbar neutralen, privaten Reisefilms, der durch die Gegenüberstellung mit den traumatischen Erzählungen zum Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses wird. Ideologische, politische oder gesellschaftliche Einschreibungen in nur scheinbar unschuldigen filmischen Überresten werden mit den Bildern selbst ausgestellt. Die privaten Bilder, deren unheimliche Konnotation von den Erzeugern nicht intendiert war, werden so als verstrickt in historische und gesellschaftliche Praktiken und Denkweisen gelesen. Die Problematik der Zeugenschaft wird mit der Frage, wie sich filmisches Wissen in die Bilder selbst einschreibt und diese so in einem übertragenen Sinn zu Zeugen werden, erweitert.

Vgl. Sylvie Lindeperg, Nacht und Nebel: Ein Film in der Geschichte, Berlin 2010. Zur Bedeutung von Film und Fotografie siehe auch Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, Frankfurt am Main 2007, oder Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.

Vgl. Hayden White, Die Bedeutung der Form: Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main, 1990.

Ruth Klüger, Gelesene Wirklichkeiten: Fakten und Fiktionen in der Literatur, Göttingen 2006, S. 63.

Vgl. Eva Hohenberger (Hg.), Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 2006.

Vgl. Sibylle Schmidt, «Wissensquelle oder ethisch-politische Figur? Zur Synthese zweier Forschungsdiskurse über Zeugenschaft», in: Sibylle Schmidt / Sybille Krämer / Ramon Voges (Hg.), Politik der Zeugenschaft: Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, S. 47. Zu aktuellen Forschungsfragen: Schmidt/Krämer/Voges (Hg.), Politik der Zeugenschaft: Zur Kritik einer Wissenspraxis. Zu historischen Typen von Zeugen: Aleida Assmann, «Vier Grundtypen von Zeugenschaft», in: Michael Elm / Gottfried Kössler im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hg.), Zeugenschaft des Holocaust: Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt am Main 2007, S. 33–51.

Assmann (wie Anm. 5), S. 4.

Vgl. Schmidt (wie Anm. 5), S. 64.

Vgl. Schmidt/Krämer/Voges (wie Anm. 5).

Vgl. Judith Keilbach, Geschichtsbilder und Zeitzeugen: Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bun­des­deutschen Fernsehen, Münster 2008, S. 156.

Vgl. Zum moralischen Zeugen: Assmann (wie Anm. 5), Keilbach (wie Anm. 9); zum sekundären Zeugen: Geoffrey Hartman, Der längste Schatten: Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999.

Der moralische Zeuge hat die Gewalt, von der er berichtet, am eigenen Körper erfahren, nicht die Exaktheit des Berichts, sondern die «Personalunion» von Opfer und Zeuge ist zentral. Dies wird besonders deutlich bei der Kontroverse um Binjamin Wilkomirskis Werk «Bruchstücke». Das zuerst als persönliches Zeugnis deklarierte Buch wurde, nachdem bekannt wurde, dass es sich bei dem Autor nicht um ein Shoah-Opfer handelt, als fiktionales Werk nun von der Kritik grundsätzlich anders beurteilt. Vgl. Assmann (wie Anm. 5), S. 41ff.

1994 von Steven Spielberg gegründet, zeichnet die Shoah Foundation Oral-History-Interviews mit Überlebenden auf, die Forschung und Unterricht zur Verfügung gestellt werden.

Klüger schildert die Vorführung eines Oral-History-Berichts vor Shoah-Überlebenden, dessen Interpretation durch den Vortragenden die Anwesenden befremdet. Unter diesen befindet sich auch ein Nachfahre der Zeugin, der das voyeuristische Betrachten von ihm bisher unbekannten Erfahrungen seiner Verwandten nicht erträgt und den Saal verlässt. Klüger (wie Anm. 3), S. 59ff.

Vgl. Schmidt (wie Anm. 5), S. 65.

Die Shoah wird nicht nur als Ereignis ohne Zeugen bezeichnet, da sie das bisherige Begriffs- und Deutungsvermögen übersteigt, sondern durch die Vernichtung aller Zeugen und Spuren durch die Nationalsozialisten war die fehlende Überlieferung bereits im Ereignis selbst angelegt. Vgl. Ulrich Baer (Hg.), «Niemand zeugt für den Zeugen»: Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000.

Vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2011.

Die Aufklärung des Massenmords wird zu einem persönlichen Anliegen der Filmemacher, die mit Archivrecherchen und politischen Interventionen die Arbeit der jüdischen Verantwort­lichen weiterführen. Vgl. dazu die Interviews und Texte in: Vrääth Öhner, Margareta Heinrich, Taschen­Kino Nr. 1, Wien 2011.

Assmann (wie Anm. 5), S. 49.

Elfriede Jelinek, «Rechnitz (der Würgeengel)», in: Elfriede Jelinek, Drei Theaterstücke, Reinbek 2009, S. 53–206.

Seraina Winzeler
*1980, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Neueren Geschichte an den Universitäten Zürich und Wien; Weiterbildung in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissen­schaft an den Universitäten Bern und Lausanne. Seit 2015 Leiterin der Dokumenta­tionsstelle Zürich der Cinémathèque suisse, vorher verantwortlich für die Videosammlung des Schweizer Tanzarchivs. Seit 2017 Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft Zürich mit einem Forschungsprojekt zur Geschichte der Filmarchivierung.
(Stand: 2019)
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