Wenn im Kontext der Frage nach dem Wesen von Filmwahrnehmung und filmischer Erfahrung der Begriff der Manipulation fällt, so verbindet sich damit schnell die Vorstellung eines Machtverhältnisses: Es ist der Regisseur, der sein Publikum manipuliert, der es in die Irre führt, es über die wahre Natur der Dinge im Unklaren lässt oder der, die emotionalen Reaktionen seiner Zuschauer vorausberechnend, jene gegen diese wendet. Der emotionale Aspekt scheint in der Tat den Kern der Sache zu treffen: Die ästhetischen Effekte kinematografischer Manipulation, um die es uns im Folgenden gehen wird, reichen von milder Irritation bis zu tief greifender Verstörung, von Belustigung bis Panik. Stets verweisen diese Effekte dabei auf eine Beziehung der Abhängigkeit, in welche sich der Zuschauer begibt, sobald er sich im Kinosessel niederlässt – eine Konstellation, die Alfred Hitchcock mit Bezug auf seinen Film Psycho (USA 1960) auf folgende Weise beschrieben hat: «In Psycho habe ich das Publikum geführt, als ob ich auf einer Orgel gespielt hätte.»1 Der Zuschauer als Instrument, als Klangkörper filmischer Operationen: Der Begriff der Manipulation ist hier auf seine sprachliche Wurzel zurückgeführt, wo er auf eine Beeinflussung des Körpers mittels der Hände verweist.
Dieser komplexe Gefühlszustand des Zuschauers und der von Hitchcock angedeutete ästhetische Modus haben in der Filmtheorie denselben Namen: Suspense. Wie Truffaut mit Blick auf Hitchcock schreibt, ist die Konzeption eines Films in diesem Modus «ein Spiel nicht mehr zu zweit (Regisseur + Film), sondern zu dritt (Regisseur + Film + Publikum)».2 Der Zuschauer wird in seiner gedanklichen, emotionalen und körperlichen Aktivität zu einem genuinen Teil des filmischen Ablaufs. Hitchcock denkt dieses Verhältnis sehr direkt als körperliche Einflussnahme: «Man dreht und wendet das Publikum und hält es möglichst weit von dem entfernt, was sich wirklich ereignen wird.»3 Suspense wäre damit auf der einen Seite zu verstehen als Einführung einer Spannung, einer «möglichst weiten» Diskrepanz, und auf der anderen Seite als das Nachvollziehen dieser Spannung im Erleben des Zuschauers, als eine Erfahrung des In-der-Schwebe-gehalten-Werdens.
Nun ist der Suspense ein gut erforschtes Phänomen; der Begriff wird jedoch meist als eine rein kognitive Zuschaueraktivität verstanden, die auf Informationserwerb, Hypothesenbildung und bewusste Antizipation ausgerichtet ist.4
Wir möchten im vorliegenden Aufsatz hingegen nach der emotionalen und verkörperten Erfahrungsdimension fragen: Inwiefern ist Suspense nicht allein ein abstraktes Rätsel, das man gedanklich erschliessen muss, sondern wie gestaltet er sich als konkretes Empfinden, das an sinnliche Wahrnehmungsformen gebunden ist? Dies möchten wir anhand des Vergleichs zweier Filme untersuchen, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten: Young and Innocent (Alfred Hitchcock, GB 1937) und Carrie (Brian De Palma, USA 1976). Während Hitchcocks Film den historischen Einsatzpunkt einer neuen Form von Aufmerksamkeitslenkung markiert, ist mit Carrie und dem Kino des New Hollywood jene Transformationsbewegung bezeichnet, welche die Weichen für das heutige Verständnis der Beziehung zwischen Film und Zuschauer stellt. Indem wir die beiden Filme aufeinander beziehen, lässt sich möglicherweise eine historische Verschiebung manipulativer Prinzipien skizzieren, welche nicht mehr generell eine Beeinflussung unterstellt, sondern diese ganz spezifisch auf der Ebene der ästhetischen Organisation von Wahrnehmung und von Empfindungskräften zu rekonstruieren sucht.5
Suspense und die Manipulation der Aufmerksamkeit
Was bedeutet es konkret, Wahrnehmung zu beeinflussen? Zunächst kann man eine von den Filmbildern geleitete Wahrnehmung für jeden Filmrezeptionsakt behaupten: Nach einem solchen Verständnis verhält sich der Zuschauer zu einem Film nicht wie zu jedem beliebigen Wahrnehmungsobjekt. Vielmehr lässt sich, an bildtheoretische und neophänomenologische Konzepte anschliessend, Filmerfahrung so auffassen, dass das filmische Bild (der «Bildkörper») und die Körperwahrnehmung des Zuschauers (das «Körperbild») aufs Engste aufeinander bezogen sind.6 Der Zuschauer sieht sich demnach nicht einem Objekt der Wahrnehmung gegenüber, sondern vielmehr einem Wahrnehmungsakt eigenen Rechts, wie Vivian Sobchack schreibt: «A film is an act of seeing that makes itself seen, an act of hearing that makes itself heard, an act of physical and reflective movement that makes itself reflexively felt and understood.»7 Nur auf dieser Grundlage einer verkörperten Filmerfahrung kann man überhaupt von der Modellierung der Zuschauerwahrnehmung sprechen.
Unsere Ausgangsthese ist nun, dass der Suspense über die beschriebene Verzahnung noch hinausgeht, indem er bildliche Formen des Anhaltens, Aufschiebens, der Lenkung und Bündelung performativ auf der Ebene eines affektiven Spannungserlebens realisiert. Gegenstand dieser manipulativen Inszenierungsstrategien ist der Bezug des Zuschauers zum filmischen Sehen und Hören: seine Aufmerksamkeit. In die Beziehung zwischen Film und Zuschauer schaltet sich eine dritte Instanz ein,8 die den Zuschauer zum filmischen Geschehen ins Verhältnis setzt und seinen Zugriff auf dieses Geschehen manipuliert, indem sie seine Aufmerksamkeit steuert. Besonders anschaulich wird dieser Akt der Aufmerksamkeitslenkung in der Bewegung der Kamera. Diese Bewegung setzt ein, indem sich die Kamera vom ursprünglichen Gegenstand ihres Interesses löst, ohne dass bereits ein neuer Gegenstand fixiert wäre. Dabei ist entscheidend, dass so viel Zeit verstreicht, dass diese Unsicherheit in der Ausrichtung der Kamera realisiert werden und sich in der sichtbaren Intentionalität9 für den Zuschauer als Empfindung entfalten kann, während sich aus der Mise en Scène derjenige Gegenstand herausschält, dem die Verlagerung des Interesses geschuldet ist.
Es gibt zwei Aspekte dieser Bewegung, die für das Erleben des Zuschauers relevant sind: Zum einen handelt es sich um eine seine Aufmerksamkeit lenkende Zeigegeste; zum anderen verweist diese Geste auf sich selbst im Sinne einer Adressierung des Zuschauers. Diese Adressierung ist nicht zu verstehen als illusionsbrechender Verfremdungseffekt, sondern als die Einführung eines bildräumlichen Spannungsgefälles, das sich im Erleben des Zuschauers als körperlich fühlbarer Widerstand, als Irritation manifestiert. Die zwei Aspekte der Bewegung sind insofern miteinander verbunden, als die Verlagerung der Aufmerksamkeit nicht einen beliebigen neuen Gegenstand des Interesses einführt, sondern sich vielmehr auf diesen Gegenstand als dasjenige bezieht, welches die ursprüngliche Ordnung infrage stellt – eine Anomalie:10 Eben das ist Hitchcocks viel zitierte Bombe unter dem Tisch, die kurz davorsteht, zu explodieren.
Im Zuge der Verlagerung der Aufmerksamkeit auf diese tickende Bombe stellt sich die Erfahrung des In-der-Schwebe-gehalten-Werdens als Gefühl einer Spannung zwischen zwei Ordnungen her, als Verlust eines festen Bodens unter den Füssen im Niemandsland zwischen der Ordnung des Gesprächs am Tisch und der Ordnung der Bombe unter dem Tisch. Dieses Gefühl entfaltet sich nicht linear als Sukzession von der einen Ordnung zur anderen, sondern in einer erlebten Dauer, konstituiert durch die beständige Verlagerung der Wahrscheinlichkeit des Übergangs.
Zwei Schwesterszenen: Young and Innocent und Carrie
Die abschliessende Ballsaal-Sequenz ist die Schlüsselszene von Young and Innocent, und sie nimmt auch im Gesamtwerk Hitchcocks eine prominente Rolle ein. Mit ihrem Erscheinen beschreibt die Szene den Auftakt zu einer völlig neuen Form der Aufmerksamkeitslenkung in der Filmgeschichte.11 Sie beschreibt innerhalb der Hitchcock’schen Poetik einen Wandel, der die Instanz der eigenständigen Kamera zu dem elementaren Inszenierungsprinzip Hitchcocks, zu seiner kinematografischen Handschrift werden lässt.
Wenn man nun in der Ballsaal-Szene das Mädchen und den Landstreicher das Grandhotel betreten sieht, ist die narrative Verortung schnell benannt: Die beiden sind auf der Suche nach dem Mörder, einem Mann mit Zwinkertick. Als die beiden Protagonisten in den Ballsaal hineingehen, schert die Kamerabewegung bereits zum ersten Mal aus der Zurückhaltung der klassischen Découpage aus. Sie weicht immer wieder in kleinen Mikrobewegungen von ihrem Fokus ab, was sich als Bewegungsqualität des Zögerlichen, Unentschlossenen realisiert. Was folgt, ist eine erneute Verzögerung: Der Landstreicher und das Mädchen setzen sich an den Tisch, bestellen beim Kellner Tee und sehen sich suchenden Blickes um. Schliesslich, endlich scheint die Kamera auf den Appell der Protagonistin («He must be here somewhere!») zu antworten, indem sie in einer Kranfahrt von ganz oben, fast unter der Decke sich befindend, als Suchbewegung zunächst gemächlich die Hotellobby aus einer Totalen seitlich abfährt, um dann langsam schweifend in den Ballsaal überzugehen, wo eine Kapelle zum Tanz aufspielt. In einer Drehung über die tanzenden Paare hinweg nimmt sie langsam die Bühne ins Zentrum des Blickens und fährt – mit kleinen ruckeligen Abweichungen dazwischen – auf sie zu. In der Zeit, in der sich die Kamera auf die Musiker ausrichtet, ändert sich ganz allmählich die Dynamik der Suchbewegung: Waren zunächst Ausdrucksqualitäten des Stockenden, dann wieder des Gleitend-Schweifenden am Werk, so wandelt sich nun das Bild, indem die Kamera sich stärker fokussiert. Die Zielgerichtetheit der Bewegung erzeugt eine Gewissheit, eine Anmutung des Unausweichlichen. Das Bild organisiert sich allmählich zum Gesichthaften, wird immer mehr zum Gefüge, in dem alle Elemente sich gegenseitig bedingen und aufeinander reagieren.12 Nun fährt die Kamera immer näher an den Schlagzeuger heran, fokussiert sein schwarz geschminktes Gesicht, bis nur noch seine Augen zu sehen sind; plötzliche Zuckungen, die glänzende Stirn, der leere Blick nehmen schliesslich das ganze Bild ein: der Zwinkertick! (Abb. 1–4)
Es sind die Bewegungsqualitäten und die Dauer der langen Fahrt, die einen unbeteiligten Suchblick der Totalen in die Verstörung eines Gesichts wandeln. Man kann dem Bild in seiner Verwandlung zusehen: Das Schweifende und Suchende, das zum Fokus, zum Zentrierten, einem Akt des Findens wird. Das Gemächliche und Langsame der Annäherung, welche das Bild durchspannt und einen Raum mit Menschen zu einem Gesicht werden lässt. Dieser Zusammenhang zwischen Raum und Gesicht ist keineswegs der einer linearen Sukzession, sondern im Gegenteil höchst reversibel, wie sich im Folgenden herausstellt (und eben deshalb begründet er für den Zuschauer das Erleben einer Dauer).
Nachdem der Schlagzeuger immer nervöser geworden ist und gegen sein Zittern Tabletten eingenommen hat, setzt die Band erneut zum Spielen an; doch der Schlagzeuger gerät nach und nach aus dem Rhythmus. Die Kamera beschreibt nun den Weg durch den Raum des Ballsaals, den sie zu Beginn durchmessen hat, rückwärts. Der Tick, das Zwinkern löst sich in dieser Rückfahrt vom Gesicht des Schlagzeugers ab und überträgt sich auf die gesamte audiovisuelle Komposition: Das Schlagzeug schleppt, der Dirigent dreht sich abrupt um, die Musiker geraten aus dem Takt, sodass schliesslich der ganze Ballsaal – die Tanzpaare und das Publikum – reagiert und sich um den zusammenbrechenden Schlagzeuger schart. Die einzelnen Bildbewegungen ziehen sich als aufgeregter Schwarm zusammen, geraten aus dem Lot, vergleichbar mit dem Entgleisen von Gesichtszügen: ein gleichmässiges Lächeln, das sich in eine verstörende Fratze verwandelt. Diese Performance des Ticks bewirkt eine letzte Umkehrung der Aufmerksamkeit, wenn sich nun alle Augen auf die Band, auf den Mann und zuletzt auf sein Blinzeln richten: das Hin und Her zwischen Raum und Gesicht als mise en abyme.
Brian De Palma ist oft vorgeworfen worden, ein blosser Epigone Hitchcocks zu sein, und Carrie bildet für diese Sichtweise keine Ausnahme.13 In der Tat scheint sich der Film aus Hitchcock-Bezügen zusammenzusetzen, nicht zuletzt mit Blick auf Young and Innocent, dessen Ballsaal-Sequenz die Matrix für den Höhepunkt von Carrie abgibt: Aus dem Augenzucken des Mörders wird das Schaukeln des Eimers, aus seiner Blackface-Bemalung wird das blutüberströmte Gesicht Carries, sein wahnsinniges Gelächter wandelt sich zum Spottgelächter des Publikums. Allerdings betreibt De Palma kein simples Spiel mit Zitaten; vielmehr folgen die Verschiebungen einer eigenen Logik. Eyal Peretz verteidigt denn auch De Palma gegen den Vorwurf des Plagiators und hebt stattdessen hervor, wie sich in der Art und Weise der Bezugnahme ein filmisches Denken manifestiert: «De Palma constantly isolates major scenes [von Hitchcock und anderen Regisseuren], developing something we might call a «logic of the image» that they seem to announce, and taking them much further.»14
Wie entwickelt nun Carrie die Logik der Sequenz aus Young and Innocent? Wir haben gesehen, wie sich aus dem Zusammenspiel von Blick und Anomalie in Hitchcocks Film das Prinzip des Aus-dem-Rhythmus-Geratens entfaltete. De Palma treibt diese Idee zum einen dadurch weiter, dass er den Verlust der Balance kausal mit dem Motiv des beschmierten Gesichts verbindet (der schaukelnde, dann fallende Eimer, aus dem sich das Blut über Carrie ergiesst), vor allem aber dadurch, dass er das Element der Anomalie konsequent mit der Figur der Protagonistin identifiziert. Ein erster Effekt dieser Operation besteht darin, dass der Gegensatz von Bühne und Zuschauerraum bei De Palma rigoroser dramatisiert wird. So verbindet sich die Bewegungsfigur des allmählichen Sich-Aufschaukelns (welche sich nicht auf den Eimer beschränkt, sondern sämtliche Parameter der filmischen Inszenierung erfasst) mit Carries Gang auf die Bühne, nachdem ihre Wahl zur Ballkönigin verkündet worden ist. Insbesondere wird beides, das Schaukeln und der Gang, über ein Montageprinzip realisiert, das sich von hier an durch die Sequenz hindurchzieht und die gesamte Suspense-Konstellation als ein Netz von Blicken und Blickanschlüssen entwickelt.
Dieses Netz der Blicke entfaltet seine affizierende Wirkung jedoch nur vor dem Hintergrund der alle Elemente verbindenden, zweiminütigen Kamerafahrt, mit welcher der zentrale Abschnitt der Sequenz eingesetzt hat. Noch bevor Carrie sich auf den Weg macht, und bevor der Eimer zu schaukeln begonnen hat, stellt die Kamera den Zusammenhang zwischen beiden (das heisst zwischen Blut und Gesicht) im Zeichen der Intrige her. Dieses Nachzeichnen der Intrige, einer manipulierten Wahl, realisiert sich als eine performative Manipulation des Zuschauers, die selbst schon das Problem der Balance als Bewegungsgestus einführt: in der wechselnden Distanz zwischen Kamera und Figuren, im Wechsel zwischen Voranschreiten und Verweilen, im Modulieren zwischen strenger Orientierung am Gegenstand und relativer Eigenständigkeit. Der Zuschauer wird hier nicht über die zu erwartende Katastrophe informiert (diese Information besitzt er bereits), sondern er wird Teil einer Bewegungsanordnung, die sich unvermeidlich als unkontrollierbar erweisen wird: dann, wenn der Eimer fällt. Wo in der Kamerafahrt das Bild zu einem Gesicht wird – in dem Sinne, dass alle Elemente der Mise en Scène aufeinander ausgerichtet werden –, da führt die folgende Montage das Entgleisen der Gesichtszüge vor, welches noch die in Grossaufnahmen isolierten Elemente des Gesichts – Auge, Mund, Zunge – zu Teilen einer Beschleunigungsdramaturgie umfunktioniert, die einen neuen Zusammenhang jenseits des Gesichts ankündigt (Abb. 5–6).
Aus eben dieser Tatsache begründet sich der schockierende Effekt des Blutschwalls: Der Fall des Eimers de-markiert Carrie als Anomalie oder, wie Peretz es formuliert,15 als Verkörperung des Exzesses der Bewegung, des Prinzips ihrer Unkontrollierbarkeit, welches nun urplötzlich objektiviert und fixiert ist. Im Moment des Sturzes wird der Zuschauer von einer Bewegung dissoziiert, deren Teil er eben noch war. Diese Dissoziierung manifestiert sich als Serie frontaler Schuss-Gegenschuss-Kopplungen, welche Carrie auf der Bühne den Blicken des Publikums aussetzen (Abb. 7–8). Dieser spannungsvolle Gegensatz von Schuss und Gegenschuss erweist sich als der eigentliche Ursprung der Suspense-Dramaturgie in dem Sinne, dass Carrie das der Einstellung inhärente Prinzip des Gegenschusses darstellt.16 Aus diesem Verhältnis rührt die besondere Bedeutung von Carries Blick und Gesicht. Und aus dieser Perspektive erklärt sich auch, wie Nicole Brenez bemerkt, die Funktion der Telekinese: Diese ist nichts anderes als ein Ausdruck der Kraft, welche das Prinzip des Gegenschusses auf die Einstellung ausübt. So ist es nur folgerichtig, wenn die Konfrontation von Schuss und Gegenschuss auf dem Höhepunkt der Sequenz nicht nur eine gewaltige Entladung destruktiver Energie provoziert, sondern wenn sich diese Entladung formal in der Spaltung des Bildes selbst niederschlägt: im Split-Screen, der dem Zuschauer jede Übersicht über das Geschehen verweigert und das Bild als Antithese des Gesichts konstituiert. Die mit dem alles verbindenden, allwissenden Gestus der kontinuierlichen Kamerafahrt assoziierte Manipulation des Zuschauers findet hier ihre Antithese in der Destruktion jedes vom Blick beherrschbaren Raumes. Diese Antithese bezeichnet allerdings nur das gegenüberliegende Extrem in einem kontinuierlichen Spektrum. Ein Ende, selbst ein Ende mit Schrecken, ist im Modus des Suspense kaum zu denken; das demonstriert gerade das Ende von Carrie unmissverständlich.
Und so wollen wir nicht so sehr zu einem alles beschliessenden Ende kommen, sondern vielmehr einige Perspektiven aufzeigen, die sich daraus ergeben, Suspense zum einen als eine manipulative Strategie des Bildes zu verstehen und zum anderen als die Gestaltung eines affektiven Spannungsempfindens.
Young and Innocent entfaltet, wie gesehen, das Prinzip einer Reversibilität zwischen Ballsaal und Gesicht als Verhältnis zwischen der zentrierenden Suchbewegung der Kamera auf ihrer Hinfahrt und der exzentrischen Ausdehnung des Ticks auf ihrer Rückfahrt. Für den Zuschauer realisiert sich dieses Inszenierungsprinzip als ein Gefühl widerstrebender Erwartung, als Schwebezustand zwischen Lust und Unlust an der Verstörung. Es ist ein emotionales Schwanken gemäss dem Wechselspiel zwischen der Intimität der kinematografischen Geste und ihrer gleichzeitigen Zielsicherheit.17
Carrie setzt nun bei dieser ambivalenten Bewegungsfigur des Schwankens an – auch hier ist die gedehnte Zeigegeste die Schnittstelle der audiovisuellen Komposition –, um sie dann jedoch ausser Kontrolle geraten und in eine extreme Polarität münden zu lassen. Schon im Gestus der Fahrt selbst geht De Palma über Hitchcocks Gestaltung einer Zuschauer-Kamera-Intimität hinaus. Dies äussert sich als eine betonte Taktilität, als ein Sich-Anschmiegen und Sich-wieder-Lösen von den Gegenständen der Mise en Scène. Dieser Gestus lässt sich mit Pascal Bonitzer als die erotische Dimension des Suspense beschreiben.18 Das Aufschaukeln des Eimers und sein unvermeidlicher Sturz sind unzweideutig inszeniert als orgiastische Klimax. Im sich anschliessenden Farbrausch und Lichtgewitter bringt sich das Bild selbst zum Explodieren. Der erotische Modus findet damit sein Pendant im Modus des Horrorfilms; sinnliche Intimität und infernalisches Chaos werden miteinander kurzgeschlossen.
Die vergleichende Perspektive auf die Filme lässt erkennen, wie sehr Suspense als Gefühl an eine tatsächliche, sichtbare, ganz eigentümliche Bewegung gebunden ist und wie sehr sich diese Bewegung als performative Manipulation, als streng kontrollierte Lenkung der Sinne ausprägt. Man kann damit im Rückgriff auf die Neophänomenologie die spezifisch manipulative von der generellen Wahrnehmungsgestaltung in der Filmerfahrung unterscheiden: Ist Sobchack zufolge Film das sinnliche Erfahren der Wahrnehmungstätigkeit eines Anderen, so realisiert sich die manipulative Dimension des Suspense als die Wahrnehmungstätigkeit eines Anderen, welche sich in eben dem Masse an den Zuschauer richtet, in dem durch Verengung und Verschiebung ein Bildfeld entsteht, in welchem alles, was erscheint, höchste Relevanz gewinnt. In dem Masse, in dem die nichtlinear voranschreitende Bewegung eine Dauer entfaltet, rückt sie als manipulative Kraft ins Bewusstsein. Diese manipulative Kraft strukturiert Sehen und Hören des Zuschauers, sie zeigt ihm das Geschehen wie durch eine Lupe: der intime Einblick in eine eigentümliche Welt. Mag dieses Miterleben nun in eine Ambivalenz gebannt sein wie bei Hitchcock oder sich als Polarität zwischen erotischen und destruktiven Kräften ausprägen wie bei De Palma; es ist jedenfalls nicht an eine abstrahierbare Information gebunden, sondern stellt sich als ein verkörpertes Verstehen und Wissen her, welches aus einem Wahrnehmen und Empfinden, aus einer konkreten Bewegung hervorgeht.
Manipulation, im Lichte des Suspense verstanden, wäre damit mehr als ein abstraktes Machtverhältnis; sie wäre ein Wort dafür, wie der Zuschauer im Kino ein Verhältnis zu seinem eigenen Fühlen und Denken entwickelt.