DORIS SENN

CARTE BLANCHE (HEIDI SPECOGNA)

SELECTION CINEMA

Der Titel wirkt unbelastet – der Einstieg ebenso: Ein afrikanischer Junge zupft auf seiner Saitentrommel im strömenden Regen eine eintönige Melodie. Doch hinter dem neusten Werk der Dokfilmerin Heidi Specogna – die 2006 für The Short Life of José Antonio Gutierrez mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde – verbirgt sich ein düsteres Kapitel Gegenwartsgeschichte: Im Fokus stehen die Verbrechen, die das Mouvement de Libération du Congo (MLC) in den Jahren 2002 und 2003 unter der Führung von Jean-Pierre Bemba in der Zentralafrikanischen Republik verübte.

Dazu nähert sich der Film den Leidtragenden jenes Kriegs an – vor allem Frauen –, lässt sie erzählen von den Plünderungen, Tötungen und Vergewaltigungen, die ihre Existenz zerstörten und auf immer prägen werden. Carte blanche evoziert aber auch in ruhigen Bildern das Leben heute in ebendiesem afrikanischen Land und stellt diesen Aufnahmen diejenigen vom Prozess der juristischen Aufarbeitung an die Seite – im Land selbst, aber auch im fernen Den Haag.

Von diesen Kontrasten lebt der Film – an diesen reibt er sich aber auch: Carte blanche behält zu fast allen Akteurinnen und Akteuren dieselbe Nähe, aber auch dieselbe Distanz – zu den meist namenlosen Opfern ebenso wie zur wohlhabenden Familie Bembes, welche die Regisseurin in ihrem Heim im Brüsseler Exil besucht. Darunter leidet letztlich die Emotionalität des Films. Zudem fehlt nicht nur – wie etwa in Marcel Schüpbachs La liste de Carla (CH 2006), der die Arbeit des Internationalen Strafgerichts und besonders von Carla del Ponte im Kontext des Jugoslawienkriegs dokumentierte – eine Identifikationsfigur, Carte blanche gibt auch die historischen Koordinaten der Vorkommnisse erst nach und nach bekannt und nimmt dazu eine gewisse Desorientierung der Zuschauer in Kauf, die sich erst im Lauf des Films lichtet.

Sind die Koordinaten dann aber gesetzt, folgen auf Betroffenheit Gefühle der Konsternation. Vor allem, als sich herauskristallisiert, dass die Geschehnisse nicht nur auf juristischer Ebene ungesühnt sind, sondern dass sie auch innerhalb der Gemeinschaft der Opfer unverarbeitet sind, ja dass diese jene ächtet (vergewaltigte Frauen werden nicht geheiratet!) oder dass die Verletzten noch Jahre später auf sich selbst gestellt sind. Etwa ein Mädchen, das noch immer an einer schmerzhaften (Schuss-)Wunde leidet, weil die Familie sich keine Behandlung leisten kann. So vermittelt der Film trotz seiner umsichtigen Annäherung an ein komplexes Thema vor allem Ohnmacht und Frustration – nicht zuletzt als klar wird, dass der mutmasslich Verantwortliche sich hinter Paragrafen verschanzt, die Verhandlung erneut aufgeschoben und wohl kaum je den Opfern auch nur annähernd Gerechtigkeit widerfahren wird.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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