DORIS SENN

LE TOMBEAU DES FILLES (CARMEN JAQUIER)

SELECTION CINEMA

So düster der Titel – so erfrischend unverblümt der Film: Noch selten hat jemand die ganze Widersprüchlichkeit des Erwachens jungmädchenhafter Sexualität so anschaulich im Film vermittelt wie Le tombeau des filles.

In dichten 17 Minuten erzählt der stimmige Kurzfilm eine Geschichte ohne Geschichte, ein Drama scheinbar ohne Dramaturgie. In dessen Zentrum stehen zwei Schwestern: die eine noch ein Kind – die andere an der Schwelle zum Erwachsensein. Sissi und Victoria heissen die beiden. Die Jüngere übt sich erst in den symbolschwangeren Gesten, welche die Grossen auszeichnen: Sie mimt das Rauchen, stopft sich Plüschtiere unters Hemd, um als vollbusige Diva zu posieren, während die Ältere, Victoria, sich bereits mit einigem Selbstbewusstsein den Lippenstift aufträgt, mit Jungs experimentiert oder unverfroren das sexuelle Begehren entweder selbst stillt oder forsch zu Markte trägt. All dies transponiert die 26-jährige Regisseurin, Carmen Jaquier, in atmosphärische, auch etwas mysteriöse Bilder und Episoden ohne viel Worte, in fragmentierte Körper und farbdurchflutete Aufnahmen – und kreiert so eine krude visuelle Poesie, in der Traum und Wirklichkeit, Sexualität und Gewalt, Erotik und Erniedrigung nah beieinander liegen, ja ineinander übergehen – mit dem Resultat, dass bis zum Schluss nicht wirklich klar wird, was ersonnen und was erlebt ist, was Wunsch und Realität ist.

Für dieses ausserordentlich stimmige Fragment, das so eindrücklich und verstörend zugleich die Gefühlswelten von Mädchen und jungen Frauen wiederzugeben vermag, erhielt die ECAL-Studentin, die mit Le tombeau des filles ihren dritten Kurzfilm zeichnete, den Pardino d’argento am Filmfestival Locarno 2011. In der Schweiz wurde der Kurzfilm zudem an den 15. Internationalen Kurzfilmtagen in Winterthur sowie am Cinéma Tous Ecrans – Festival international du cinéma et de télévision (Genf) im Wettbewerb gezeigt.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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