Der Ägypter Sayyed el-Dawwy ist 80 Jahre alt und hat eine ganz besondere Begabung. Er ist der letzte lebende Dichter des monumentalen arabischen Epos «Sira». Es heisst, er kenne alle fünf Millionen Verse der über Generationen ausschliesslich mündlich überlieferten Volksdichtung. Lange waren die «Sira»-Darbietungen, die den Exodus des «Volkes des Halbmonds» von der arabischen Halbinsel bis nach Spanien besingen, sehr populär in Ägypten. Doch heute haben Radio, Fernsehen und Internet der traditionellen Unterhaltungsform den Reiz genommen. Sayyed el-Dawwys Enkel, der 27-jährige Ramadan, hat vor einigen Jahren begonnen, die «Sira» zu lernen. Denn er soll in die Fusstapfen seines begabten Grossvaters treten. Davon ist der junge Mann aber noch weit entfernt – und die wohl kaum zu stemmende Bürde ist ihm deutlich anzumerken.
Sandra Gysi und ihr ägyptischer Lebenspartner Ahmed Abdel Mohsen haben für ihren ersten gemeinsamen Film ein Thema gewählt, das ihnen seit Jahren am Herzen liegt. Die beiden Filmemacher sind fasziniert vom eindringlichen Gesang und der Poesie, die auch jene ergreife, die die Worte nicht verstehen. Die Filmemacher begleiten Sayyed el-Dawwy und seinen Enkel in ihrem Alltagsleben sowie auf Konzerttournee. Dabei geben sie den Protagonisten viel Raum zu erzählen, was ihnen die «Sira» bedeutet. Hintergrundwissen liefert vor allem der Dichter Abdel Rahman el-Abnoudy, der seit vierzig Jahren über die «Sira» forscht. Getragen werden diese nur lose miteinander verbundenen Aussagen von mitreissenden Konzertausschnitten: Gysi und Mohsen schaffen es mit einfachen filmischen Mitteln, die Atmosphäre von «Sira»-Konzerten in den Kinosaal zu übertragen – die lebendigen Musikszenen packen mit ungekünstelter Raffinesse (neben Gysi und Mohsen war auch Peter Liechti für die Kamera zuständig). Weniger leicht macht es einem die sprunghafte Dramaturgie. Sie hinterlässt einen bisweilen etwas orientierungslos und fordert gerade von einem Publikum, das mit der «Sira» und Ägypten nicht vertraut ist, eine beträchtliche Eigenleistung.
Sira – Wenn der Halbmond spricht wurde am Festival Visions du Réel im April 2011 uraufgeführt. Die Filmaufnahmen fanden zwei Jahre vor dem Ausbruch der ägyptischen Revolution statt. Der 2011 fertiggestellte Film geht auf diese Umwälzungen nicht explizit ein. Allerdings hört man besonders aufmerksam hin, wenn im Film der Frage nachgegangen wird, wie heutige Helden in Ägypten aussehen könnten.