NATALIE BÖHLER

MANGROVE (FRÉDÉRIC CHOFFAT, JULIE GILBERT)

SELECTION CINEMA

Eine junge Europäerin kehrt mit ihrem kleinen Sohn an einen Badeort in Mexiko zurück. Dass über ihrer Vergangenheit an diesem Ort ein Unheil schwebt, erahnt man bald: Die Hitze flirrt und macht träge, die Nächte sind finster, der Mangrovensumpf wirkt abweisend. In fragmentarischen Rückblenden füllt der Film die Wissenslücken wie mit knappen Pinselstrichen. Ein früheres Leben an diesem einsamen Küstenstrich nimmt Form an, ein Geliebter taucht auf in den Erinnerungen, ein Messer: Ein Trauma aus der Vergangenheit soll bereinigt werden.

Mangrove von Frédéric Choffat und Julie Gilbert lief im internationalen Wettbewerb des Filmfestivals Locarno 2011. Die Spannung, die der Film am Anfang etabliert, läuft mit der Zeit ins Leere; zu sehr fransen die losen Enden der Geschichte aus. Das Motiv zum Mord am Geliebten, die Folgen der Tat, die Beziehungen der Betroffenen zueinander wirken zu unbegreiflich, als dass der Plot auf die Dauer fesseln und schliesslich überzeugen könnte. Umso auffälliger geraten dadurch Ungereimtheiten und Unglaubwürdiges in der Handlung. Warum bleibt der kleine Junge so ruhig beim Anblick eines Alligators? Woher stammt die Wut des Vaters? Welche Rolle spielt der junge Surfer? Und so weiter. Viele Themen, die Stoff bieten würden, bleiben unausgeschöpft, so etwa die Entwicklung des Tourismus an dieser wilden Pazifikküste, der Generationenwechsel bei den europäischen Einwanderern und ihr Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung. Auch das Leben der jungen Frau in Europa und ihr Umzug dorthin bleiben gänzlich ausgespart.

Eigentlich verfolgt Mangrove die interessante Absicht, eine Atmosphäre der Schwüle und der fiebrigen Rätselhaftigkeit zu schaffen. Dem liegt ein erkennbares visuelles Konzept zugrunde: Immer wieder entzieht sich das Bild durch Unschärfen unserer Klarsicht, die Kamera klebt in Nahaufnahme an den Gesichtern und Details, das Sichtfeld wirkt ständig behindert und eingegrenzt. Es entsteht ein Spiel mit Oberfläche und Tiefe, das vielleicht Nichtwissen, vernebelte Vergangenheit, emotionales Gefangensein formal aus­drücken möchte. Durch die mangelnde Kohärenz des Plots aber trägt dies nicht. Als ob zum Stil der Inhalt fehlte, wirkt er mit der Zeit manieriert, überdramatisiert, und gesucht atmosphärisch. Es bleibt eine Distanz zur Geschichte und zur Hauptfigur bestehen, beide bleiben so undurchdringlich wie das Mangrovendickicht.

Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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