Die Underground Explosion vom 18. April 1969 im Volkshaus Zürich war eine für die Schweiz einzigartige, Kunst, Performance, Theater, Film und Musik vereinende Show. Anlässlich des vierzigsten Jahrestages war 2009 in der Zürcher WochenZeitung (WoZ) zu lesen:
«Nun wurde das Publikum von einer Kanzel auf der Bühne herab, die von Stacheldrahtballen umgeben war, beschimpft – im Duktus von Goebbels und Hitler. Dann deutete Valie Export in der Interaktion mit Weibel eine Fellatio an, woraufhin Peter Weibel anfing, die Stacheldrahtballen ins Publikum zu schleudern, während Export mit einer Peitsche auf die Zuschauerinnen eindrosch [...]. Das war keine Simulation, sondern blutiger Ernst – fühlbarer Vietnamkriegsprotest. [...] Im Publikum brach Panik aus. Die Bühne wurde von wutentbrannten BesucherInnen gestürmt, die [Peter] Weibel mit einem selbstkonstruierten Wasserwerfer unter Beschuss nahm. Als das Ganze zur Saalschlacht zu eskalieren drohte, wollten Weibel und [Valie] Export Reissaus nehmen, allerdings waren die Bühnenausgänge bereits von Polizisten versperrt.‹Rechts und links Polizei, vor uns das Publikum – wir waren umzingelt›, erinnert sich Weibel. ‹Ich hab’ gedacht: Jetzt ist es vorbei!›»1
Die 1960er-Jahre neigten in vielem und gerade auch in ihrer Bilderflut zum Extremen: Die Werbewelt des in grossem Stil angekurbelten Konsums begann die Strassen und Medien zu beherrschen und kulminierte im Farbfernsehen, das am 1. Oktober 1968 in der Schweiz eingeführt wurde. Doch der Blick zurück auf diese legendäre Wiege der heutigen Kultur scheint dennoch Übertreibungen zu begünstigen, wie auch obiges Zitat vermuten lässt. Denn wie sich die Performance genau abgespielt hat, kann nicht eindeutig rekonstruiert werden. Sicher ist, dass die Underground Explosion in ihrer Zeit die hierzulande wichtigste Veranstaltung war, in welcher ein Crossover künstlerischer Ausdrucksformen gemeinsam und teilweise zeitgleich gezeigt wurde. Im Kontext der Filmforschung kann der Abend als Expanded Cinema bezeichnet werden und er ist gleichzeitig die grösste unter ähnlichen Veranstaltungen, die das Kulturleben Zürichs in den 1960er-Jahren mitgeprägt haben.
Expanded Cinema
In den späten 1950er- und den beginnenden 1960er-Jahren formierte sich in den USA eine eigenständige experimentelle Filmszene und machte sich daran, das kinematografische Dispositiv neu zu interpretieren. Dieses Dispositiv aus Kamera, Projektor, einem verdunkelten Raum und einer Leinwand war bis dahin – mit Ausnahmen2 – als quasi gegeben behandelt worden. Nun wurde es auf seine grundlegenden Aktionen reduziert und gleichzeitig expandiert. Die Bezeichnung Expanded Cinema3 setzte sich allmählich für Veranstaltungen durch, die kinoartige Präsentationsformen nutzten, Mehrfachprojektionen, installative Arbeiten – und schliesslich auch für Filme, deren Interesse nicht dem gegenständlichen Abbild galt, sondern die ein «inneres Auge» adressierten.4
Die ersten grossen Events des Expanded Cinema fanden zwischen 1957 und 1959 in San Francisco statt: Der Filmemacher Jordan Belson bespielte gemeinsam mit dem Musiker Henry Jacobs an 62 Abenden die Kuppel des San Francisco Planetarium mit Filmprojektionen und Konzerten. Diese Vortex-Concerts wurden 1958 auch an der Brüsseler Weltausstellung gezeigt, die gleichzeitig den Rahmen für die zweite Ausgabe des nachmalig berühmt gewordenen, zwischen 1949 und 1974 / 75 insgesamt nur fünfmal durchgeführten XPRMNTL-Festivals im Belgischen Knokke bildete. Die Erweiterung des kinematografischen Dispositivs expandierte mit atemberaubendem Tempo in unterschiedlichste Zusammenhänge: An der New Yorker Weltausstellung 1964 / 65 wurde beispielsweise im IBM-Pavilion Charles und Ray Eames’ Multimediaprojektion Think gezeigt, die «Experiments in Art and Technology» (EAT) von Billy Klüver veranstalteten 1966 die 9 Evenings, in Andy Warhols Factory fanden die Exploding Plastic Inevitable (EPI)-Shows statt, die Künstlergruppe USCO veranstaltete regelmässig multimediale Performances und der Filmemacher Stan VanDerBeek entwickelte unterschiedlichste Aktivitäten wie beispielsweise seine «Vorführ-Kuppel» in Stony Point nahe New York (Movie-Drome 1965) oder den Vorschlag für ein Culture Intercom (1966), das Film als universelles Informationsmedium der zukünftigen Gesellschaften propagierte.
Experimentierlust home-made
Die Geschichte des Expanded Cinema beginnt also in den USA und wurde vornehmlich auch dort theoretisiert. Doch kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Dispositiv des Kinos überall dort ähnlich experimentiert wurde, wo es eine lebendige und international vernetzte Filmszene gab. Für die Schweiz trifft dies auf Zürich zu, wo sich ab 1965 junge Filmemacher – und wenige Filmemacherinnen – zu formieren begannen, um sich vom Erbe des alten Schweizer Films loszusagen und ein eigenes, realitätsnäheres und künstlerisch geprägtes Kino zu entwickeln, das zwar nicht mehrheitsfähig und im grossen Stil auswertbar war, dafür aber eigenständig, «neu» und vor allem unabhängig. Die Szene formierte sich um Filmemacher wie Fredi Murer, HHK Schönherr, Georg Radanowicz, Alexander Seiler und vor allem den Gründer des «FilmForums» Hans-Jakob Siber. Mit dem Wanderprogramm des «Ciné Circus» dehnte sich die Bewegung ab 1967 auch nach Basel, Bern und Luzern aus und erfasste unter anderem Clemens Klopfenstein, Emil Steinberger, Peter von Gunten, Reto Savoldelli, Robert Schär und Werner von Mutzenbecher. Einige von ihnen gesellten sich in diesen für den «Neuen Schweizer Film» formativen Jahren den wichtigen Erneuern im Dokumentar- und Spielfilm zu, die neue Filmsprachen im Schweizer Kino etablierten. Andere verblieben im Underground und arbeiteten vornehmlich im experimentellen künstlerischen Bereich nichtnarrativer, poetischer, struktureller oder am Material interessierter Filme. Unter ihren Arbeiten finden sich auch solche, die dem Expanded Cinema zugerechnet werden können.
Am aktivsten war Hans-Jakob Siber, der heutige Direktor des Sauriermuseums Aathal. Bereits im Dezember 1966 lud er unter dem Titel Ktion zu einer Serie von Filmabenden in den ein Jahr zuvor von Edi Stöckli und Herbi Wertli gegründeten Künstlerclub «Platte 27» (Plattenstrasse 27) ein. Das Plakat der Veranstaltung (Abb. 1) verweist auf den Zeitraum des 1.–11. Dezember und stellt «Musik, Film, Rezititation, Action Painting und Projektion» in Aussicht. Das Filmmaterial von Ktion bestand aus «Experimente[n] & Studien für 2 & 3 Projektoren»5 und war in 8 mm gedreht, da Siber zu diesem Zeitpunkt noch keinen Zugang zu einer 16-mm-Kamera hatte. Präzise Beschreibungen der Abende existieren nicht, die Erinnerungen der Beteiligten sind bruchstückhaft und das noch vorhandene Wissen um diese Aufführungen nährt sich aus spärlichem Material wie Plakaten und Flyern, die beispielsweise auf die Verwendung einer Spiegelkugel hinweisen.6 Wie andere Arbeiten Sibers, die sich ausschliesslich in Kurzbiografien finden – «Lichtspiele 68 (für drei Projektoren)» und «In Vorbereitung: Hans Dampf (Porträts in Simultanprojektion)»7 –, sind diese Filme nicht erhalten geblieben. Aus späteren Arbeiten von Siber kann man jedoch auf die Bildspur schliessen: mit unterschiedlichen Mitteln direkt auf das Filmmaterial aufgebrachte, abstrakte Farbschichten oder in die Emulsion gekratzte Sequenzen, die mit Live-Vertonung – teilweise von Musikern, aber auch mit Schallplatten aus der umfangreichen Sammlung Sibers – gezeigt wurden.
Die Abende in der «Platte 27» waren in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre und am späteren Standort an der Laternengasse bis Mitte der 1970er-Jahre legendär: Nicht nur, weil es der einzige Ort war, wo sich Jugendliche nach der mitternächtlichen Schliessung der wenigen frequentierten Restaurants (darunter vor allem das Odeon) noch aufhalten konnten, sondern auch, weil hier ein Mix von experimentellen Kunstformen gepflegt wurde. Dieser machte die experimentelle Szene Zürichs vor allem in der Musik überregional bedeutend und wurde zum Inkubator für viele neue Projekte. Verbindungen zwischen unterschiedlichen experimentellen Ausdrucksformen lassen sich in Gesprächen nur noch bruchstückhaft rekonstruieren, jedoch wird stets die Bedeutung von informellen Treffpunkten für die Entstehung von gemeinsamen Projekten hervorgehoben. Der Schlagzeuger Mani Neumeier beispielsweise spielte Mitte der 1960er-Jahre im Irène Schweizer Quartett und gründete später die noch heute bestehende Guru Guru Groove. Er findet sich nicht nur als Schauspieler in Georg Radanowicz’ Film Glump (CH 1968), sondern auch als Verantwortlicher für die Musik in Sibers Film Jalousie (CH 1967), als Teil des Irène Schweizer Quartetts auf dem Soundtrack zu Sibers und Paul Weillers Erstling Liebe 1 (CH 1967) und auf der Affiche eines «film + actionsound»-Programms am Luzerner Filmfestival «Film-In» vom 6. Juni 1969, wo HKK Schönherrs Autoporträt (undatiert) von Guru Guru Groove begleitet wurde (Abb. 2).
Am gleichen Abend wurde auch Dieter Meiers nicht mehr bekannte Unterbrochene Flugverbindungen mit «actionsound» des Künstlers selber aufgeführt. Die Ankündigung dieses Programmes fordert selbstironisch:
«Wer die Filme von Schönherr und Meier nicht mag, soll trotzdem kommen und sich der Musik von Guru Guru Groove hingeben. Wer die Musik von Guru Guru Groove nicht mag, soll trotzdem kommen und sich den Filmen Schönherrs und Meiers hingeben. Wer sich weder dem einen oder dem anderen hingeben kann oder will, soll trotzdem kommen und coca-, vivi-, pepsi- etc. -cola konsumieren.»8
Kennengelernt hatten sich der Musiker Neumeier und der Experimentalfilmer Siber in der «Platte 27», wie Hans-Jakob Siber im Interview vom 10. Mai 2011 erzählte. Die musikalischen Beteiligungen an experimentellen Filmprojekten waren weitgehend improvisiert, erinnerte sich Neumeier (Telefoninterview vom 15.8.2011): «Der Film lief und wir haben spontan dazu gespielt». Im Falle von Jalousie hatte er den Film vorab mehrfach visioniert und bereits auch bei verschiedenen Aufführungen live vertont. Daraufhin spielte er die Tonspur des Films in wohl nur zwei «Sessions» zum laufenden Film ein. Die Zusammenarbeit zwischen Filmemachern und Musikern verlief meist in kurzlebigen Allianzen. So auch am Abend des 19. Februars 1969 in Basel, wo Siber gemeinsam mit Heinz Schenker (Schlagzeug) und Max E. Keller (Klavier und Tenorsaxophon) im Musikwissenschaftlichen Institut am Petersgraben unter dem Titel Die akustische Brille gemeinsam auftraten.9 Nachdem zunächst Filmmaterial und Musik getrennt aufgeführt worden waren, zeigte Siber zum Free Jazz der beiden Musiker Filme und Dias. Dieses Material entstand grösstenteils nicht in einer Kamera, sondern wurde von Siber direkt auf die Emulsion des jeweiligen Trägers gemalt oder gekratzt, wie er das bereits in seinen Mönch-Filmen und dem bekannteren Film Jalousie getan hatte.
Interessant ist die Entstehungsgeschichte jener Performance: Die Musiker, so Siber, habe er im Zusammenhang mit einer Ballettproduktion des Schweizer Kammerballetts kennen gelernt. Am 20. Juli 1968 wurde im Parktheater Meilen unter anderem die Produktion Fahrt durch die Nacht des Komponisten Leo Nadelmann und des Choreografen Jean Deroc als Premiere aufgeführt. Davor gab es ein «Lichtspiel» von Hans-Jakob Siber, musikalisch begleitet von Max E. Keller.10 Siber war von Deroc angefragt worden, das Bühnenbild zu Fahrt durch die Nacht mit einer Liveprojektion zu gestalten. Aus Realbildern eines abfahrenden Zuges und aus Kaleidoskopaufnahmen, die er mit selbstgebauten prismatischen Objektivvorsätzen drehte, zeigte Siber drei Projektionen: eine zentrale Filmprojektion sowie zwei seitlich zum Breitwandbild anschliessende Diaprojektionen. Die Arbeit firmiert in Sibers Filmografie unter dem Titel Fahrt durch die Nacht und ist als stark zerkratzte Umkehrkopie erhalten geblieben, während die Diaserien bisher nicht identifiziert werden konnten. Nach mehreren Vorstellungen in der Schweiz wurde die Produktion zu einer Tournee nach Japan eingeladen, wo das Stück im Schweizer Pavillon der Weltausstellung in Osaka 1970 und in mehreren anderen Städten gezeigt wurde (Abb. 3).
Die Beteiligung eines Experimentalfilmers an einer Aufführung im Schweizer Pavillon an einer Weltausstellung erstaunt und offenbart einen interessanten Aspekt des kulturellen Zeitgeists Ende der 1960er-Jahre: Obwohl die Experimente der vielfach jungen Künstler als unverständlich galten, so wirkten sie doch zukunftsweisend und progressiv, was sie zur nationalen Repräsentation an den entsprechenden Leistungsschauen prädestinierte. Ein weiterer Grund mag gewesen sein, dass der stark materiell und apparativ geprägte Experimentalfilm der damaligen, technikaffinen Gesellschaft auch als Träger «sekundärer» Bedeutungsebenen zur Selbstdarstellung von technischer Fortschrittlichkeit willkommen war: Schon an der Landesausstellung 1964 in Lausanne war im Sektor «Weg der Schweiz» das XPRMNTL-geadelte Künstler- und Experimentalfilmerpaar Guido und Eva Haas mit einer monumentalen, 14,08 m × 2,4 m messenden Wandmalerei vertreten. Entstanden waren die nicht gegenständlichen, grafisch expressiven Bilder für den Materialfilm Inclinations (CH 1962–66) durch die Bearbeitung von äusserst kontrastreichem Schwarzfilm mit einem Hammer.
Nicht nur der Experimentalfilmer Hans-Jakob Siber interessierte sich für die Erweiterung des filmischen Repertoirs. Fredi Murers früher Film Chicorée (CH 1966) hatte am 7. Mai 1966 in St. Gallen als Teil eines performativen, literarischen und musikalischen Gesamtzusammenhangs von Urban Gwerders Performance Poëtenz Premiere. Die Endfassung des Films sei noch am Abend der Uraufführung neu montiert worden, weil Murer mit der bisherigen Fassung unzufrieden war.11 Daraufhin wurde der Film an verschiedene international renommierte Festivals eingeladen, darunter an die Kurzfilmtage Oberhausen, wo er 1967 einen Preis der internationalen Jury erhielt.
Am 23. Juni 1972 veranstaltete der Architekt und Filmemacher Sebastian C. Schroeder auf dem Lindenhof in Zürich ein «Happening für Amateur-Filmer»: In einer Art räumlich ausgreifender Kino-Installation wurden acht Leinwände gleichzeitig mit Super8-Filmen bespielt. Die Filme waren Familienaufnahmen aus dem Zeitraum von etwa zehn Jahren eines zeitweise in Deutschland stationierten Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte. Schroeder hatte sie 1970 in einem Brockenhaus in Albuquerque gefunden und führte sie nun, chronologisch geordnet, aber ansonsten unmanipuliert unter eigenem Namen als Found-Footage-Film Albuquerque vor. Zu sehen war «das Leben einer amerikanischen Mittelstandsfamilie»: «die erste Ballettstunde der Tochter war festgehalten, der weihnächtliche Truthahnbraten, Familienferien im Disneyland, fröhliche Geburtstagsparties, die Einweihung eines Zweitwagens», wie im Züri-Leu vom 15. Juni 1972 zu lesen ist.
Die aufwendige Installation dieser grossen Zahl von Leinwänden diente Schroeder jedoch nicht allein der Aufführung des «eigenen» Werks, sondern war so konzipiert, dass – wie viele Initiativen der damaligen Zeit – die sich auf allen Ebenen formierenden Kunst- und Filmschaffenden eingeladen wurden, aktiv teilzunehmen. Schroeder rief die Amateurfilmszene Zürichs auf, ihre eigenen Produktionen ebenfalls auf den Lindenhof mitzubringen und ohne weitere Vorankündigung vorführen zu lassen. Der Abend ist damit gleich in mehrerer Hinsicht interessant, da er nicht nur eine frühe «Offene Leinwand» darstellt, sondern diese gleich auch noch als Expanded-Cinema-Veranstaltung inszeniert. Ausserdem erinnert seine Aneignung von fremdem Filmmaterial und dessen unveränderte Vorführung unter eigenem Namen an die heute mehr denn je aktuelle Diskussion über den Status von dokumentarischen Bildern und die Rolle von Filmemachern, die diese zugänglich machen. Ausgelöst wurde die Diskussion allerdings später durch Ken Jacobs Found-Footage-Klassiker Perfect Film (USA 1986).
Underground Explosion
Die eingangs erwähnte Underground Explosion in Zürich war sicher die grösste Veranstaltung ihrer Art in der Schweiz. Angekündigt war sie als «grosses living, das im zusammentreffen verschiedener Medien [...] neue Ausdrucksmöglichkeiten aufzeigen wird».12 Sie vereinte Musik, Film, Theater und künstlerisch-theatralische Performances in einem Gesamtaufmarsch des progressiven Underground. Die Darbietungen wechselten sich ab oder wurden gleichzeitig gezeigt. Und obwohl der Film an diesem Abend nur eine künstlerisch-provokative Form unter anderen war, so ist doch bemerkenswert, wer für den Abend verantwortlich war. Der nachmalige Filmproduzent Edi Stöckli sowie Herbie Wertli übernahmen die Organisation und zogen für den Grossanlass von der «Platte 27» ins Volkshaus um. Die künstlerische Leitung des Abends oblag dem Münchner Karl-Heinz Hein mit seiner Progressive Art Production (P.A.P.) und Dieter Meier, der zeitweise an der P.A.P. beteiligt war, hier aber mit einer eigenen Produktionsfirma namens «Meier Zürich Filmcenter» firmierte. Am Mega-Event, der vor seiner Station in Zürich am 15. April schon in München und danach noch in Köln, Essen und Stuttgart gastierte, waren auch Zürcher beteiligt: Mani Neumeiers Guru Guru Groove waren neben den Bayern Amon Düül und Limpe und Paul Fuchs die musikalischen Acts und das Wath-Tholl-Theater des Zürchers Pjotr Kraska präsentierte sein eher handlungsarmes, dafür auf viel Körperkontakt aufbauendes Programm.
Am Montag nach der Veranstaltung berichtete der Tages-Anzeiger auf einer Drittelspalte über eine Show, «wie sie Zürich noch nie sah: [...] Monströs verzerrte, gewaltig lärmende Beatrhythmen der Guru Guru Groove, die ans Living Theatre anlehnenden Experimente der Theatergruppe Wath Tholl, filmische «Materialaktionen» und ständig wechselnde Lichtstrahlen aus allerhand Projektoren betäubten die Sinne. [...] Die Show ist jenseits des «guten Geschmacks», jenseits der etablierten Kultur, jenseits des den Ohren noch zumutbaren angesiedelt; sie verkündet die Anarchie in der Kunst».13 Zwei Tage darauf widmete der Tages-Anzeiger dem Event in seiner wöchentlichen Rubrik Extrablatt der Jungen eine mit vier Bildern illustrierte Doppelseite. Die Geheimagenten der Sittenpolizei seien zahlreich und in betont unauffälligen Regenmänteln eingetroffen, jedoch auch nicht eingeschritten, als eine Frau [Export] an einem nackten Mann [Weibel] «herumfummelte». Der (oder die) nicht genannte Schreibende schliesst aus der Diskrepanz zwischen Publikumsbeschimpfung und Publikumserregung am Ende: «Underground ist Konsumgut, für das etwa 500 Leute zwischen 5.50 und 22 Franken bezahlt haben; Subversion ist, scheint es, nur eine Attitüde unter anderen [...].» Doch neu scheint das Dargebotene für die damaligen Verhältnisse dennoch gewesen zu sein: «Man kann nicht ständig in Ekstase leben, nicht einmal drei Stunden lang. Die neuen Wege im Film, im Theater aber, sie kristallisieren sich nicht im Schauspielhaus und nicht in der Cinecittà, sondern in den oft obszönen, oft dummen, aber immer neuen Provokationen des Untergrunds.»14 Über den genauen Ablauf des Abends ist nichts Genaues bekannt. Immerhin gibt Kurt Krens Film 23 / 69 Underground Explosion (AT 1969) einen atmosphärischen und fragmentarischen Einblick in das Geschehen: Was den Einbezug von Filmen betrifft, ist zu vermelden, dass auf einer über der Bühne hängenden Leinwand Filme gezeigt oder improvisiert wurden. Im Extrablatt der Jungen wird weiter berichtet:
«Aus dunkler Bühne, gebrochen in einem Urwald elektronischer Gadgets, plärrt das Sphärengeklirr von Mani Neumeiers neuer Guru Guru Groove, verzerrt indische Melodienfetzen, bricht ein in stampfenden Liverpool-Rhythmus, bläht sich auf, schlafft ab zu Gesumm, motzt sich hoch zum trampelnden Schrei. Darüber flammen Filme, Mühls Materialaktionen, Frauenleiber mit Ketchup drauf, Masturbationen, Farbgeklecks von Krens Wiener Horror, daneben ein körperloser Film, nur noch Lichtreflexe, die Frauenlippen sein können oder ein toter Soldat oder ein Bernhardinerhund; unten schmeisst ein Drehspiegel giftgrünes Licht über die Wände. Farbblasen aus Diaprojektoren wimmeln durch Felder anderer Farbe, blubbern auf und ab mit dem Getös. Reglos in diesem Mordskrach meditieren bereits die Akteure des Wath-Tholl-Theaters.»
An zwei Abenden, dem 18. und dem 25. April, hätte die Underground Explosion stattfinden sollen. Noch am Vortag des zweiten Abends erschien im Volksrecht ein Artikel, der auf den kommenden zweiten Abend des «total-art-in» hinwies.15 Verschiedene Zeitzeugen äussern heute jedoch Zweifel daran, dass die zweite Veranstaltung tatsächlich stattgefunden hat. Die Bilder des Fotografen Niklaus Stauss betreffen nur den ersten Abend (und er mutmasst im Interview vom 15.8.2011, dass er normalerweise auch am zweiten Abend anwesend gewesen wäre, so er denn stattgefunden hätte). In der an Jugendkultur gemeinhin desinteressierten Presse Zürichs ist von einem Verbot der Veranstaltung aber genauso wenig zu lesen wie von der Durchführung eines zweiten Abends der Underground Explosion. Nur im Züri-Leu stand zwischen den beiden Veranstaltungen: «Herbie Wertli, einer der Mitveranstalter, ist skeptisch: ‹Ich glaube nicht, dass die Polizei die Veranstaltung nochmals erlauben wird.›»16
Ernüchternd auch die Recherche-Ergebnisse zu den in der WoZ beschriebenen, für heute so exotisch anmutenden Ereignisse: In den Tageszeitungen und in Gesprächen mit den «Jungen» von damals findet sich wenig von den beschriebenen tumultartigen Zuständen an der Veranstaltung in Zürich. Selbst Peter Weibel, der nackt auf der Bühne erschienen war, scheint vom Zürcher Publikum enttäuscht gewesen. Der Züri-Leu zitiert ihn mit folgenden Worten:
«In Deutschland haben die Leute viel besser mitgemacht. [...] Ich glaube, man hat hier nicht richtig verstanden, was ich eigentlich will.»
Zwar gab es im Vorfeld heftigste Diskussionen darüber, ob eine Veranstaltung, die auf einem Plakat mit einer stilisierten, schwarzen weiblichen Silhouette (mit deutlich erkennbarem Geschlecht, Abb. 4) warb, überhaupt stattfinden darf. Der Blick titelte einen Bericht mit «Sex-Schock-Show: Protest gegen die Verblödung!»17 und garnierte den Artikel mit dem Pressebild der nackten, schwarz angemalten Schlagzeugerin Limpe Fuchs beim Trommeln. Das Plakatieren wurde jedenfalls von den dafür angefragten Firmen verweigert und der Stadtrat erwog noch zwei Tage vor der Veranstaltung deren Verbot – aufgeschreckt durch die Kunde aus München, wo die «Explosion» schon einige Tage vorher im Zelt des Zirkus Krone «vor 2000 begeisterten Zuschauern» gastiert hatte.18 Der Event wurde dann doch noch bewilligt, allerdings mit der Altersbeschränkung 18 Jahre. Der geplante Liebesakt zwischen Valie Export und Peter Weibel, der in völliger Dunkelheit vollzogen mit einer Infrarotkamera aufgezeichnet und auf eine Leinwand projiziert werden sollte, wurde aus «technischen Gründen»19 abgesagt und Limpe Fuchs betrat die Bühne zwar nur mit schwarzer Farbe bekleidet – «bevor sie sich hinters Schlagzeug setzte, stülpte sie sich jedoch einen Jupe über».20 Immerhin: Valie Exports epochales Tapp- und Tastkino wurde in Zürich nicht verboten. Auch das Zürcher Publikum durfte in einen kleinen Kasten greifen, den sich die Künstlerin vor die nackte Brust gehängt hatte. Den in der zeitgenössischen Berichterstattung stets nur angedeuteten Schlusspunkt bildete ein selbstgebastelter Wasserwerfer, mit welchem das Publikum ins Visier genommen wurde. Von einem Bewurf des Publikums mit Stacheldrahtballen von der Bühne herab und dem massiven Polizeieinsatz zur Eindämmung einer ausbrechenden Panik ist weder in Zeitungsartikeln noch in den Erinnerungen der Zuschauer die Rede. Dagegen spricht auch, dass Peter Weibel und Valie Export, anders als in der WoZ berichtet, offenbar doch nicht überstürzt mit dem Auto aus Zürich fliehen mussten, sondern dem Berichterstatter des Züri-Leu nach der Veranstaltung für zitierfähiges Interviewmaterial zur Verfügung standen (Abb. 5).
Aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar, lassen die wenigen und verstreuten Aufzeichnungen zu den Aufführungsorten und -praktiken in der Filmszene Zürichs – von denen hier nur wenige angeführt werden können – erahnen, dass die Limmatstadt Ende der 1960er-Jahre für kurze Zeit ein Knotenpunkt im Netzwerk der experimentellen Kulturszene war und dass experimentelle Formen in unterschiedlichen Kunstpraktiken kurzzeitig gesellschaftlich stärker als je verankert waren. Sie zeigen auch, dass die Umwälzungen im Schweizer Film der 1960er-Jahre, die als «Neuer Schweizer Film» international bekannt geworden sind, sich nicht nur in der Erneuerung fiktionaler und dokumentarischer Formerschöpften, wie die vollständige Auslassung dieser Hintergründe in den offiziellen Filmgeschichten suggeriert, sondern von einer weiter ausgreifenden Experimentierlust ausgelöst und begleitet waren, die die ganze (junge) Gesellschaft ergriffen hatte. Ein beachtlicher Teil der Schweizer Jugend war weltoffen, gut vernetzt und benutzte wie ihre Altersgenossen in anderen europäischen Ländern die Kultur als Kondensator für die geforderten Veränderungen. Selbstverständlich richteten sie diese mehrheitlich nach Aussen – aber wie die Expanded-Cinema-Events jener Jahre zeigen, auch nach Innen.