Ist der Film Noir ein internationales, grenzübergreifendes, ein nicht ausschliesslich US-amerikanisches Phänomen? Diese Frage soll im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen und lässt sich ohne vertieftes Nachdenken mit einem Ja und einem Nein beantworten. Ja – wenn der Neo-Noir gemeint ist, also jene Wiederaufnahme des Film Noir als modernistische Phase in den 1960er- und 1970er-Jahren und als postmoderne Variante seit den Achtzigerjahren. Selbstverständlich lassen sich für den Neo-Noir eine Vielzahl von europäischen, asiatischen und südamerikanischen Beispielen ausmachen. Wie aber steht es mit dem Film Noir in den Vierziger- und Fünzigerjahren? Ist er wirklich ein uramerikanisches Phänomen, wie dies bisher die meisten Autoren annahmen? Oder lassen sich auch hier Grenzüberschreitungen oder gar eigenständige Entwicklungen ausmachen, die auf eine Internationalität hinweisen? Die nachfolgenden Betrachtungen sollen Beispiele für eine solche Internationalisierung liefern, aber auch zu erklären versuchen, welche Formen der Film Noir in anderen kulturellen Kontexten und unter anderen Voraussetzungen entwickeln konnte.
Grundmerkmale des klassischen Film Noir
Der klassische Film Noir bezeichnet eine Strömung innerhalb der Filmgeschichte in den frühen 1940er- und späten 1950er-Jahren. Nebst einer Krimihandlung zeichnet er sich insbesondere durch eine eigenwillige und stilbildende formale (schwarze resp. düstere) Gestaltung mit ausgeprägtem Licht- und Schattenspiel, Subjektivierung-, sowie ungewohnten Kamerablickwinkeln und -bewegungen aus. Weitere Charakteristika sind die im Vergleich zum klassischen Hollywood abweichende Plotgestaltung, die Tendenz zu fehlenden oder offenen Enden und zu Figuren als Antihelden sowie zu einer existenzialistischen Grundhaltung, die der Zufälligkeit und Absurdität einen grossen Stellenwert einräumt. So erscheinen die Film-Noir-Filme dieser Periode zugleich als Produkt der amerikanischen Filmindustrie und als mögliche Alternative zum klassischen Hollywood. Ausserdem können sie als kritischen Reflex der Kriegs- und Nachkriegszeit auf die veränderten Geschlechterverhältnisse (verletzliche Männer und starke Femme fatales), die traumatisierten und orientierungslosen Kriegsheimkehrer und die Paranoia des Kalten Krieges gelesen werden.
Wer sich mit dem klassischen Film Noir beschäftigt, bemerkt bald, dass es sich hier um ein äusserst vielschichtiges und komplexes Phänomen handelt, das sich gerne eindeutigen Fixierungen entzieht. Thomas Elsaesser spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem «konzeptionellen schwarzen Loch».1 Es handelt sich dabei nicht um ein Genre, weil die Filme wahrscheinlich nicht so intendiert waren, wie sie gelesen wurden und – wie Steve Neale2 treffend festhält – der Bezug als Produktionskategorie fehlt. Die Charakterisierung Film Noir entstand auch nicht durch ein Manifest der Regisseure oder Kameraleute, sondern ist eine «Erfindung» der Filmpublizistik in Frankreich, welche sich nach der Befreiung und nach Jahren der Abstinenz von US-amerikanischen Filmen plötzlich mit einem Phänomen konfrontiert sah, das sie mit dem Begriff «schwarz» charakterisierte. Die oft pessimistischen, zynischen Filme mit ihren moralisch ambivalenten und entwurzelten Figuren, die mehr Getriebene als Handelnde waren, passten gut zur damals in Europa entstehenden Denkschule des Existenzialismus, wie ihn etwa Sartre und Camus entwickelten.
Die «einheimische» Entdeckung des klassischen Film Noir begann erst Jahrzehnte später, zu einem Zeitpunkt, als das Phänomen längst historisch war und sich zugleich als eine Neuauflage am Horizont als «Neo-Noir» abzuzeichnen begann. Unter «Neo-Noir» bezeichnet man allgemein die Fortführung und Neuinterpretation des klassischen Film Noir in den späten 1960er-Jahren bis heute, wobei Andrew Spicer3 die einleuchtende Unterscheidung in eine modernistische (Schwerpunkt: späte 1960er- und 1970er-Jahre) und postmoderne Phase vorschlägt (von 1980 bis heute). Gerade weil das konstituierende Merkmal des Neo-Noir eine explizite Neuinterpretation, Hommage oder Hybridisierung des klassischen Film Noir ist, kann er nun als eigentliches Genre betrachtet werden, das zudem international ausgerichtet ist.
Massgeblichen Anteil an dieser Amerikanisierung hatte der promovierte Filmwissenschafter und angehende Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader mit seiner 1972 erschienenen Abhandlung Notes on Film Noir.4 Schrader schreibt kurz darauf das Drehbuch zu Martin Scorseses Taxi Driver (1976) – ein Film, der als Hauptwerk des modernistischen Neo-Noir gilt. Paul Schrader betrachtet den klassischen Film Noir, wie seine Vorgänger und viele seiner Nachfolger, als US-amerikanisches Phänomen, auch wenn er für seine Charakterisierung gewichtige europäische Einflussfaktoren wie den deutschen expressionistischen Film der 1920er- und frühen 1930er-Jahre innerhalb des Weimarer Kinos und des poetischen Realismus im Frankreich nennt. Schrader hebt zwar die Wichtigkeit der europäischen Emigranten für die Entwicklung des Film Noir hervor, zugleich betont er aber die Bedeutung des amerikanischen Gangsterfilms und derjenigen Literatur, die er als «Hardboiled Fiction» bezeichnet: jener amerikanischen Kriminalliteratur also, die vielfach noch in der Vorkriegszeit entsteht und mit Autoren wie Raymond Chandler, James M. Cain und Dashiell Hammett verbunden ist, deren Werke oft auch die Vorlagen für den klassischen Film Noir liefern. Alain Silver und Elizabeth Ward bezeichnen in ihrer inzwischen zum Standardwerk avancierten Enzyklopädie «Film Noir» diesen als «American Style»5 und betonen, dass dieser wie der Western eine einheimische, originäre amerikanische Form sei.
Der klassische Film Noir: kein uramerikanisches Phänomen
Eine solche Fokussierung des klassischen Film Noir auf die Vereinigten Staaten ist zwar angesichts der Fülle der Produktionen und der historischen Entstehungsgeschichte dieser Betrachtungsweise durchaus nachvollziehbar, aber ist sie auch richtig? Aufzuzeigen, dass auch der klassische Film Noir – ähnlich wie der Neo-Noir – in begrenztem Umfang durchaus als ein internationales Phänomen betrachtet werden kann, wird Ziel dieses Aufsatzes sein. Dabei steht nicht die Bedeutung des US-amerikanischen Anteils zur Disposition, denn diese ist unumstritten. Vielmehr geht es darum, dem bereits vielschichtigen Phänomen noch zusätzliche Dimensionen abzugewinnen, sowie einem Spezifikum des internationalen Film Noir nachzugehen, das auch schon der klassische US-amerikanische Film Noir kennt: der Hybridisierung, indem er als Stilprinzip auch andere Formen wie den Western oder die Komödie «infiziert». Im internationalen Kontext wird unter Hybridisierung die Verschmelzung von Film-Noir-Merkmalen mit Traditionen der fremden Kinematografie verstanden.
Durch diese Kreuzung entsteht durchaus etwas Neues, Ungewöhnliches und bisweilen Ungewohntes, wenn etwa im Nachkriegsdeutschland sich der Trümmerfilm mit dem Film Noir mischt, in Frankreich, Spanien, aber auch in Skandinavien die existenzialistische Komponente im Vordergrund steht, in Indien dagegen Traditionen des Bollywood-Kinos inklusive Song- und Tanznummern mit düsteren Licht- und Schattenspielen à l’américain wetteifern und in Mexiko oder Argentinien die melodramatische Komponente, die auch dem US-amerikanischen Film Noir nicht fremd ist, besondere Bedeutung gewinnt. Im Zusammenhang mit diesen zusätzlichen Dimensionen, die erst in den letzten Jahren erforscht werden und die auch einen neuen Blick auf den klassischen Film Noir ermöglichen, sind vor allem drei Publikationen zu nennen: die von Andrew Spicer herausgegebene Anthologie European Film Noir (2007)6, der von Jennifer Fay und Justus Nieland verfasste Band Film Noir: Hard-Boiled Modernity and the Cultures of Globalization (2010)7 sowie das wiederum von Andrew Spicer verfasste Nachschlagewerk Historical Dictionary of Film Noir (2010).8
Die Ausgangsthese meines Aufsatzes lautet, dass der klassische Film Noir (also derjenige, der zwischen 1940 und 1959 erschien) nicht allein ein US-amerikanisches Phänomen ist, sondern international auftritt. Die Bezeichnung international muss allerdings eingeschränkt werden: Werke des nicht US-amerikanischen Film Noir finden sich vor allem in denjenigen Ländern, die nach dem Kriegsende im Kontext einer (halben) Globalisierungswelle «amerikanisiert» wurden. Im Gegensatz zum aktuellen Globalisierungstrend war diese Welle auf diejenige Hälfte der Welt beschränkt, die sich westlich, das heisst an den USA und nicht am Block des Sowjetkommunismus, orientierten. Es handelt sich also in erster Linie um jene Länder, deren Faschismus und Imperialismus zuvor die Welt mit Krieg und Zerstörung überzogen hatte: Deutschland, Japan9 und Italien. Nach dem Krieg setzten hier grossangelegte Finanzhilfen und auch kulturelle Umerziehungsprogramme ein.
Es wäre jedoch falsch, das Entstehen des internationalen Film Noir alleine aus dem direkten amerikanischen Einfluss abzuleiten – ganz im Gegenteil. Zum einen wissen wir, dass der klassische Film Noir keine geplante, sondern erst im Nachhinein in Frankreich konstruierte Angelegenheit war. Wichtiger erscheint der Umstand, dass die Verlierer des Zweiten Weltkrieges zwar massiv mit der US-amerikanischen Kultur im weitesten Sinne konfrontiert wurden, dass aber der Film Noir innerhalb des klassischen Hollywoods als eine nicht unkritische Alternative erscheint, die nicht alleine den American Way of Life lobpreist, sondern auch dessen düsteren, negativen Seiten zeigt. Zum anderen muss daran erinnert werden, dass ja zumindest zwei der Hauptwurzeln des US-amerikanischen Film Noir in Europa liegen: einerseits in den Emigranten, andererseits in den von ihnen direkt mitgebrachten oder übernommenen Stilmitteln (Stichwort Expressionismus, poetischer Realismus). Dass sich diese Entwicklungslinie nun nach dem gravierenden Unterbruch von 1933 bis 1945 wieder an ihrem Ursprungsort fortsetzt, entbehrt nicht einer gewissen Logik, zumal ja auch einige der zuvor ins Exil gezwungenen Regisseure, Drehbuchautoren und Kameraleute selbst wieder zurückkehrten, z. B. Peter Lorre, der in Hollywood sein Geld als Schauspieler verdient hatte und dann in Westdeutschland eines der bedeutendsten Film-Noir-Exponate drehte, den 1950 entstandenen Film Der Verlorene.
Missing Link: der britische Film Noir
Ein wichtiger Hinweis auf die Existenz des klassischen Film Noir ausserhalb der USA ist zwar schon lange bekannt, ist aber nicht als solcher gedeutet worden, da der Film aus Grossbritannien stammt und damit wegen der englischen Sprache und den amerikanischen Hauptdarstellern meist als US-amerikanische Produktion missverstanden wird – ein Umstand, der dem englischen Kino oft Identitätsprobleme beschert: Gemeint ist Carol Reeds The Third Man (1949), dessen verkantete Kamerablicke und expressive Lichtgestaltung, angesiedelt im Milieu des Schwarzmarktes im kriegszerstörten Wien, weltberühmt wurden. Gerade die von Orson Welles brillant verkörperte Figur des Harry Lime, zwischen einnehmendem Charme und moralischer Verworfenheit changierend, würde gut in einen US-amerikanischen Film Noir passen.
Dabei wird aber übersehen, dass es in Grossbritannien einen eigenständigen Zyklus des British Film Noir gibt. In seinem British Film Noir Guide10 führt der Autor Michael F. Keaney fast dreihundert britische Produktionen zwischen 1940 und 1959 auf, die als Film Noir bezeichnet werden können. Die Frage, ob dieser britische Noir-Zyklus genug Eigenständigkeit entwickelt, ist angesichts der Materialfülle nicht generell zu beantworten. Zumindest zwei Elemente sind auffällig: erstens die stärkere Betonung und Gewichtung des Aspekts der sozialen Klasse11 (besonders deutlich etwa in John Boultings Brighton Rock aus dem Jahre 1947), zweitens die geringere Bedeutung der Femme fatale, also jener sehr potenten, äusserst attraktiven, unabhängigen, aber letztlich nicht zu befriedigenden Frauenfigur, welche die Männerfiguren oft blind für Gefahren macht und mit ins Verderben reisst.12
Film Noir français: Existenzialismus
Angesichts der Herkunft des Begriffs Film Noir und der Tradition des poetischen Realismus erstaunt es wenig, dass auch der französische Film seine eigenen Exponate hervorbrachte, zumal sich hier vor allem die Verbindung und Betonung der existenzialistischen Komponente des Film Noir erkennen lässt. Tatsächlich lässt sich eine verstärkte Gewichtung der Abgründigkeit und Absurdität der menschlichen Existenz beobachten, eines Ausgeliefertseins gegenüber der Zufälligkeit des Lebens, der Ohnmächtigkeit und des Fatalismus – von Merkmalen also, die bereits den poetischen Realismus auszeichneten und auch im französischen Nachkriegsfilm weiterhin auftraten. Was in den USA die Autoren der Hardboiled Fiction und in Grossbritannien speziell Graham Greene darstellen, kommt in Frankreich dem Schriftsteller Georges Simenon zu. Nicht selten mischt sich aber dem französischen Nachkriegs-Noir eine komödiantische Komponente bei, welche die Düsterheit der Bilder und der Geschichten zu neutralisieren droht, etwabei La dame d’onze heures (1947) von Jean Devaivre oder den französischen Filmen mit dem Schauspieler Eddie Constantine, die heute fast schon wie eine Parodie wirken.
Allerdings existieren eine Reihe von Filmen aus den späten 1950er-Jahren, die sich durch eine besondere Betonung der existenzialistischen Komponente des Film Noir auszeichnen und durch eine Rigorosität in Bezug auf menschliche Abgründe und Absurdität auffallen, als seien sie an die Romane von Camus oder Sartre angelehnt. Die Protagonisten fühlen sich in diesen Werken zunächst als Dirigenten, in Wirklichkeit sind sie jedoch gefangen in einem gnadenlos ablaufenden Räderwerk, in dem sie dem Schicksal und dem Bad Ending nicht entkommen können: Le dos au mur (1958) von Eduard Mollinaro und der im gleichen Jahr erscheinende L’ascenseur pour l’échafaud von Louis Malle sind beides Spielfilmdebüts und mit der jungen Jeanne Moreau in der Hauptrolle besetzt.
Sie spielt in beiden Filmen eine ähnlich angelegte Frauenfigur, keine Femme fatale zwar, dennoch die Gattin eines älteren wohlhabenden Geschäftsmanns, die sich in der Beziehung langweilt und die Erfüllung in einem ausserehelichen Liebesverhältnis sucht. In Le dos au mur entdeckt dies der Ehemann und beginnt eine teuflische Intrige, die sich schliesslich gegen ihn selbst wendet. Er erpresst seine Frau Gloria und lenkt zugleich den Verdacht auf deren Geliebten Yves, einen angehenden Schauspieler. Gloria vermag diese falsche Fährte nicht zu erkennen und erschiesst Yves. Völlig aufgelöst gesteht Gloria ihrem Mann die Untreue und das Verbrechen, worauf dieser sich als Ausputzer betätigt; er beseitigt die Leiche aus der Wohnung und betoniert sie auf dem Firmengelände ein. Der Film beginnt mit dieser Episode und erzählt die vorangehenden Ereignisse in Rückblenden, wobei der Zuschauer zunächst nicht weiss, wer Yves getötet hat. Auffallend viele Szenen spielen in der Nacht und sind mit künstlicher Beleuchtung inszeniert. Der Ehemann glaubt, durch seinen teuflischen Plan die Liebe seiner Frau zurückgewonnen zu haben, doch durch Zufall entdeckt Gloria am Weihnachtsvorabend, dass ihr Mann hinter den Erpressungen steckte. In ihrer Verzweiflung erschiesst sie sich – nicht ohne zuvor einen Brief an die Polizei aufgegeben zu haben, in dem sie ihren Mann als Täter des Mordes an Yves bezichtigt. Eine Zeile davon lautet: «Ich habe nicht mehr die Kraft, weiter in seiner Nähe zu leben, aber ich habe auch nicht mehr die Kraft, ohne ihn zu leben.»
L’ascenseur pour l’échafaud von Louis Malle komprimiert seine Handlung auf eine Nacht sowie den darauffolgenden Morgen und betont damit die Dynamik des Unausweichlichen. Hier schmiedet das Liebespaar den Plan, den Ehemann in einem perfekten Verbrechen umzubringen (eine beliebte Plotkonstruktion des Film Noir). Doch das Vorhaben geht schief: Der Mörder wird am Tatort im Fahrstuhl eingeschlossen, die Geliebte wartet vergeblich auf ihn und irrt dann – begleitet von den Jazz-Klängen von Miles Davis – auf der Suche nach ihm durch das nächtliche Paris. Währenddessen wird das Auto des Mörders von einem gelangweilten jugendlichen Paar gestohlen, das damit eine Spritztour unternimmt und dabei schliesslich mit der Pistole des Wagenbesitzers einen Touristen ermordet. Der im Fahrstuhl eingeschlossene Mörder – eine Umsetzung, die das Klaustrophobische der Grundkonstellation ins Absurde zuspitzt – sitzt in einer doppelten Falle. Entweder wird er für den Mord belangt, den er am Ehemann seiner Geliebten begangen hat, oder aber er büsst für einen Mord, der mit seiner Waffe und seinem Auto verübt wurde – keine beruhigenden Wahlmöglichkeiten.
L’ascenseur pour l’échafaud ist zugleich ein Scharnierfilm zu einer filmgeschichtlichen Bewegung, die in den späten 1950er-Jahren ihren Ausgang nimmt und eine hohe Affinität zum klassischen amerikanischen Film Noir zeigt, diesen allerdings mit dem frischen Atem des Modernismus dekonstruiert: Es handelt sich um die französische Nouvelle Vague; denken wir dabei an Jean-Luc Godards Erstling A bout de souffle (1960) oder an den im gleichen Jahr in die Kinos gekommenen Tirez sur le pianiste von François Truffaut.
Italien & Spanien: Zufallsprinzip und Last der unbewältigten Vergangenheit
Nicht nur im französischen Nachkriegskino findet sich diese Zuspitzung von existenzialistischen Fragestellungen und Auslegungen in Verbindung mit dem europäischen Film Noir, sondern auch in Italien und Spanien. Im Italien paart sich der Film Noir zunächst mit der vorherrschenden Innovationsbewegung des Neorealismus. Bereits der erste Film dieser Bewegung, der noch während des Faschismus entstand, greift gleichsam zeitgleich auf einen Stoff des Film Noir zurück: Die Handlung von Luchino Viscontis Ossessione (1942) lehnt sich an James M. Cains Roman The Postman Always Rings Twice an, ohne sich dabei um die Urheberrechte zu kümmern. Allerdings macht der Neorealismo nero nur einen kleinen Teil der Hauptwerke des italienischen Neorealismus in seiner Blütezeit zwischen 1945 und 1952 aus. Als Beispiele einer eindrücklichen Verbindung von schwarzer Kriminalgeschichte und Realismus zu erwähnen sind etwa Il bandito (1948) und Senza pietà (1948), beide von Alberto Lattuada, oder Tombolo, paradiso nero (1947) von Giorgio Ferroni.
Michelangelo Antonionis Spielfilmerstling Cronaca di un amore (1950) und der spanische Film Noir Muerte de un ciclista (1955) von Juan Antonio Bardem, die mehr als die Hauptdarstellerin Lucia Bosé verbindet, stellen eine eigentliche Fortentwicklung des ursprünglichen Neorealismus dar, die gelegentlich als innerer Neorealismus bezeichnet wird. Diese Charakterisierung besagt die Beibehaltung einer realistischen Darstellungsweise, zugleich aber die Abkehr von den äusserlichen, vor allem materiellen Problemen der unmittelbaren Nachkriegszeit: Folgen des Faschismus, Kriegszerstörung und Armut. Der innere Realismus wendet sich dem Innenleben der Protagonisten zu. Es geht, wie Antonioni einmal etwas salopp formulierte, nun nicht mehr um Fahrraddiebstähle, sondern um die Entfremdung der Protagonisten von ihren Mitmenschen und ihrer Umgebung, um die Sinnkrise, die sie in dieser Wirtschaftswunderzeit erleben.
In Cronaca di un amore ist die Geschichte (wie in vielen späteren Filmen Antonionis) in der gesellschaftlichen Oberschicht angesiedelt, die keine dringenden materiellen Probleme mehr kennt, dafür aber an einer «Krankheit der Gefühle» leidet, wie es der Regisseur selbst treffend charakterisiert, an einem Auseinanderlaufen von äusserer, von Fortschritt, Moderne und zunehmend von Technologie gekennzeichneten Welt und einer inneren Gefühlswelt, die mit diesen Entwicklungen nicht klarkommt. Nicht äusserliches Vergehen (wie ein Mord), sondern innere Gefühle von Schuld und Leere sind es, welche die Liebesbeziehungen in diesen Filmen scheitern lassen. Um es zugespitzt zu formulieren: Nicht kriminelle Taten, sondern moralisches Empfinden führt jeweils in die Sackgasse. Sehr speziell sind in Cronaca di un amore die Rolle des Zufalls und das Auseinanderklaffen von Plan und tatsächlichem Ablauf gehalten.
Ein zunächst unbegründeter Verdacht und die daraus folgende Eifersucht des wohlhabenden Mailänder Industriellen Enrico Fontana gegenüber seiner jüngeren Gattin Paola aktivieren nicht nur die Ermittlungstätigkeit eines Privatdetektivs, sondern auch das alte Liebesverhältnis zwischen Paola und Guido, das einst ein ungeklärter Todesfall von Guidos damaliger Geliebter beendet hatte. Mit der wieder erwachten Liebe entwickelt sich aber auch der Wunsch, das mühsame Dreieck zu beseitigen, sprich: den störenden Ehemann zu beseitigen.
Als Paola und Guido ihren zunächst vagen Plan zu konkretisieren versuchen und dabei den zukünftigen Tatort besichtigen, setzt Antonioni dies mit aufregenden Plansequenzen, 360°-Schwenks und einer souveränen Beherrschung von Raum und Architektur in Szene – mit einer Souveränität, die den beiden Protagonisten völlig abgeht. Sie wirken wie Schlafwandelnde, die den Intentionen, die das Schicksal mit ihnen vorhat, nicht entkommen können; ihnen ist dieser Umstand aber durchaus bewusst, was sie in eine bedrückende Melancholie versetzt. Verstärkt wird dieses Gefühl der Ohnmacht, der Macht des Zufalls dadurch, dass sich die Geschichte wider Erwarten entwickelt. Der Industrielle stirbt zwar, aber nicht durch die Hand von Guido, sondern er verunglückt, während der Geliebte in Mordabsicht auf ihn wartet. Dabei lässt der Film offen, ob der Ehemann durch einen Unfall oder durch Suizid mit dem Auto ums Leben kam, nachdem er von der Affäre seiner Frau erfahren hatte. Doch Paola und Guido reagieren so, als hätten sie die Tat nicht nur geplant, sondern auch verübt, obwohl es keinen polizeilichen Verdacht gibt. Wiederum steht am Ende anstelle der Bereinigung der Probleme die Trennung des Paares.
In Muerte de un ciclista ereignet sich der titelgebende Tod eines Radfahrers bereits in den ersten Bildern des Films. Auf einer regennassen Strasse irgendwo im spanischen Niemandsland übersieht Maria einen Velofahrer. Da sie sich zusammen mit ihrem Geliebten Juan im Auto befindet und der Vorfall ihre Affäre ans Tageslicht bringen würde, beschliessen die beiden, den Verunglückten sich selbst zu überlassen und begehen Fahrerflucht.
Das erregt kein grösseres Aufsehen, gehört doch der tote Radfahrer der verarmten Unterschicht an. Keine Postkarten- und Tourismusansichten präsentiert der Film von Spanien, vielmehr das Bild einer Gesellschaft, die erstarrt ist und etwas zu verbergen hat, die nicht im Reinen ist mit ihrer Vergangenheit. Hinter der Oberfläche einer Kriminalgeschichte, die sich abgesehen von Erpressungsversuchen kaum bewegt, blitzt ein Subtext hervor, der die Zerrissenheit des Landes sichtbar macht, die durch den Bürgerkrieg in den 1930er-Jahren verursacht worden war. Juan, der Geliebte und Universitätsprofessor, sieht seine Vergangenheit als Kämpfer auf der Seite der rechtsgerichteten Falanche und seine Zukunft als Karrierist zunehmend infrage gestellt. Optisch setzt dies Regisseur Bardem durch klaustrophobisch wirkende Innenaufnahmen um, in denen den Protagonisten die Decke buchstäblich auf den Kopf zu fallen droht. Am Ende dieses Prozesses, angeheizt durch die sanfte Rebellion seiner Studierenden, steht für Juan der Entschluss, reinen Tisch zu machen und sich der Justiz zu stellen.
Das Ende des Films zeigt sowohl Spuren der damaligen Zensur als auch ihr gleichzeitiges Durchbrechen. Gleichsam in einer Kreisbewegung kehrt der Film an den Beginn zurück: Juan und Maria begeben sich an den Schauplatz des Anfangs. Doch Maria sieht ihr luxuriöses Leben gefährdet und widersetzt sich Juans Wunsch, sich der Polizei zu stellen. Stattdessen überfährt sie ihn mit ihrem Auto, was ebenso abstrakt und unspektakulär in Szene gesetzt wird wie der Unfall des Fahrradfahrers zu Beginn. Was nun folgt, war wohl eine Vorgabe der Zensur, welche für die Frauenfigur eine Bestrafung verlangte. Maria rast mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Nacht und stürzt dabei – welche Ironie des Schicksals – bei einem Ausweichmanöver mit dem Auto in die Tiefe. Der dieses Mal verschont gebliebene Fahrradfahrer entfernt sich, der Film endet, bevor klar wird, ob er Hilfe holt oder das Weite sucht und erhält damit (und mit der völlig überstürzten Handlung) die Ambivalenz (zugleich auch als selbstreflexives Signal der Konstruiertheit) aufrecht, welche die staatliche Zensur beseitigt sehen wollte.
Lateinamerika & Indien: Film Noir mit viel Gefühl, Tanz und Gesang
Als Gegenpol zu dieser europäischen, stark unterkühlten, existenzialistischen Tendenz soll nun jener Film Noir betrachtet werden, der aus anderen Kulturkreisen stammt und seine ganz eigenen Traditionen mit jenen des Film Noir zusammenschweisst. Das Resultat ist oft eine sehr überraschende Hybridform, in der das scheinbar Unverträgliche dennoch etwas Neues ergibt, zum Teil auf etwas hinausläuft, das vielleicht völlig gegen den ursprünglich intendierten Sinn gelesen werden kann (etwa in einer Camp-Lesart bei Aventurera). Die beiden Beispiele stammen aus Lateinamerika (Mexiko) und Asien (Indien).
Aventurera (Die Abenteuerin, 1950) von Alberto Gout stammt aus dem sogenannten goldenen Zeitalter des mexikanischen Kinos, also aus jenen Jahren des Aufschwungs in den 1940er-Jahren, in denen sich politisch ein Modernisierungsschub und ökonomisch eine gewisse Stabilität abzeichnete (im Filmbereich durch staatliche Förderung). In diesen Jahren entstehen viele Melodramen, die sich an internationale Muster anlehnen, aber durchaus primär auf die eigenen Bedürfnisse und Traditionen ausgerichtet sind. Im damaligen Mexiko fand infolge der Modernisierung der Industrie eine tiefgreifende gesellschaftliche Umschichtung statt, im Zuge deren viele ursprünglich auf dem Land lebenden Menschen in die Städte zogen. Zwei verschiedene Genres des mexikanischen Films trugen diesem Umstand und den damit verbundenen Gefühlen der Entwurzelung und Unrast Rechnung: das «cine de arrabal» (Slum-Filme; das berühmteste Beispiel ist Luis Buñuels Los olvidados von 1950) und der «Cabaretera», (Melodramen, die meist in Bordellen oder Nachtklubs spielen). Zu ihnen gehört Aventurera mit Ninon Sevilla, einer kubanischen Rumba-Tänzerin und Sängerin, in der Hauptrolle.
Die Handlung von Aventurera ist gekennzeichnet durch zahlreiche unerwartete Umschwünge, Neuentwicklungen und Schicksalsschläge. Dabei verwickeln sich drei primäre Bedeutungsstränge ineinander: Erstens die Bühnenauftritte der von Ninon Sevilla verkörperten Elena, die keine klassische Schönheit, aber mit einer seltsamen Mischung von Unschuld und Sensibilität versehen und von einer eindrücklichen Virtuosität ist, gleichsam wie ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann; zweitens die Bühnenauftritte anderer Künstler, die wie eine Kommentierung oder Vorwegnahme der kommenden Handlung wirken und dem Chor im klassischen griechischen Theater ähneln, sowie drittens der eigentlichen Handlung, die formal mit Low-Key-Beleuchtung im Noir-Stil umgesetzt ist. Die Handlung wird dabei von starken Frauenfiguren und deren Gedanken an Rache über zugefügtes Unheil angetrieben.
Gegenspielerin von Elena wird Rosaura, einerseits skrupellose Bordellbesitzerin, anderseits Elenas zukünftige Schwiegermutter und angesehenes Mitglied der oberen Gesellschaftsschicht. Die Wege der beiden Frauen kreuzen sich immer wieder, als Elenas idyllisches Leben zu Beginn des Films plötzlich zerfällt und sie sich nach dem Ehebruch ihrer Mutter und dem anschliessenden Suizid des Vaters gezwungen sieht, in die Stadt zu ziehen und in dem von Rosaura als Nachtklub getarnten Bordell landet. Für Elenas Ausstieg aus ihrem lukrativen Geschäft rächt sich Rosaura, indem sie deren Beschützer Lucio an die Polizei verrät; Elena rächt sich wiederum, indem sie Rosauras Sohn Mario, obwohl sie ihn nicht liebt, heiratet. Dieses abrupte Oszillieren zwischen moralischen Tugenden und Bosheit kennzeichnet das gesamte Werk und gibt dem Film Noir eine eigene Note. So wie Elena in ihren Tanzauftritten immer wieder in eine andere Rolle schlüpft (von der Orientalin bis zur mit Bananen behängten Carmen-Miranda-Imitation) vermeidet Aventurera eine eindeutige Schwarz-Weiss-Zeichnung, wie sie für das Melodram charakteristisch ist. Die Welt ist in Aufruhr und Veränderung, Konventionen und soziale Kategorien verlieren an Wichtigkeit. Am Schluss braucht es aber doch eine Deux-ex-machina-Konstruktion für das Happy End, wenn es zur Wiedervereinigung von Elena und Mario auf nächtlicher Strasse kommt. Heute wirkt dies wie ein selbstreflexives Zeichen, das besagt: Film ist Film – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Gleichsam wie der Versuch einer Vereinigung von Feuer und Wasser wirkt auch Raj Kholas 1956 entstandener Film C.I.D. mit den Bollywoodstars Dev Anand und Shakila in den Hauptrollen und dem angesehenen Regisseur Guru Dutt als Produzenten. C.I.D. ist die Abkürung für «Crime Investigation Department» in Bombay, zu deren Personal die Hauptfigur Shekhar, ein Polizeiinspektor, gehört. Auch der damals junge eigenständige Staat Indien, seit 1947 unabhängig, sieht sich einer Modernisierungswelle und gesellschaftlichen Umbrüchen gegenüber, die der Film aufgreift. Dazu gehören auch die Faszination für das US-amerikanische Kino und der Versuch der Verknüpfung mit einheimischen Traditionen für den riesigen indischen Markt. Für einen westeuropäischen Zuschauer wirkt dies bisweilen, als würde man im «falschen Film» sitzen oder zwei ganz verschiedene Filme zur gleichen Zeit sehen: Wenn etwa nach einer nächtlichen Verfolgungsjagd mit Autos plötzlich eine längere Gesang- und Tanzeinlage folgt, wie sie für Bollywood-Filme damals und heute typisch ist, und deren Summe zu einer für den Film Noir untypischen Länge von fast drei Stunden führt.
Hintergrund und roter Faden des Films ist der Kampf eines einzelnen Inspektors gegen das Krebsgeschwür der Korruption, das auch vor der Institution der Polizei nicht haltmacht und den Polizisten Shehkar zwischenzeitlich unter Mordverdacht und ins Gefängnis bringt. Auf seiner Suche nach der Wahrheit wird Shekhar von zwei Frauenfiguren begleitet, die nicht unterschiedlicher sein könnten: der faszinierenden, aber doch auch zwielichtigen Femme fatale Kamini und der treuen, von Shekhars Unschuld immerzu überzeugten, aber auch etwas langweiligen Rekha, der Tochter des Polizeichefs.
Die Form des Film Noir und die Anreicherung mit traditionellen, eigenen Ausdrucksformen gibt C.I.D. die Möglichkeit, eigene Missstände wie Korruption und mafiaähnliche Bandenkriminalität anzuprangern, ohne zu stark auf Mittel der ehemaligen Kolonialisten zurückzugreifen. Auch wenn die zahlreichen Song- und Tanzszenen, welche die Handlung unterbrechen, eher einen exotischen und entrückten Eindruck vermitteln, bereitet es C.I.D. keine Mühe, wieder zum Noir-Stil zurückzukehren: verkörpert durch die vielen Nachtszenen, den Innenaufnahmen in labyrinthischen Räumen, den Bildkadrierungen, welche die Figuren gleichsam einsperren oder durch die langen Schatten, die sie verfolgen oder zu verschlucken drohen. Der Film zeigt in seinem sonderbaren, aber eigenständigen Mix, wie weit sich der Film Noir von seinem eigenen Kern entfernen kann, ohne das Bezugsfeld zu verlieren.
Wie diese Ausführungen zeigen, lassen sich innerhalb des Zeitrahmens des klassischen Film Noir eine Vielzahl von Beispielen ausserhalb des US-amerikanischen Kinos finden. Die These von einem uramerikanischen Phänomen erweist sich somit als revisionsbedürftig. Wichtig erscheint es mir, weiter festzuhalten, dass es sich beim klassischen Film Noir ausserhalb der Vereinigten Staaten nicht einfach um eine Kopie oder eine Übernahme im Zuge einer Welle der Amerikanisierung handelt, sondern um die Entwicklung eigenständiger Formen, welche die Muster des Film Noir mit eigenen kinematografischen und kulturellen Strömungen verbinden. Da damit etwas Eigenes, Neues entsteht, wird das bereits reiche Spektrum des Film Noir noch einmal erweitert.