Als Hybrid zwischen Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilm überschreitet der Essayfilm die inhaltlichen und formalen Grenzen dieser Gattungen, vermischt deren Elemente und fügt sie zu einer neuen Form zusammen. Fiktives und dokumentarisches Bildmaterial wird auf vielfältige Weise kombiniert, sodass neue Sinnzusammenhänge entstehen. Der Essayfilm hält sich nicht an narrative Konventionen, sondern durchbricht die kausale Erzählstruktur und verwischt die Grenzen zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Zudem bietet der Essayfilm durch seine «Multiperspektivität»1 vielseitige Anknüpfungspunkte, die der Zuschauer aufnehmen oder verwerfen kann. Durch das selbstreflexive Hinterfragen der Filmbilder, das dem Essayfilm eigen ist, wird das Publikum zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Gezeigten aufgefordert, die klassische Abgrenzung zwischen Leinwand und Publikum wird durchlässig: Es entstehen vielseitige Interaktionen zwischen Film bzw. Filmschaffenden und Zuschauers. Besonders deutlich wird dies auf der Ebene des Blicks. In Chris Markers Essayfilmen ist die Interaktion zwischen Zuschauerblick und Zurückblicken der Filmbilder ein immer wieder kehrendes Element, was im Folgenden anhand von Beispielen aus Level Five (F 1997) und Sans soleil (F 1983) veranschaulicht wird. Auch die direkte Ansprache des Zuschauers, die sich wie ein roter Faden durch Alain Resnais und Chris Markers Les statues meurent aussi (F 1953) zieht oder sich in Form eines Dialogs mit dem Zuschauer in Derek Jarmans The Last of England (GB 1987) zeigt, demonstrieren die durchlässige Grenze zwischen Film und Zuschauer. Der filmische Brief weist unterschiedliche Formen der Interaktion mit dem Zuschauer auf, was im Vergleich zwischen Chris Markers Lettre de Sibérie (F 1957), Chantal Akermans News from Home (USA 1977) und Jean-Luc Godards und Jean-Pierre Gorins Letters to Jane (F 1972) sichtbar wird. Schlussendlich wird der Zweifel am Bild, der dem Essayfilm inhärent ist, in Wim Wenders Tokyo-Ga (D / USA 1985) hervorgehoben.
Das Zurückblicken der Bilder
Die durchlässige Grenze zwischen Film und Zuschauer ist deutlich in Chris Markers Essayfilmen Level Five (F 1997) und Sans soleil (F 1983) zu erkennen. Level Five thematisiert die Tragödie der kollektiven Massensuizide auf der japanischen Insel Okinawa am Ende des Zweiten Weltkrieges. Laura, die Hauptperson des Films, beginnt das Computerspiel zu spielen, an dem ihr kürzlich verstorbener Geliebter gearbeitet hat. Ziel des Spiels ist es, die Schlacht von Okinawa nachzustellen. Lauras Versuch, im Spiel den Verlauf der Schlacht zu verändern, scheitert jedoch, da es nur ein Nachstellen der historischen Ereignisse zulässt. So beginnt Laura im Informationsnetzwerk O.W.L.2 über Okinawa zu recherchieren. Dabei stösst sie auf Archivmaterial, das Frauen auf der japanischen Insel Saipan zeigt, die Suizid begehen, indem sie sich von den Klippen in die Tiefe stürzen. Kurz bevor eine der Frauen von den Felsen springt, dreht sie sich noch einmal um und blickt in die Kamera (Abb. 1). Aus dem Off ist Lauras Stimme zu hören:
«Ob sie wohl auch gesprungen wäre, wenn sie im letzten Moment nicht bemerkt hätte, dass man sie beobachtete? [...] Die Frau in Saipan sah die Kamera. Sie begriff, dass die fremden Dämonen sie nicht nur hetzten, sondern auch aller Welt zeigen konnten, dass sie nicht den Mut gehabt hatte, zu springen. Sie sprang. Und der, der die Kamera hielt und wie ein Jäger auf sie zielte, durch sein Zielfernrohr, hat sie abgeschossen, genau wie ein Jäger.»
Der beobachtende Kamerablick – und mit ihm der Zuschauer – werden gemäss des Off-Kommentars zu Mitschuldigen am Suizid der Frau.
Zwischen Film und Zuschauer entsteht also eine Interaktion: Die Bilder, die zurückblicken und der Zuschauer, der wie eben beschrieben, das Geschehen vermeintlich beeinflusst. Das Zurückblicken der Bilder ist auch in Sans Soleil, der die Natur der menschlichen Erinnerung und das Gedächtnis der Bilder thematisiert, auffällig: Marker kombiniert Ausschnitte aus Spiel- und Dokumentarfilmen sowie selbst gefilmte Szenen aus Guinea Bissau, Japan, Island etc. Durch den Film führt eine weibliche Off-Stimme, welche die Briefe des fiktiven Kameramanns Sandor Krasna vorliest. Im ersten Drittel gibt es eine Szene, in der Bilder aus japanischen Horrorfilmen aneinandergereiht werden: Während aus dem Off der Kommentar «But the more you watch Japanese television, the more you feel it’s watching you», zu hören ist, werden im Bild Gesichter aus Horrorfilmen in Grossaufnahme gezeigt, die direkt in die Kamera blicken, so als ob sie die Zuschauer beobachten würden. Eine ähnliche Szene gibt es auch kurz zuvor. Während im Bild Graffiti mit Comic-Figuren gezeigt werden, die die Zuschauer zu beobachten scheinen (Abb. 2), kommentiert die Off-Stimme:
«The entire city is a comic strip; it’s Planet Manga. [...] And the giant faces with eyes that weigh down on the comic book readers, pictures bigger than people, voyeurizing the voyeurs.»
Diese Wechselbeziehung zwischen Zuschauerblick und dem Zurückblicken der Filmbilder, zeigt die Durchlässigkeit und die symbolische Überschreitung der Grenzen zwischen Film und Zuschauer.3
Der Dialog mit dem Zuschauer
Auch die direkte Ansprache des Zuschauers durch den Kommentar kann als Überschreitung der Grenze zwischen Zuschauer und Film betrachtet werden. Der Zuschauer wird aktiv ins filmische Geschehen miteinbezogen. In Alain Resnais’ und Chris Markers Les statues meurent aussi (F 1953) wird dieses Verfahren der aktiven Zuschaueransprache fast durchgängig angewandt. Resnais und Marker thematisieren in ihrem Film den Kolonialismus der Europäer und den Niedergang der afrikanischen Kunst. Schon zu Beginn des Films spricht eine männliche Off-Stimme in der «Wir»-Form:
«Das Volk der Statuen ist sterblich. Eines Tages werden unsere steinernen Gesichter ihrerseits zerfallen.»
Auch später beruft sich der Off-Kommentar auf das kollektive «Wir», wenn er sarkastisch auf die Kolonialisierung und das Verschwinden der afrikanischen Kunst anspielt:
«Aber was wir aus Afrika haben verschwinden lassen, zählt kaum für uns angesichts dessen, was wir in Afrika hervorgebracht haben.»
Das «Wir» der Europäer meint selbstverständlich auch die Zuschauer, die so involviert werden. Noch deutlicher wird folgender Off-Kommentar:
«Die Negerkunst: wir betrachten sie, als ob sie ihre Daseinsberechtigung in dem Vergnügen findet, das sie uns verschafft.»
Die Ansprache des Zuschauers wird noch verstärkt, wenn der Off-Kommentar zu einer Handlung auffordert. So appelliert der Off-Kommentar aus Les statues meurent aussi (F 1953):
«Versuchen Sie zu unterscheiden, was hier Erde ist und was Leinwand, was schwarze Haut und was Erde, aus einem Flugzeug gesehen, was Baumrinde ist und was das Äussere einer Statue.»
Im Bild erscheinen währenddessen Detailaufnahmen der genannten Gegenstände. Die Off-Stimme spricht den Zuschauer direkt an und fordert ihn zu einer aktiven und differenzierten Betrachtung der Bilder auf. Dadurch wird sich der Zuschauer als Betrachtender bewusst.
Die dialogische Struktur, die im Essayfilm häufig verwendet wird, markiert eine weitere Form der Grenzüberschreitung zwischen Film und Zuschauer. Der Kommentar wird aus der Ich-Perspektive erzählt und spricht ein unsichtbares Gegenüber an, mit dem sich der Zuseher identifizieren kann. Diese dialogische Struktur des Essayfilms zeigt sich beispielsweise in Derek Jarmans The Last of England (GB 1987). Jarman verwebt in diesem Film seine persönliche Aids-Erkrankung mit dem Identitätsverlust und der Kulturkrise, die er für England konstatiert. Etwa zehn Minuten nach Beginn des Films fragt die männliche Off-Stimme:
«What do you see in those heavy waters? I ask. Nothing but a bureaucrat from the ministry poisoning the buttercups with a new defoliant. What’s that I hear? The sound of Gershwin on his ghetto blaster. [...] And tomorrow? Tomorrow’s been cancelled owing to lack of interest. You saw the graffiti years ago on the Euston Road, and didn’t believe it.»
Dieses fiktive Gespräch kann als Dialog zwischen dem erzählenden Ich und seiner zweiten, aufgespaltenen Identität gesehen werden. Durch die Ansprache eines unsichtbaren Gegenübers wird ein Adressat entworfen, mit dem sich der Zuschauer identifizieren kann.4 Auch in der Szene aus The Last of England, in der ein Mann, gespielt von Spencer Leight, exekutiert wird, richtet eine weibliche Off-Stimme die Aufforderung «Don’t be sad» an ein unsichtbares Gegenüber. Diese tröstende Äusserung der weiblichen Kommentarstimme kann als Reaktion auf das vermutete Empfinden des Zuschauers beim Betrachten der Hinrichtung gelesen werden. Durch diese dialogische Interaktion zwischen Film und Zuschauer entsteht beim Zuschauer das Gefühl der Teilnahme am filmisch Dargestellten. Die Grenze zwischen Film und Zuschauer wird hier abermals durchbrochen.
Der Film als Brief
Dialogische Strukturen gehören auch zu der im Essayfilm häufig verwendeten Briefform. Die oft intime, zwischenmenschliche Form des brieflichen Austauschs zwischen zwei, meist vertrauten Personen wird im Essayfilm öffentlich. Durch die Briefform entsteht zwischen Zuschauer und Filmemacher ein besonderes Vertrauensverhältnis. Der Filmemacher verkörpert nicht mehr nur den epischen Ich-Erzähler, sondern er offenbart dem Zuschauer seine kulturellen und biografischen Hintergründe. Der Zuschauer wird ins Vertrauen gezogen:
«Vertrauen gegen Vertrauen, bekennerische Offenheit gegen generöses Interesse: das ist es, was die Autorinnen und Autoren von ‹Brief-Filmen› einerseits anbieten, andererseits verlangen.»5
Die filmische Briefform ist sehr vielfältig: Während Markers Lettre de Sibérie (F 1957) von einem Ich-Erzähler ausgeht, der mit den Worten «I’m writing you this letter from a distant land.» seinen Filmbrief beginnt, verfährt Chantal Akerman in News from Home (USA 1977) auf umgekehrte Weise. Die belgische Filmemacherin war kurz nach Abbruch ihres Studiums nach New York gezogen um dort Filme zu produzieren. In News from Home liest sie die Briefe, welche ihre Mutter ihr aus Belgien geschickt hat:
«My dearest little girl, I just got your letter and I hope that you’ll continue to write to me often. Anyway, I’ll hope that you’ll come back to me soon. I hope that you are still well and that you’re already working. I see that you like New York and you seem to be happy. We are very pleased even though we’d like to see you again very soon.»
Auf der visuellen Ebene des Films werden dazu Bilder aus dem urbanen New Yorker Alltag gezeigt. Der Film spiegelt die persönlichen Lebensumstände der Filmemacherin wider und gestattet dem Zuschauer einen intimen Einblick in die Beziehung zwischen Chantal Akerman und ihrer Mutter. Durch die filmische Briefform erhält der Zuschauer Einblick in subjektive Gedanken und Gefühlen, die normalerweise nur dem engsten Freundes- oder Familienkreis offenbart werden. Dies intensiviert die Beziehung zwischen Filmemacher und Zuschauer.6
Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden essayistischen Filmbriefen, die an die Filmemacherin selbst bzw. an ein unsichtbares Gegenüber gerichtet sind, ist Jean-Luc Godards und Jean-Pierre Gorins Letters to Jane (F 1972) an eine bestimmte Person – Jane Fonda – gerichtet. In dem als Postscript ihres Films Tout va bien (F 1972) entstandenen Essayfilm demontieren die beiden Filmemacher eine Fotografie von Jane Fonda, auf der sie während ihres Besuches in Vietnam mit einer Gruppe von Vietcong abgebildet ist. Der Off-Kommentar beginnt mit den Worten:
«Dear Jane, in the advertising leaflet which accompanies ‹Tout va bien› to the festivals [...] we preferred using a photograph of you in Vietnam instead of photographs of the film. [...] This photograph shows you, yes you Jane, serving the Vietnamese people’s struggle for independence.»
Der Off-Kommentar wird abwechselnd von Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin gelesen. Als Adressatin des Filmbriefes wird Jane Fonda direkt angesprochen und aufgefordert, Stellung zu der Kritik der Filmemacher zu nehmen:
«We hope by the end of this letter, things will be a little clearer. And that’s why we really need you to come and answer us directly, because we are not writing to you only as authors of ‹Tout va bien› but also because we have been looking at this photograph.»
Der Zuschauer erhält Zugang zu diesem persönlich adressierten Brief. Ihm werden die subjektiven Gedankengänge der beiden Absender sowie deren Kritik an Jane Fonda vorgetragen, und er ist aufgefordert, selbst Stellung zu beziehen. Die Filmautoren fordern einen aktiv handelnden Rezipienten ein, der eine gleichberechtigte Position zu den Filmautoren einnimmt:
«The spectator [...] will be a producer at the same time as he is a consumer. And we will be consumers at the same time as we are producers.»
Durch die Zuordnung der Kommentarstimme zu einem bestimmten Subjekt wird die Autorität der Stimme angreifbar und mit ihr auch die Autorität dessen, was sie sagt.7 Indem die Kommentarstimme einer bestimmten Person (z.B. dem Filmemacher) zugeordnet werden kann, wird dessen Subjektivität sichtbar. Die Aussage der Kommentarstimme kann als eine Meinung aus einem breiten Spektrum wahrgenommen werden. Somit wird sie auf die gleiche Stufe mit der Meinung des Rezipienten gestellt. Der Essayfilm wird hier also nicht als abgeschlossenes Werk verstanden, sondern als direkte Handlungsaufforderung an den Zuschauer.
Der Zweifel am Bild
Der Zweifel am Bild ist dem Essayfilm inhärent. Die «gegenseitige Infiltration von Fiktionalem und Dokumentarischem» im Essayfilm veranlasst den Zuschauer dazu, «seine ‹Lektüren› des einzelnen Films und von Film allgemein zu überprüfen.»8 Zudem widersetzt sich der Essayfilm einer klaren Positionierung und schafft Widersprüche, indem er beispielsweise unterschiedliche Bilder aneinander montiert oder einen Bruch zwischen dem im Bild Dargestellten und dem im Kommentar Gesprochenen schafft. Häufig spricht der Essayfilm selbst den Zweifel an der Wirklichkeit des Dargestellten an. So bemerkt der Off-Kommentar zu Beginn von Wim Wenders Tokyo-Ga (D / USA 1985), einer Hommage an den von Wenders verehrten japanischen Regisseur Yasujiro Ozu:
«Die Wirklichkeit. Kaum ein Begriff ist so ausgehöhlt und unbrauchbar im Zusammenhang mit dem Kino. [...] Ein jeder sieht seine Wirklichkeit mit seinen eigenen Augen. [...] Es ist selten geworden in dem heutigen Kino, dass solche Augenblicke der Wahrheit stattfinden, dass Menschen oder Dinge sich so zeigen, wie sie sind.»
Indem der Film auf die Subjektivität der Wirklichkeitswahrnehmung verweist, wird auch der Zuschauer dazu veranlasst, die Filmbilder zu hinterfragen. Wenders bricht die geschlossene Welt des Films auf, die Lücken muss der Zuschauer selbst schliessen. Der Essayfilm ist auf den Zuschauer als «produktive ‹Kraft›» angewiesen. Die Offenheit des Essayfilms ermöglicht es dem Zuschauer auch hier wieder, einen eigenen Standpunkt einzunehmen und Sinnzusammenhänge zu schaffen.9
Die Interaktion zwischen Film und Zuschauer ist ein wesentliches Charakteristikum des Essayfilms. Im Essayfilm sind die Grenzen zwischen Film und Zuschauer durchlässig: Der Zuschauerblick wird von den Filmbildern zurückgeworfen, und es entsteht eine Interaktion zwischen dem Film bzw. dem Filmemacher und dem Zuschauer. Diese zeigt sich durch die direkte Ansprache des Zuschauers oder durch die Verbündung zwischen Filmemacher und Zuschauer zu einem kollektiven «Wir», sowie durch die Brief- und Tagebuchform. Auch die offene Struktur des Essayfilms sowie seine charakteristischen Eigenschaften lassen die Grenze zwischen Film und Zuschauer durchlässig werden: Subjektivität, Selbstreflexivität, der Zweifel am Bild sowie die Vermischung zwischen fiktivem und dokumentarischem Material fordern den Zuschauer auf, den Film kritisch zu hinterfragen und seinen eigenen Standpunkt einzubringen: Der Zuschauer als aktiver Rezipient, dessen Teilnahme an der Sinnproduktion vorausgesetzt wird.