THOMAS HUNZIKER

ICH BIN’S HELMUT (NICOLAS STEINER)

SELECTION CINEMA

Helmut feiert mit seiner Frau Gertrud gerade seinen 60. Geburtstag. Er erhebt allerdings Einspruch: Er sei erst 57. «Gertrud hat sich verrechnet», erklärt er dem Publikum. So trost­­­los wie die Einrichtung des Wohnzimmers scheint auch die Ehe zu sein. Zufrieden sieht Helmut auf jeden Fall nicht aus. Er beklagt sich über seine nachtragende und endlos tratschende Gattin. Höchste Zeit für Helmut, über sein Leben nachzudenken.

Plötzlich taucht aus der Mitte des Tisches ein Kopf auf. Es ist der Günter, der Nachbar, der auch zum Geburtstag gratulieren möchte. «Eigentlich nett», meint Helmut. Doch Floskeln ärgern ihn schnell. Sowieso fragt er sich, was Günter und Gertrud miteinander zu reden haben. Lakonisch kommentiert Helmut die Ereignisse, während sein Leben an ihm vorbeizieht. Immer mehr Figuren aus der Vergangenheit tauchen auf. Zum Beispiel Hans, der Jäger, den er angeschossen hat. Das Wohnzimmer löst sich langsam in seine Bestandteile auf, die Wände verschwinden. Helmut steht schliesslich an einer Bushaltestelle, an der an diesem Tag aber kein Bus mehr fährt. Er erinnert sich daran, dass er einmal von hier fort wollte und folgert: «Es ist schon erschreckend, wie man sein Leben verpasst, nur weil der Bus nicht kommt, wann er soll.» Während Helmut entgangenen Möglichkeiten nachtrauert, fällt die letzte Wand, und er findet sich auf einer Bergwiese wieder.

Mit seinem Kurzfilm Ich bin’s Helmut legt Nicolas Steiner einen reifen und virtuosen Film ab. An der verfrühten Geburtstagsfeier tauchen aus den unmöglichsten Orten Perso­nen aus dem Leben des Protagonisten auf, die im wahrsten Sinne des Wortes die Fassade des bürgerlichen Lebens einreissen. Steiner gestaltet die Bilanz dieses Lebens äusserst skurril, unverschämt frech und leise melancholisch zugleich. Das eigenwillige Werk spielt ebenso tiefschürfend wie vergnüglich mit der Illusion der Oberfläche. Durch die kluge Inszenierung der Geschichte kommt Steiner ohne Schnitt aus. Die beweglichen Kulissen ermöglichen dennoch unerwartete Mobilität und einen Schauplatzwechsel nach dem anderen. Die kuriosen Einfälle bei der Gestaltung des Bühnenbilds sorgen für heitere Momente und verblüffende Übergänge, die Helmut den Weg in die Zukunft ebnen. So unbeständig sein Leben nämlich im Rückblick erscheint, so zuversichtlich macht er sich am Ende auf die Suche nach seiner Melodie.

Der im Rahmen von Steiners Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg realisierte Kurzfilm wurde an über zwanzig Festivals in aller Welt eingeladen und unter anderem mit dem Preis für den besten Schweizer Kurzfilm an den 13. Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur und dem Prix Taurus Studio à l’innovation am 10. Neuchâtel International Fantastic Film Festival ausgezeichnet.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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