NATHAN SCHOCHER

SENNENTUNTSCHI (MICHAEL STEINER)

SELECTION CINEMA

Ein Mädchen sammelt Pilze. Was idyllisch aussieht, verdüstert sich zur bösen Vorahnung, denn das Kind streckt erst seine Hand nach einem Fliegenpilz aus, kurz darauf zieht es ein halbes Skelett aus dem Gebüsch.

Die ersten Bilder von Sennentuntschi sind Programm: Regisseur Michael Steiner präsentiert darin nicht durchwegs düstere Horrorbilder, sondern fragt vielmehr nach den Leichen im Keller der Postkartenschweiz. Ziemlich genau hält er sich an die Sage vom Sennentuntschi, das in einem magischen Ritual von drei einsamen Alphirten im Absinthrausch er­schaf­fen wird und sich dann gewaltig an seinen Erschaffern für die an ihm begangenen Untaten rächt. Raffiniert ist allerdings die Erzählkon­struktion: Über weite Strecken des Films werden die Erschaffung des Sennentuntschis auf einer abgelegenen Alp und das Auftauchen einer rätselhaften Fremden in einem Bergdorf parallel erzählt, ohne dass verraten wird, wie die beiden Erzählstränge genau zusammenhängen. Die Rahmenhandlung mit dem mysteriösen Knochenfund verstärkt die Verwirrung zusätzlich. Die Nachforschungen, die der verliebte Dorfpolizist zur Herkunft der unbekannten Fremden anstellt, führen ihn zudem zu ähnlichen Fällen, die in Zeitungsausschnitten dokumentiert sind. Diese Verschachtelungen führen dazu, dass man wie bei einem Krimi als Zuschauer mit dem Polizist an der rationalen Aufklärung eines Falles arbeitet – und gleichzeitig das Sennentuntschi wie ein Gespenst durch Zeiten und Orte zu wandeln und sein Unwesen zu treiben scheint.

Wohltuend hält sich Steiner mit billigen Schockeffekten zurück, er legt Wert auf Genauigkeit und Atmosphäre. So verwendet er einige Zeit darauf, die beengten Verhältnisse im Bergdorf und auf der Alphütte sowie deren psychologische Auswirkungen begreiflich zu machen. Dies macht den Film zu Beginn etwas träge, da zusätzlich die Zeit- und Ortsprünge für Verwirrung sorgen. Dennoch schaut man Nicholas Ofczarek als überfordertem Polizisten gerne zu, wie er die stumme Schönheit vor den abergläubischen Dorfbewohnern beschüt­zen will. Auch bei den drei Alphirten überzeugt die Besetzung: Die knorrige Saftwurzel Andrea Zogg spielt den bauernschlauen Alpöhi mit Verve und Gusto, Joel Basman verleiht dem traumatisierten Geissenpeter Albert eine elastische Körperlichkeit und Carlos Leal schlägt sich trotz Schweizerdeutsch wacker.

Bloss im letzten Drittel, wo die Erzählung an Tempo gewinnt und auch schon mal ein Stall in Flammen aufgeht, beschleicht einen manchmal das Gefühl, es hätten Steiner eben doch noch ein paar Millionen gefehlt, um die Sage vom Sennentuntschi so mächtig und eindrücklich zu verfilmen, wie er es vielleicht gewollt hätte.

Nathan Schocher
*1978, Studium der Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaften; schreibt als freier Journalist für verschiedene Medien. Er lebt in Zürich.
(Stand: 2012)
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