NATHAN SCHOCHER

SOMMERVÖGEL (PAUL RINIKER)

SELECTION CINEMA

Eine verstörte junge Frau sitzt nackt in der Badewanne. Daneben auf dem Klodeckel die Mutter, die mit sanfter Stimme auf die Tochter einredet. Die Tür zum Badezimmer ist nur halb geschlossen, im Türspalt taucht der gerötete Kopf des Vaters auf, er ist offensichtlich sehr aufgebracht. Die Mutter fragt: «Wo hat der Mann dich berührt? Du weisst, dass du nichts tun musst, was du nicht willst, nicht wahr?» Die Tochter schüttelt nur den Kopf und sagt: «Ich will nicht baden!»

Diese Szene bringt das Kernthema von Sommervögel auf den Punkt: die sexuelle Selbst­bestimmung einer geistig behinderten Person. Wer den Film aber nun als reinen Problemfilm abtun wollte, verpasst die nicht ohne Sinn für Komik erzählte Geschichte der Annäherung der Aussenseiter Res und Greta. Am Anfang trennen die beiden Welten: Er ist gerade aus dem Knast entlassen worden, sie lebt mit 33 Jahren immer noch überbehütet bei den Eltern, wo sie sich eingeengt und unterfordert fühlt. Also streift sie immer wieder mal zum nahegelegenen Campingplatz, wo sie sich für Platzwartin Bea auch mal nützlich machen darf. Res hingegen kennt Bea noch von früher und sucht bei ihr Unterschlupf und Arbeit, weil er sonst schlicht nicht weiss, wohin. Greta fühlt sich rasch zum stämmigen Brummbär Res hingezogen, obwohl der sie mit seiner schroffen Art zuerst oft zurückweist und verletzt. Mit ihrer kindlichen Direktheit schafft sie es allmählich, sein abgebrühtes Rockerherz zu erobern. Und obwohl Res Bea anfangs versichert, er fange doch nicht etwas mit einer Behinderten an, bahnt sich unter den misstrauischen Blicken der übrigen Bewohner auf dem Campingplatz so etwas wie ein kleiner Skandal an.

Paul Riniker hat sich beim Schweizer Fernsehen als Dokumentarfilmspezialist für heikle Themen einen Namen gemacht. Entsprechend feinfühlig und differenziert geht er diese fiktionale Liebesgeschichte an. Dar­unter leidet streckenweise das Erzähltempo von Sommervögel. Der konsequente Verzicht auf aufgesetzte Dramatik schafft dafür viel Raum für kleine Gesten und Atmosphäre. Hoch anzurechnen ist Riniker das Bestreben, auch seine Nebenfiguren mit einem glaubwürdigen Innenleben auszustatten. Unterstützt wird er dabei von durchs Band tollen Darstel­lerleistungen, herausragend ist das von Roeland Wiesnekker und Sabine Timoteo gespielte ungleiche Liebespaar. Wiesnekker lässt die Scham und Angst vor Zurückweisung im groben Knasti-Klotz Res durchschimmern, Timoteo übersetzt die unverstellten Emo­tionen ihrer Greta in eine Körpersprache, für die sie einen zweiten Schweizer Filmpreis als Beste Darstellerin verdient hätte.

Nathan Schocher
*1978, Studium der Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaften; schreibt als freier Journalist für verschiedene Medien. Er lebt in Zürich.
(Stand: 2012)
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