Es ist schon ein wenig verquer: Der Schriftsteller Peter Bichsel sitzt auf seinem Hotelbett im Bahnhofgebäude des Pariser Gare de l’Est und schaut sich die Schlussetappe der Tour de France im Fernsehen an, die gerade in die französische Hauptstadt einfährt – während er gleichzeitig über die Liebe, die Ehe, über Politik und Macht und jenes «patriotische Würgen» spricht, das Schweizer im Ausland gerne überkommt.
Es ist eine Szene aus dem Dokumentarfilm Zimmer 202 von Regisseur Eric Bergkraut. Pünktlich zum 75. Geburtstag von Bichsel am 24. März 2010 war ein filmisches Porträt im Kino zu sehen, das einem vordergründig den Menschen Bichsel und weniger sein schriftstellerisches Werk nahe bringt. Quasi als dramaturgischen Rahmen hat sich Bergkraut vorgenommen, Bichsel dafür nach Paris fahren zu lassen, obwohl dieser seit seinem Buch Zur Stadt Paris von 1993 immer wieder erklärt hatte, dass er noch nie dort gewesen sei – und auch nie hinfahren werde. Dennoch ist es Bergkraut gelungen, seinen Protagonisten zu überzeugen – wohl auch, weil dieser scheinbar eine Carte Blanche erhalten hat. Lass uns einfach losziehen und schauen, was passiert, war das Motto. Es gibt kein Drehbuch, keine Zwänge und nur ein paar Erwartungen. Bichsel geht also auf eine Reise und das Publikum darf mit. Es kann im Zugabteil und im Hotelzimmer Nummer 202 und im kleinen Pariser Bistro ganz nahe bei ihm sitzen und seinen Gedanken, Geschichten und Bonmots lauschen, die er mit derselben stilistischen Präzision, mit jenem hintergründigen Humor und der scharfen Beobachtungsgabe formuliert, mit denen auch seine Kolumnen und Kurzgeschichten geschrieben sind. Doch man sollte sich von der scheinbaren Mühelosigkeit, mit der Bichsel beinahe druckreif über sein Leben, seine Arbeit und die Welt im Allgemeinen spricht, nicht täuschen lassen, stellt der Germanistikprofessor Peter von Matt klar. «Was Bichsel tut, sieht nur leicht und locker aus, ist aber ein Kampf um jedes Wort», sagt von Matt. Diese «beinharte Arbeit, die dahinter steht, extra einfach wirken zu lassen, das ist Raffinesse». Und entsprechend raffiniert und unterhaltsam ist auch Zimmer 202: Neben der Reise nach Paris werden vermeintlich willkürlich Szenen eingestreut, die Bichsel beim Kochen in seinem Haus in Bellach und am Stammtisch zeigen, Bichsel zusammen mit seinem Kollegen Peter Weber unterwegs beim Schwingerfest, sowie Archivaufnahmen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Stets mit dem Ziel, Bichsel als ein intellektuelles Schweizer Urgestein zu zelebrieren, das zwischen «populärer Kumpelhaftigkeit und radikaler Kunst» wahrgenommen wird – und im immer gleichen Gilet und mit einer Zigarette in der Hand der Gesellschaft, also uns als Zuschauer, einen liebevoll-kritischen Spiegel vorhält.