BETTINA SPOERRI

EINE ETWAS ANDERE LANDESVERMESSUNG — FILMGESCHICHTE IM SPIEGEL DES AUTOMOBILS

CH-FENSTER

Das Auto und das Kino sind in ihrer Entstehung und ihrer frühen Geschichte eng verbunden: zuerst einmal auf der technischen Ebene, sodann aber auch in Bezug auf verschiedene ästhetische Aspekte. Sowohl das Automobil wie der Film verkörpern Bewegung, diese wesentliche Eigenschaft des modernen Lebens: Bewegung ist ihre Essenz, mit anderen Worten, sie macht sie erst zu dem, was sie sein sollen. Maurice Girard spricht ihnen in seiner Filmgeschichte L’automobile fait son cinéma deshalb gar eine «schöne Komplizenschaft»1 zu: «Beinahe Zwillinge» seien sie durch das Datum ihrer Erfindung – wenn auch das Kino nicht immer sanft mit dem Auto umspringe. Diese Nachbarschaft ist am Anfang in einer fast zeitgleichen Geburt begründet, und die Schweiz war dabei von Autopionieren umgeben, wenn sie auch selbst nicht in den vorderen Reihen mitfuhr: In den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts bauten in Deutschland Carl Benz und Gottlieb Däumler (alias Daimler) den ersten dreirädrigen Kraftwagen der Welt, und schon wenige Jahre später entstanden in Frankreich, bald auch in anderen europäischen Ländern und in den USA die ersten Automobilfabriken. Dies sind auch die Jahre, in denen das Kino «erfunden» wurde: 1892 liessen die Gebrüder Lumière das erste «Cinématographen»-Modell patentieren, und Thomas A. Edison präsentierte an der Weltausstellung in Chicago den Schaukasten «Kinetoskop». Auch in der Schweiz konnte man bald einmal diese Neukreationen bewundern, das Land war aber nicht als federführende Kraft wirksam. Neben der genannten historischen Koinzidenz waren Auto und Film insofern zusätzlich miteinander verbunden, als das Kino vor und um 1900 herum ausserhalb der Städte auf Rädern zu den Leuten kam. Die Kraftwagenmotoren steuerten Lärm, Rauch – und, wenn auch weniger erwünscht: Gerüche – zu den Vorführungen bei. In dieser frühen Zeit stellte die gefilmte Geschwindigkeit eine der Hauptfaszinationen des Publikums dar. Fahrten, aus mehr oder weniger unkontrolliert gelenkten Kraftwagen aufgenommen, waren äusserst beliebt.2 Und noch bis in die 1930er-Jahre hinein konnte das Leben vor allem in zeitgenössischen Komödien als triebhaft-lustvolle «Botschautobahn», ohne ernsthaftere Folgen für die Figuren, die Verkehrsregeln überschritten, vorgeführt werden.3

Kleinräumiges Land Schweiz

Die in der Folge rasanten und immer stärker ausdifferenzierten Entwicklungen des Autos und des Kinos im Laufe des 20. Jahrhunderts sollen hier als Grundlage für eine – kleine – Schweizer Filmgeschichte im Spiegel des Automobils dienen. Eine solche fokussierte Betrachtung ist nicht zuletzt eine Fortschreibung dessen, was 1974 mit der CINEMA-Nummer «Autokino – Kinoauto» thematisch aufgegriffen wurde, damals mit Blick auf das Schweizer, aber vor allem das internationale Kino. Die Filmgeschichte hier, die sich ganz auf Schweizer Spielfilme konzentriert, setzt diese Diskussion fort, indem sie zwar in den 1950er-Jahren ansetzt, aber bis in die jüngste Gegenwart reicht. Die Schweiz ist als Filmland eigentlich zu kleinräumig angelegt, um sich ein richtiges «Auto-Kino» leisten zu können. Damit sind erstens die geografischen Gegebenheiten angesprochen: In wenigen Stunden hat man mit einem Auto die Schweiz durchquert und wird unweigerlich an irgendeiner Grenze ausgebremst. Zweitens fehlt der nationalen Filmindustrie auch das Volumen von entsprechend grossen Produktionsbudgets für kostspielige, aufwändig gefilmte Auto-Materialschlachten. Wenn im Folgenden das Auto im Schweizer Film ins Visier genommen wird, ist das aus diesen Gründen auch ein Entscheid für das Paradox – bzw. für die Aufmerksamkeit auf den Umgang mit diesen Einschränkungen, also die Lösungen dieser, nennen wir sie: «Problemstellung» im Schweizer Filmschaffen. Die Art und Weise, wie das Automobil im Schweizer Film eingesetzt wird, manifestiert sich umso deutlicher, wenn man sie vor dem Hintergrund des historischen Kontextes betrachtet.

Das internationale Autokino

Das Autoland per se sind bis heute vornehmlich die USA, wo die fahrenden Untersätze im Kino bereits im Stummfilm, aber in der Folge im Tonfilm noch viel ausgiebiger zelebriert werden. Die weiten, wilden amerikanischen Landschaften4, die unendlichen Distanzen, die von den modernen, motorisierten «Cowboys» zurückzulegen sind, sodann die breiten oder auch labyrinthisch-verwinkelten Strassenschluchten der Städte, bieten Schauplätze, in denen die Geschwindigkeit und Wendigkeit von Autos oder die Widerstandsfähigkeit ihrer Karosserien inszeniert und erprobt werden können. Früh mischten auch England und Frankreich in der kinematografischen Frenesie für Personenkraftwagen mit. Das Auto faszinierte zuerst einmal durch die repräsentative Bedeutung, die es erlangte, indem es eine physische Erweiterung seines Besitzers im öffentlichen Raum ermöglichte. Vor allem aber war es das wachsende Tempo, das im Kino seine entsprechenden Aufnahmetechniken fand: Immer rasantere Kamerafahrten wurden inszeniert, spezielle Kameravorrichtungen, die neben oder über dem gefilmten Auto montiert waren, erlaubten besonders spektakuläre Blickwinkel, und Autojagden wurden mit immer schnelleren Schnitten komponiert (eine Entwicklung, die in The Bourne Ultimatum [Paul Greengrass, USA / D 2007] beinahe ad absurdum geführt wird). Der Blick wurde durch das Auto im Kino im wörtlichen Sinn mobilisiert.

Doch die Freiheit und Mobilität, die das Automobil dem Individuum bietet, gerät in den späten 1960er-Jahren in ein negatives Spannungsfeld, ausgelöst durch die Einengung der Menschen im zunehmenden Massenverkehr. Besonders krasse Bilder hierfür hat Jean-Luc Godard in seinem Film Week-End (F / I 1967) komponiert: Er lässt darin den Wochenendausflug eines jungen Pariser Paares zu einer Art apokalyptischen Irrfahrt gedeihen, in deren Verlauf die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft und schliesslich gar alle zivilisatorischen Errungenschaften sukzessive zerstört werden. Im Zentrum stehen dabei die Aggressionen, die der Autoverkehr in den Menschen auslöst. Dessen Irrwitz demonstriert Godard in einer fast zehnminütigen Kamerafahrt entlang einer Autokolonne auf einer Landstrasse – eine Art epische Plansequenz, begleitet vom ohrenbetäubenden Hupen und Schreien der Leute –, wo sich wegen eines Unfalls ein Stau gebildet hat. Die Möglichkeiten der Raserei im doppelten Sinn oder der ziellosen, von jeglichen Fahrplänen unabhängigen Herumfahrerei einerseits und des frustrierenden Wartens im Stau andererseits: Die Bandbreite dieses Panoramas klingt auch im Schweizer Film an, wird aber nur selten bis in die Extreme aufgefächert.

Autofahren als unschuldige Tätigkeit

Das Auto tritt im Schweizer Kino erstmals prominent, als wesentlicher, zen­traler Handlungsträger, im zweiten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Das ist auch die Zeit der Fortschrittsbegeisterung und des damit verknüpften Autokinos im internationalen Zusammenhang, das gleichsam wie ein Echo in dem kleinen, von den vernichtenden Kriegsmaschinen, den Bombern und Panzern verschonten Binnenland Schweiz widerhallt. Martin Buckley und Andrew Roberts, zwei geradezu manische «car spotter» in Filmen, führen in ihrer Sammlung eindrücklich vor, wie Thunderbirds, Mercurys, Plymouths, Porsches und viele andere schnittige oder vornehme Automodelle mehr – etwa auch Fiats (in The Italian Job, 1969) – vornehmlich im US-Kino in unzimperliche Verfolgungsjagden verwickelt sind, wie sie zu den unverzichtbaren Vehikeln des Genres Roadmovie werden oder als Rückzugsort für einen intensiven Flirt bzw. eine erste sexuelle Begegnung dienen.

Wesentlicher gesitteter und harmloser geht es im Schwarz-Weiss-Spielfilm Taxichauffeur Bänz (Werner Düggelin, Hermann Haller, CH 1957) zu, wenn der Witwer Bänz (Schaggi Streuli) und seine Tochter Irma (Elisabeth Müller) ihren Untermieter Toni (Maximilian Schell), der durch Alkohol, Schulden und Glücksspiel auf Abwege geraten ist, mit brummeliger bzw. verliebter Grossherzigkeit auf den rechten Weg zurückführen. Das Auto – in Form einzelner Exemplare der gepflegten, repräsentativen Plymouth-Flotte des Unternehmens mit dem verniedlichenden Namen «Klein-Taxi» – fungiert in Taxichauffeur Bänz als dramaturgisches Element, indem es die Beziehungen der Figuren untereinander steuert, sie voneinander trennt, in einer bestimmten Distanz zueinander hält oder zusammenführt. Schon die Eingangsszene markiert dies deutlich, wenn Witwer Bänz mit seinem Taxi vor dem Fussballstadion steht, wo seine Kollegen den Match, in dem Toni mitspielt, am Radio verfolgen und auf Kunden warten. Doch Bänz’ Auto ist an diesem Sonntag kein mietbares Servicegefährt, denn er ist nur hier, um seine Tochter Irma, die wiederum wegen Toni dem Spiel zusieht, sicher nach Hause zu bringen. Später wird eines der «Klein-Taxis» zum Retter in der Not, wenn Bänz dem entlassenen, abgebrannten Zimmerherrn durch Fürsprache bei seinem Chef eine Stelle als Taxichauffeur verschafft. Doch bevor Toni auch zum würdigen Schwiegersohn-Anwärter wird, sind es immer wieder die Autos, die retardierende Handlungselemente generieren: etwa wenn Toni für einen undurchsichtigen Mann dessen altes Auto verkaufen soll und das Verkaufsgeld zweckentfremdet, oder wenn Bänz, der stolz darauf ist, 25 Jahre unfallfrei sein Taxi gelenkt zu haben, eine Fahrradfahrerin anfährt. Oder wenn der verzweifelte Toni, nachdem ihm seine Chauffeur-Stelle gekündigt wurde, sein Taxi nach Deutschland entführt, um in einem Kasino gleich auf der anderen Seite der Grenze das Geld zu gewinnen, mit dem er seine Schulden begleichen könnte.

Gefahren wird in diesem Film meist ruhig. Selbst als einmal ein Bijouterie-Räuber in Bänz’ Taxi steigt und für einen kurzen Moment Krimistimmung beschwört wird, lässt sich der Mann am Steuer nichts anmerken und ladet den Verbrecher einfach vor dem Polizeiposten ab, wo er verhaftet wird. Die Kamera inszeniert das Autofahren als ungefährliche, ja unschuldige Tätigkeit, als bedächtige Bewegung im Raum. Die Aufnahmen von stehenden Autos dominieren: Während etwa die Taxifahrer auf Kunden warten und von Autofenster zu Autofenster Gespräche führen. Wenn sich ein Auto im Bild in Bewegung befindet, ist es mehrheitlich in Totalen inszeniert: Diese dämmen die potenzielle Bedrohlichkeit des Gefährts ein, indem es kleiner und weiter entfernt in Erscheinung tritt, und bewirken so visuell eine Entschleunigung. Eine Ausnahme ist die bereits erwähnte Unfallfahrt des alten Bänz, die gegen den Höhepunkt hin in einen P.O.V.-Shot springt und auf diese Weise besonders deutlich betont, wie dieses Ereignis zwar kaum hätte verhindert werden können, aber das Selbstbewusstsein der Titelfigur in sich zusammenfallen lässt.

Graue Zonen, Entfremdung der Menschen

Während in Taxichauffeur Bänz das Autofahren im Kontext der besonderen Rechtschaffenheit und Anständigkeit der Familie Bänz steht – interessanterweise ist der Name eine schweizerdeutsche Variante jenes bereits erwähnten, bekannten deutschen Autoherstellers – und die Häuslichkeit die herrschende marktwirtschaftliche Zirkulation von Waren und Menschen noch kaschiert, wird es in Messidor (Alain Tanner, F/CH 1978), in Grauzone (Fredi M. Murer, CH 1979) und Reisender Krieger (Christian Schocher, CH 1981/2009) zum wesentlichen Faktor und gar zum Symbol einer unheilvollen Entwicklung. In Grauzone und Reisender Krieger verdichtet sich die Anonymisierung des öffentlichen Raums und die überbaute, für schnelle Strassen zugeteerte Landschaft im Ikon «Auto» zur Technik- und Gesellschaftskritik. In beiden Filmen sind die buchstäblich ergrauten, leblosen Zonen in trostlosen Szenerien wie gesichtslosen Hochhäusern, riesigen Parkplatzflächen und grauen Strassenschneisen, über die ein unbarmherziger, nicht aufzuhaltender Verkehr donnert, in Szene gesetzt. Für die Entfremdung der Menschen untereinander – im Gegensatz zu den entökonomisierten Beziehungen in Taxichauffeur Bänz – steht die Arbeit des Handelsreisenden in Reisender Krieger. Er ist ein Parfümverkäufer, der mit dem neuesten Produkt der Firma «Blue Eye» zahlreiche Coiffeurläden abklappern muss, aber mit dem «Blue Dream» – «So riecht’s diesen Winter in der Schweiz ...», leiert er mechanisch herunter – keine potenzielle Kundin zu überzeugen vermag. In Grauzone wiederum ist es eine seltsame Epidemie, die wie ein unsichtbares Gift die Schweiz heimsucht und sich bis in die privaten Räume und zwischenmenschlichen Beziehungen schleicht.

Die Luftverschmutzung und vor allem der Lärm als Folgen des Autoverkehrs sind auch in Alain Tanners Messidor kritisch dargestellt. Auffällig oft stellt der Regisseur die beiden Hauptfiguren vor dem Hintergrund einer Verkehrsachse auf, die auf der visuellen Ebene die Konzentration auf die beiden Frauen stört und als erhebliche Geräuschquelle ihre Gespräche geradezu durchlöchert. Messidor, in dessen Zentrum zwei autostoppende Frauen stehen, ist eine Art Schweizer Roadmovie, dessen Ausgreifen in die Landschaft aber sehr schnell an den engen Grenzen scheitert, und zwar sowohl den Landesgrenzen als vor allem auch an der geistigen Enge der Schweiz. Die Autos, in die die beiden Frauen steigen – sie nennen sie abwertend und kumpelhaft zugleich «bagnoles» –, um sich planlos immer wieder woanders hinfahren zu lassen, verkehren sich bald vom Zeichen der Freiheit zu einem mehrdeutigen, immer mehr auch bedrohlichen Vehikel. Zwei Männer fahren mit den jungen Frauen in den Wald hinein, was damit endet, dass die eine den Vergewaltiger ihrer Reisegefährtin erschlägt. Die beiden Frauen werden fortan von der Polizei gesucht: Das ist der Hauptgrund, weshalb sie in der Folge nicht riskieren, an einem Grenzposten identifiziert und verhaftet zu werden. Der eine Autofahrer – es sind übrigens immer nur Männer, die in diesem Film an den Steuerrädern sitzen – hält den beiden Frauen einen belehrenden Vortrag über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft, ein anderer fragt sie aufdringlich aus. Der Innenraum der Autos ist entsprechend in Szene gesetzt: Oftmals sind die Fahrten aus der Sichtperspektive der jüngeren Frau gefilmt, die im Fond sitzt. Über die Schultern des Mannes und der anderen Frau, die vorne rechts sitzt, hat sie nur einen verengten Ausblick nach vorne hinaus, das «Gesichtsfeld» der Kamera (und damit die des Publikums) ist entsprechend eingeschränkt. Das Innere der Autos ist zudem meist düster gehalten, man kann die Gesichter der Figuren bisweilen nur erkennen, wenn gerade ein Lichtstreifen auf sie trifft oder über sie hinwegwandert.

Zeit und leerer Raum

Je länger Messidor dauert, desto länger verweilt die Kamera mit Blick auf die Strasse – eine Nachtfahrt wird gar als minutenlange Einstellung ohne Schnitt aus dem Frontfenster hinaus inszeniert –; die Reise erscheint so immer mehr als eine ziellose und letztlich vergebliche Bewegung in einen Raum hinein, in dem es vielleicht auch überhaupt nichts mehr zu erwarten gibt. Tatsächlich stellen denn auch die Frauen fest, dass «alles dasselbe» ist, dass Orte und Menschen – eine Schweiz, die ihnen feindlich begegnet – am Ende alle gleich aussehen. Eine Wanderung in die Berge scheint für einen kurzen Moment Erleichterung zu bringen, und für einmal verstummt auch die permanente Automotoren-Geräuschkulisse; doch dann seufzt eine der Frauen: «So viel Natur, da wird mir schwindlig.» Als sie polizeilich im ganzen Land gesucht und wie ihre späten Schwestern Thelma and Louise (Ridley Scott, USA 1991) immer mehr in die Enge getrieben werden, beginnen sie ein «Spiel» namens «Zeit und leerer Raum». Damit ist auch die Fläche des Films, der Bildschirm oder die Leinwand, letztlich im ganz wörtlichen Sinne gemeint, wenn schliesslich die Autos auf der Bildebene immer mehr zu «schwarzen Löchern» werden, in die die beiden Frauen steigen und damit aus dem Bild verschwinden – um kurz darauf in einer anderen Komposition wieder irgendwo im Bild aufzutauchen.

Während bei Alain Tanner durch die flexible Bewegung in letztlich austauschbaren Autos Raum und Zeit zunehmend bedeutungslos werden und sich gar in eine nihilistische Bewegung hinein winden, die den Menschen gewaltsam vernichtet, blüht in Clemens Klopfensteins Ruf der Sibylla (CH 1984) die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur auf. Das beginnt mit der Belebung des stolzen, weissen Mercedes – ähnlich dem kindlichen, stets gutmütigen VW-Käfer Herbie in der beliebten Kultserie5 – zu einem Wesen mit launischem Charakter, das schliesslich am Ende bewirkt, dass das zerstrittene Liebespaar (gespielt von Max Rüdlinger und Christine Lauterbach) für ewig geeint ist. Der Projektion menschlicher Gefühle in die Maschine Auto entspricht im mythenumwobenen Raum, den Klopfensteins Film eröffnet, die Verwandlung der beiden Protagonisten in ein Baumpaar. Der Ruf der Sibylla ist ein verspieltes Märchen voller Zaubereien und Schabernack, das sich demonstrativ wenig um Realitäten schert und eben daraus eine anarchische Kraft bezieht.

Dass eines Tages die Schweiz mit einem dichten Netz von Strassen durchzogen sein wird, die dem Privatverkehr eine fast grenzenlose Mobilität erlaubt, mit den entsprechenden negativen Auswirkungen, kann sich indes nicht einmal der fantasiereiche Kleinbauer und Arbeiter (Bruno Ganz) in Kurt Gloors Spielfilm Der Erfinder (CH 1980), der zu Beginn des Ersten Weltkriegs spielt, vorstellen. So sagt er einmal zu seinem Freund:

«Oder meinst du, man könnte jetzt in der ganzen Schweiz Strassen bauen, nur für die Töffs und die Autos? Stell’ dir mal vor. Dann würden ja die Strassen mehr kosten als alle Töffs und Autos zusammen. Nein, nein. Auf dem Land braucht es ein Fahrzeug, das seine eigene Strasse bei sich hat, das ist billiger.»

Nach langem Tüfteln erfindet er ein ebensolches Fahrzeug – nur um am Ende beim Besuch einer Nachrichten-Wochenschau festzustellen, dass ein vergleichbares Gefährt bereits konstruiert worden ist und zu militärischen Zwecken im Krieg verwendet wird. Diese herbe Enttäuschung lässt den Pazifisten und mittlerweile vollkommen Verarmten seinen Verstand verlieren.

Die Opfer der Autos: die Aussenseiter

In einer ganz anderen, aber nicht weniger unbarmherzigen Zeit lebt der Protagonist von Bettina Oberlis Film Im Nordwind (CH 2004). Als der langjährige Angestellte Erwin Graf (André Jung) von einem Tag auf den anderen seinen Job verliert, bezieht er, um seine Arbeitslosigkeit vor seiner Familie zu verstecken, ein Hotelzimmer. Hier wohnt er tagsüber, tätigt Bewerbungstelefonate und – wartet. Die Anonymität des Gebäudes, an einer breiten Ausfallstrasse der Stadt gelegen, betont die Einsamkeit des zunehmend verunsicherten Mannes. Er fällt durch die Maschen der Gesellschaft, während draussen auf den Strassenspuren ein hektischer Betrieb herrscht, der sich alle Hindernisse aus dem Weg räumt. Sozusagen wie ein Attribut der Hauptfigur – um ihre Einsamkeit und ihr Aussenseitertum zu betonen – erscheint die verkehrsreiche (Durchgangs-)Strasse auch etwa in Micha Lewinskys Der Freund (CH 2007). Und in Stefan Haupts Utopia Blues (CH 2000) wird sie als solche inszeniert, wenn der 18-jährige Protagonist in einem manischen Anfall mitten auf der stark befahrenen Zürcher Hardbrücke den Verkehr aufzuhalten versucht und daraufhin in eine psychiatrische Klinik gebracht wird. In Home (F/CH 2008) von Ursula Meier wiederum verwandelt sich der Strassenraum, der am Anfang noch Platz für ein ausgelassenes Landhockeyspiel und ein anarchisch-fröhliches Familienleben bot, mit der Sanierung der Autobahnstrecke in eine lebensgefährliche Zone, wo die Kinder überfahren zu werden drohen. Langsam mutiert die Suche der Familie nach Schutz vor dem Lärm und der Lebensbedrohung durch die Strasse zu einem grotesken Alptraum, indem sie sich unter Anleitung des Vaters in ihrem Haus einzubunkern beginnen. Liest man das Haus als Bild für die Schweiz, kann dieses Sich-Einschliessen auch als Allegorie auf den Rückzug ins Réduit gelesen werden. Auf jeden Fall aber ist hier das Reich, aus dem die Autos stammen, einmal mehr ein Reich des «courant normal» im wörtlichen Sinn: Die Gesellschaft verlangt ihre Opfer, das Individuum muss funktionieren können, Hindernisse werden gnadenlos beseitigt; und die Auto stehen hauptsächlich für eine solche lebensfeindliche, zerstörerische Welt.

Diese Filmauswahl zeigt, dass Autos im Schweizer Kino viel zurückhaltender und ernsthafter eingesetzt werden als etwa in amerikanischen oder auch französischen Filmen. Die Lustmomente der Mobilität sind überschattet vom Zwang zur Bewegung, zur Flexibilität – im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Oder die Mobilität mündet in ihre absurde Umkehrung, in ihren Kollaps, in einen Unfall oder mehr noch in einen endlosen Stau. Statt Protzertum oder Stolz tragen die Protagonisten in Schweizer Filmen als Autobesitzer Bescheidenheit zur Schau. Das Auto steht nicht für die unbeschränkten Möglichkeiten, die Aufsprengung der Grenzen oder andere Bewegungen einer Form von Deterritorialisierung, sondern vielmehr über die Jahrzehnte für eine gewalttätige Beschränkung, eine vergebliche, selbstzerstörerische Revolte, eine meistens daraus resultierende resignative Haltung und den Rückzug in einen geschützten, privaten Raum – falls ein solcher noch vorhanden ist. Und wenn das Auto im Kino nicht vermenschlicht – oder der Mensch in Natur zurückgeführt – werden kann, ist es ein erbarmungsloser Feind des Menschen, der ihm den Lebensraum immer mehr verknappt und ihn überrollt, wo er ihm im Weg steht. Ganz so, als wäre es nicht vom Willen des Menschen abhängig, sondern vielmehr dieses von ihm.

Die Vermutung liegt nahe, dass diese dramaturgischen Funktionen des Autos und die Bedeutungen, die ihm im Schweizer Kino zugewiesen werden, mit der fehlenden geografischen Grosszügigkeit des Landes zusammenhängen. Diese wird in den Filmen auch immer wieder in enge Verbindung mit der Kleinmütigkeit seiner Bewohner gebracht. Und dann fällt einem Les petites fugues (Yves Yersin, CH 1979) ein, wo sich Knecht Pipe ein Mofa kauft, um mit ihm nicht nur der bleiernen Stimmung des Bauernhofs seiner Arbeitgeber zu entfliehen, sondern auch eine Art erotische Beziehung zu dem Gefährt entwickelt und Entdeckungsfahrten und gar kleine Flüge unternimmt. Freiheit auf Rädern gibt es doch im Schweizer Film; allerdings in redimensionierter Form, in einer ironischen Replik auf die Autos in Gestalt eines vergleichsweise fast feingliedrigen Mofas. Am Ende sind die verhärteten Fronten im Bauernhof zwischen den Generationen aufgebrochen – doch Pipes Mofa hat nicht das Glück, diese Veränderungen zu überleben ...

Vgl. das Vorwort in: Maurice Girard, L’automobile fait son cinéma. Du May, Boulogne 2006.

Vgl. Girard, S. 19. Besonders beliebt waren wilde Fahrten, so etwa ein in übersetztem Tempo un­ternommener Ausflug über den Piccadilly Circus in London, wo der Fahrer zahlreichen Hin­dernissen (andere Verkehrsteilnehmer ...) ausweichen musste.

So etwa in einem Kapitel des Gemeinschaftsregiewerkes If I Had a Million von 1932 (Ernst Lubitsch und auch Joseph L. Mankiewicz arbeiteten an dem Film mit), wo sich in der von Norman Zenos McLeod inszenierten Episode eine ehemalige Vaudeville-Schauspielerin – unverhofft in den Besitz einer Million Dollars gekommen – mit ihrem Partner das ganz spezielle Ver­gnügen leistet, einen gekauften Secondhand-Wagen nach dem anderen – und einige der Au­tos mehr oder minder rücksichtsloser Verkehrsteilnehmer – zu Schrott zu fahren. Am Ende ruft sie glücklich aus: «A glorious day!»

Hier sei auch auf Verena Bergers Text zum Roadmovie im iberoamerikanischen Kino in diesem Band verwiesen.

Die amerikanische Serie begann 1968 mit dem Film The Love Bug (vgl. Buckley/Roberts, S. 120). Herbie ist der harmlose Bruder der Titelheldin in Christine (John Carpenter, nach dem gleichnamigen Roman von Stephen King; USA 1983), in dem das Auto – übrigens ein 1958er Plymouth Fury – heftige Emotionen entwickelt.

Literatur

Peter M. Bode, Sylvia Hamberger, Wolfgang Zängl, Alptraum Auto: Eine hundertjährige Erfindung und ihre Folgen, Raben Verlag von Wittern KG 1986.

Hermann Knoflacher, Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung. Ueberreuter Verlag, Wien 2009.

Martin Buckley, Andrew Roberts, Cars in Films. Great Moments from post-war international Cinema, Haynes Publishing, California 2002.

CINEMA-Jahrbuch: Autokino/Kinoauto. Nummer 3/1974.

Maurice Girard, L’automobile fait son cinéma. Du May, Boulogne 2006.

Siegfried Reinecke, Autosymbolik in Journalismus, Literatur und Film. Struktural-funktionale Analysen vom Beginn der Motorisierung bis zur Gegenwart. Bochum 1992 (=Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 70).

Jean-François Rivière, Voitures de Rêve & Séries cultes. Editions Yris, Marseille 2003.

Wolfgang Sachs, Die Liebe zum Automobil: Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche. Rowohlt, Reinbek 1984.

Daniela Zenone, Das Automobil im italienischen Futurismus und Faschismus: Seine ästhetische und politische Bedeutung. Berlin 2002, WZB, Forschungsschwerpunkt Technik, Arbeit, Umwelt.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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